Wohlfeile Zerrbilder

Zygmunt Bauman beklagt die neuen Zeiten mit untauglichen Argumenten

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der englisch-polnische Soziologe Zygmunt Bauman ist vor allem mit seinen beiden Schriften „Dialektik der Ordnung“ und „Moderne und Ambivalenz“ bekannt geworden, beide um 1990 erschienen. Bauman erregte mit der Überlegung Aufsehen, dass die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas durch die Nationalsozialisten nicht nur ideologisch ein Produkt des 20. Jahrhunderts war, sondern auch die moderne Infrastruktur und an diese Bedingungen angepasste Verhaltensschemata voraussetzte. Ohne moderne Verkehrstechnik keine Deportationen, ohne Naturwissenschaften kein Giftgas, ohne die Verpflichtung etwa auf Pünktlichkeit und Genauigkeit keine Großorganisation, die in der Lage wäre, sechs Millionen Menschen binnen weniger Jahre zu töten.

Obwohl Bauman damit sein Thema gefunden zu haben schien, zeigte er sich in den letzten Jahren als kommentierender Begleiter einer Soziologie, die sich der Zweiten Modernisierung Ende des 20. Jahrhunderts zuwandte, ausgehend von Ulrich Becks 1986 publizierter Studie „Risikogesellschaft“. Titel wie die nun erschienenen Abhandlungen „Leben als Konsum“ und „Wir Lebenskünstler“ sind die jüngsten Publikationen in einer seit 1990 nicht abbrechenden Reihe von Studien, in denen Baum die jüngeren Modernisierungsphänomene kritisch sichtet und kommentiert.

Beide Studien gehören zum selben Denkzusammenhang und sie stellen dieselben Sachverhalte nur unter verschiedenen Perspektiven dar, nämlich die Umgestaltung der Gesellschaft zu einer konsumistischen Kultur, in der alles, auch das Individuum selbst, zur Ware geworden ist. Der Konsum selbst wird zum gesellschaftlichen Zweck des Individuums. Er tritt an die Stelle der Produktion, die zuvor das Zugehörigkeitsmerkmal von Individuen gewesen sei. Konsumismus bezeichne dabei im Unterschied zum individuellen Konsum als Verbrauch lebensnotwendiger Güter eine Haltung in der Gesellschaft, er sei ein Attribut der Gesellschaft, mit dem über die Zugehörigkeit oder Ausgrenzung entschieden wäre. Nur wer konsumiere, habe für die Gesellschaft einen Wert. Wer sich dem Konsum entziehe, und zwar auch, indem er mit seinem persönlichen Lebensprojekt scheitere, werde marginalisiert und ausgegrenzt. Gesellschaft wird also nicht über den Lebenszusammenhang gebildet, sei es die Nation, soziale Gruppen oder lokale Konnexe, sondern über ökonomisierte Beziehungen, über den Kauf und den Verbrauch von Waren.

Ökonomisierte Beziehungen zwischen Individuen bestimmen das gesamte Sozialleben und greifen bis auf die lebensweltlichen Strukturen durch, wie Bauman betont. „Leben als Konsum“ konzentriert sich dabei auf eine Darstellung der gesellschaftlichen Veränderungen (teils diagnostisch, teils andere Studien und Diskussionsbeiträge referierend), während „Wir Lebenskünstler“ sich den Konsequenzen einer sich solcherart verändernden Gesellschaft für die Subjekte und deren Selbstgestaltung widmet.

Grundsätzlich geht Bauman mit den Beschreibungen Becks und anderer konform, was die spezifischen gesellschaftlichen Veränderungen im 20. und eben auch 21. Jahrhundert angeht: Die Dynamik der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse hat beständig zugenommen, vorgeblich stabile Institutionen sind dabei zerschlagen worden, die Bindung der Individuen an soziale Kontexte wurde aufgelöst, der individuellen Gestaltungsfreiheit, die als einer der wichtigsten Punkte auf der Haben-Seite der Modernisierung gelten kann, steht jedoch der Zwang gegenüber, dass die Individuen sich entscheiden, mehr noch, dass sie ihr soziales wie individuelles Profil entwickeln müssen, um sich in der Gesellschaft der Moderne nicht nur durchzusetzen, sondern überhaupt existieren zu können.

Modernisierung ist also, wie nicht zuletzt Jürgen Habermas formuliert hat, ein widersprüchlicher und riskanter Prozess, dessen Resultat keineswegs von vorneherein feststeht und in dem Extreme wie Nationalsozialismus und Stalinismus keineswegs unwahrscheinliche Optionen sind und in dem die sogenannten offenen Gesellschaften keineswegs immer nur positive Entwicklungen, Effekte und Resultate vorzuweisen haben. In der Tat: Phänomene, wie sie eben auch Bauman in der Massenkultur, der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung und in der Sozialstruktur findet, sind keineswegs als positive Effekte anzusehen: Die Individualisierung und Ökonomisierung des politischen und öffentlichen Lebens, die Segmentierung der Lebenswelten oder auch die (wahlweise) Verwahrlosung oder Ausgrenzung von ganzen Stadtvierteln oder gesellschaftlichen Gruppen lassen sich mit gutem Recht als negative Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderung beschreiben. Aber auch die Dynamik saisonaler oder modischer Austauschprozesse, in denen Ersatzprodukte über die Werbewirtschaft in die Märkte gedrückt werden, wird von Bauman als paradigmatisch angesehen.

Allerdings sind solche Diagnosen selbst wieder normativ geprägt: Der Zerfall familiärer Strukturen und Lebensformen, die ansteigenden Scheidungsraten und die Segmentierung von Lebenswelten, die Bauman anklagt, sind anders gesehen eben nicht zuletzt Ausdruck der Wahl- und Gestaltungsfreiheit der Individuen, auch in ihrem sozialen Umfeld. Was im Kontext der Übergangsgesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts noch als Zwangsgemeinschaft funktioniert, wird im Laufe der Modernisierung aufgelöst, und das mit gutem Grund, denn lebenslange Zwangsehen, die aus Familieninteressen heraus geschlossen werden, lassen sich in der Moderne wohl kaum noch legitimieren und haben auch keine Funktion mehr.

Bauman aber beklagt, wenngleich verdeckt, den Zerfall von Familienstrukturen, er moniert die Entwicklungen der Massengesellschaft, er zieht für seine Beschreibungen genau jene Fehlentwicklungen der offenen Gesellschaften heran, jene Ausgrenzungsmechanismen, jenes Segmentierungs- und Auflösungserscheinungen, jene Selbstbereicherungsstrategien, die die öffentliche Debatte seit Jahren bestimmen – zwischen sozialen Begriffsbildungen wie „underclass“ und Phänomenen wie der wachsenden Scheidungsrate findet sich beinahe kein Defizit, das Bauman nicht als Signum des Verfalls von Gesellschaft respektive ihrer Umkonnotierung zum Konsumismus heranzieht.

Im Mittelpunkt beider Abhandlungen stehen entsprechend die Veränderungen in der intimsten intersubjektiven Beziehung, der Liebe. Liebe werde, so Bauman, zum Gegenstand kalkulierender Interessenabwägung, die Brüchigkeit von Beziehungen gehe darauf zurück, dass die Notwendigkeit fehle, Beziehungen in der Krise aufrecht zu erhalten. Die subjektive Selbsterfüllung, die individuelle Glückverheißung stehe im Vordergrund. Wer dem im Wege stehe, werde eben wieder abserviert und durch eine/n andere/n Kandidaten/in ersetzt. Da zudem der von Bauman als Bedingung kultureller Produktivität verstandene Triebverzicht und Triebaufschub suspendiert worden sei, gebe es keinen Grund, sich auch in diesem Bereich auf einen späteren Zeitpunkt vertrösten zu lassen. Alles und das jetzt zu wollen, um eine Parole der Studentenbewegung zu paraphrasieren, verhindere nachhaltige Beziehungen, da sie eben andere, zeitlich verschobene Früchte trügen.

Plausibel auf den ersten Blick zeigt Baumans Skizze auf den zweiten deutliche Schlagseite: Seine Argumentationsstruktur verbindet die Betonung von Gestaltungsfreiheit als Gestaltungszwang, Zerfallsanamnesen und Überwältigungs- und Entfremdungsszenarien, deren treibende Akteure in der Politik ebenso wie in der Konsumgüterindustrie und der Kulturindustrie gesucht und gefunden werden.

Dabei scheut er auch nicht vor merkwürdigen Anachronismen, die man heute in der Regel einer allzu simplen Ideologiekritik der 1970er-Jahre zurechnet. So berichtet er vom Teufelskreis, in dem sich der heutige Arbeiter (?) befinde, allerdings mit Verweis auf eine amerikanische Studie aus dem Jahr 2003 (womit er einen Teil der Verantwortung wieder abschiebt, fragt sich weshalb?): Ein Arbeiter, der drei Stunden pro Tag vor dem Fernseher einem Werbebombardement ausgesetzt sei, werde dazu gebracht zu glauben, dass er mehr Dinge brauche, weshalb er dann auch mehr arbeite. Um aber dem Wertschätzungsverlust in der Familie vorzubeugen, mache er seine Abwesenheit mit Geschenken wett, die wiederum weiteres Geld kosten, was den Teufelskreis erst recht unentrinnbar mache. Zudem werde auf diese Weise Intimität und Liebe verdinglicht (ja, da ist es wieder, das Unwort der 1960er- und 1970er-Jahre), was erst recht die Konsumismusspirale vorantreibe.

Das klingt nicht nur wie Vance Packard, das ist auch auf keinem höheren Argumentationsniveau und trifft erst recht Realität nicht besser. Denn was Bauman wie seine Gewährsfrau an dieser Stelle sträflich vernachlässigen, ist dass dieses Handlungsprofil für einen „Arbeiter“ eher untypisch ist, während es hingegen in den abhängig tätigen Sozialgruppen häufiger sein dürfte.

Zudem ist die lineare Abhängigkeit von Handlungen und Haltungen, die Bauman durchgängig betont, nicht aufrecht zu erhalten. Er fokussiert unzulässig auf das Ende der wirtschaftlichen Waren- und Handlungskette (die Investitionsgüterindustrie und deren Handlungsmotivationen finden bei ihm schlicht keinen Platz) und pickt sich dort bestimmte Phänomene heraus (wie etwa das Konsumverhalten, das in den USA mit Sozialgruppen verbunden wird, die als „white trash“ bezeichnet worden sind, ein Begriff, den Bauman merkwürdiger Weise vermeidet).

Die Meldung, dass sich modebewusste Amerikaner nach dem Vorbild Paris Hiltons einen Chihuahua zulegen (und sie jetzt, in der Krise wieder ins Tierheim geben, weil sie in der Haltung arg teuer sind), müsste eigentlich Wasser auf die Mühlen Baumans sein. Allerdings: Wer kauft sich einen Chihuahua, nur weil Paris Hilton einen mit sich herumträgt?

Hinzu kommt der Umstand, dass der soziale Konsum- und Markendruck, den Bauman vor allem bei jugendlichen Konsumgruppen beklagt, nicht von den Marketingkampagnen ausgeht, sondern in großem Maße von der peergroup der Beteiligten.

Schließlich bleibt ein Anachronismus festzuhalten, der methodisch gesehen Baumans Ansatz suspendiert. Moderne Industriegesellschaften sind notwendiger Weise in komplexe Produktions-, Austausch- und Konsumprozesse eingebunden. Historisch ist dies freilich keine Entwicklung der letzten Jahre, sondern seit Beginn des 20. Jahrhundert der Fall, was Baumans Argumentation, die sich als Diagnose einer jüngeren Entwicklung versteht, die historische Grundlage nimmt. Alles das, was Bauman also als Zuspitzung der Entwicklung der kapitalistischen Industriestaaten skizziert, ist strukturell der Moderne insgesamt eingeschrieben und – hier wäre Bauman zuzustimmen, wenn er denn so argumentierte – als Teil der Entwicklung offensichtlich, als Risiko der Industriegesellschaften gegenwärtig.

So gesehen sind sämtliche Elemente der Konsumismuskultur den modernen Industriegesellschaften inhärent. Jedoch lässt sich ihr Zusammenspiel eben auch anders darstellen: Aber wo der Markt als Vermittler auftritt, agieren seine Akteure notwendig anarchisch, in der liberalistischen Denkform lediglich kontrolliert und gesteuert durch die Wahl der Konsumenten, auf die die Akteure naheliegend Einfluss zu nehmen versuchen, durch Werbung , durch Verhaltensmanipulation, durch Überredungsstrategien, durch Auszeichnungsversprechen.

Damit aber stehen sich zwei Denk- und Beschreibungsformen unvermittelt gegenüber: Eine liberalistische und eine verschwörungstheoretische, die allerdings beide arg reduktionistisch vorgehen und selbst kapitalistische Gesellschaften kaum treffend beschreiben. Bauman plädiert in diesem System für das verschwörungstheoretische Modell, in dem finstere Mächte die Arbeiter manipulieren und ausbeuten (wobei, um das klar zu stellen, es in der Realität genügend soziale Akteure gibt, die genau das versuchen).

Was Bauman als idealtypisches Erkenntnis leitendes Denkmuster vorstellt, erweist sich bei näherem Hinsehn weniger als logische Konsequenz der gegenwärtigen Entwicklungstendenzen des Spätkapitalismus, um eine nicht minder anachronistische Sprechweise zu verwenden, sondern als Karikatur einer Gesellschaft, die sich in einem ständigen Entwicklungsprozesse von enormer Dynamik befindet und die mit Problematiken wie Segmentierung der Lebenswelten, Marginalisierung großer Bevölkerungsgruppen, Machtmissbrauch von Eliten, ja auch Selbststigmatisierung von sozialen Gruppen und anderem mehr zu kämpfen hat.

Indem Bauman Gesellschaft als Konsumismus vorführt, suspendiert er jedoch die Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft ebenso wie die Veränderungsmöglichkeiten. Sein halbherziges Lob des Sozialstaates wie der Familie ist so gesehen nur als schwacher Versuch zu sehen, darüber hinwegzutäuschen, dass sein Begriffsinstrumentarium für die soziologische Analyse nicht ausreicht und dass als Motivation die einigermaßen untaugliche Klage über die Veränderung einer Welt übrig bleibt, die sich auch seit den Tagen nach dem Ende der Ideologiekritik weiter entwickelt hat (und das nicht nur zum Positiven). Insofern bliebe zu wünschen, dass auch die Soziologie, wenn sie denn schon nicht die Veränderung der Verhältnisse herbeizuführen imstande ist, sie doch wenigstens zu einer angemessenen und realistischen Interpretation taugen sollte. Damit wäre immerhin schon gedient, auch für ihre Veränderung.

Titelbild

Zygmunt Bauman: Leben als Konsum.
Übersetzt aus dem Englischen von Richard Barth.
Hamburger Edition, Hamburg 2009.
204 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783868542110

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Titelbild

Zygmunt Bauman: Wir Lebenskünstler.
Übersetzt aus dem Englischen von Frank Jakubzik.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
206 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518125946

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