Erkennen und Erzählen

Claudia Öhlschlägers Sammelband betrachtet den Zusammenhang von „Narration und Ethik“

Von Sandra MarkewitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Markewitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Leben erzähltes Leben ist und nicht die unverbundene Schau des Disparaten, hat sich rasch im literaturwissenschaftlichen Diskurs durchgesetzt. Der Erzähler ist die Instanz, dessen Tun nicht nur im kalkulierten Text, sondern auch im Alltagsgespräch vorherrsche, auf die Schultern der gewöhnlichen Sprecher verteilt, die erzählend Kohärenz und eine Überzeugungskraft herstellten, die in der Ausblendung von Widersprüchen bestehe. Tertium non datur, es geht erzählend um die Herstellung von Erzählbarkeit.

Die Erzählbarkeit des eigenen Lebens schließt sich im Augenblick des Todes; das „Tell them, I’ve had a wonderful life“ oder das „Meine Reise ist nun zuende“ lassen den erzählenden Körper in jene Sprachlosigkeit eingehen, in der es auf Unterschiede nicht mehr ankommt. Wie verhält sich die Wissenschaft zum anthropologischem Faktum dieser Umgehung einer Kontinuität durch ein Ende? Ihre Erklärungen geben dabei notwendig den Weg der stattgehabten Historisierung vor. Die Namen der Dichter und Autoren sind erzählte Namen, die erzählen, wieder gilt die Doppelperspektive von der erzählten Erzählung, dem sich erzählenden Erzähler, die der Diskussion ihre Qualität von Verschwimmen und fancy sichert. Das Erzählen ist der Eingriff einer strukturierenden Erwartung in etwas bisher Ungefügtes. Erzählen hat einen Leitfaden, dann ist es, bei allen Brüchen, das Ariadne-Tun par excellence. Es findet nicht nur aus einer Lage heraus, sondern in etwas hinein, das dann auch anderen offen steht: Wo erzählt wird, öffnen sich Räume ihrer möglichen rezeptiven Besetzung, ihrer Verknüpfung mit den erzählten Leben anderer und den Dingen, die von der Besetzung dieses erzählten Raumes wieder wegführen. Der erzählte Raum, wo sich Beschreibungen treffen und ihre mitgeführten Bilder sich kreuzen, ist historischer und individueller Raum zugleich. Nicht nur die Individuen weichen von einer historischen Linie, der berühmten großen Erzählung, ab, sondern die erzählte große Geschichte selbst reflektiert in ihren partikularen Konstitutionsbedingungen die Zufälligkeit ihrer Geltung. Dass den Geschichten der Geschichte geglaubt wird, ist die große Unwahrscheinlichkeit, die selbstverständlich geworden ist. Gerade die philosophischen Zugänge im vorliegenden Sammelband, den Claudia Öhlschläger nach einer Paderborner Tagung herausgegeben hat, versprechen ein Aufmerken auf diesen Zusammenhang. Doren Wohlleben setzt bei Hannah Arendt an: Ihr „Denktagebuch“ enthält die Zeugnisse eines Lebens, in dem, nicht nur „literarisch“, wie Rolf Hochhut nach einem Treffen im Hause Jaspers anmerkte, gedacht wurde. Dieses Argument zur Rechtfertigung unzeitiger Leichtigkeit trifft Arendt nicht, solange das „Literarische“ dem „Philosophischen“ etwas abziehen soll. Beides wird im individuellen Ausdruck zur unverwechselbaren Ausdrucksgeste verwandelt.

Gegen Martin Heideggers „Sein zum Tode“ hielt die Philosophin an der Natalität, dem Faktum des Geborenseins, als Grundlage der ins Leben hineinreichenden Deutungen fest. Mit der Geburt ist die Achse Initialität-Natalität betreten; anfangsgläubig. „Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.“ (Arendt) Der Erzähler beginnt dort, wo er weiß, dass der Mensch selbst ein Anfang ist. Zentrale Referenz bei Arendt ist das Augustinus-Zitat: „ut initium esset, homo creatus esset“ („damit ein Anfang sei, ist der Mensch geschaffen worden“).

Wohlleben verweist auf eine Stelle aus „Vita Activa“, wo es heißt, dass dem Menschen aus seiner Sterblichkeit ein anderes Leben erwachse, ein Bios mit einer Biografie, das als Lebensgeschichte von Geburt bis Tod erkennbar und erzählbar sei. Hier wird deutlich, wie Erzählen auf dem Erkennen beruht; als Voraussetzung von Erzählbarkeit geht es um Passungen, Konvergenzen, die den Eindruck vorbereiten, dass jetzt ein Leben erzählt werde. Das erzählte Leben wird sichtbar, wenn auf der Ebene der Zeichen ebenfalls ein initium zum Prinzip wird: des Erkennens vor dem Erzählen, der Ähnlichkeitsbeziehung, die das Erzählen vorbereitet als Ähnlichkeit der Lebensgeschichte noch in der (fiktionalen) Abweichung. Die Vorstellung des geteilten Bios bleibt verpflichtende Referenz. Ethische Implikationen ästhetischer Entwürfe beziehen sich darauf. Wenn Moral nach Arendt versagt, sobald wir zu handeln beginnen, Aktion und Sanktion zunächst denselben Ort beanspruchen, können Regeln nicht vor dem Handeln dasein; sie präfigurieren es nicht, sondern sind notwendig regulativ. Regeln können das Handeln „nur beschränken“, das Handeln wird sie immer wieder „durchbrechen und übersteigen, sich gegen sie ‚vergehen‘.“

Dass ein Ort nicht gleichzeitig von Aktion und Sanktion besetzbar ist, lässt den Anfang eigentümlich unschuldig zurück, er weiß noch nicht, wohin er sich entwirft, die Moral des Erzählens ist nicht Handlungs-Moral (im doppelten Sinne: Tun und plot), sondern die Moral einer Kontinuität, wider besseres Lebens-Wissen. Poetik des Anfangs und Ethik sind bei Arendt, wie Wohlleben herausarbeitet, prozesshaft aufeinander bezogen. Sehr gut ist der Versuch, die bei Arendt nicht stattgehabte explizite Unterscheidung von Ethik und Moral im Bild des „Kippspiels“ nachzuliefern: Hier die Moral, der öffentliche Raum, die Pluralität, dort die Ethik, die die Handlungskette der Moral durchbricht (etymologisch dem „agere“ zugeordnet, mit dem neuen Anfang eine Zäsur schlagend).

Wichtig für die Frage des Verhältnisses von Narration und Ethik ist die Betonung der Prozessualität der Ethik in Arendts Entwurf; sie entzieht sich mit der Trennung von Moralität und Legalität der juristischen Fixierung. Im Kapitel über das Handeln in „Vita Activa“ erinnert sie an eine Versuchung: „…sobald wir beginnen, uns über diese Dinge Rechenschaft zu geben, sind wir versucht, der Freiheit zu mißtrauen, die uns in die Falle einer Notwendigkeit lockt; der Spontaneität des Handelns vorzuwerfen, daß sein Neuanfang ein Schein ist, der sich sofort in dem prädeterminierten Bezugsgewebe verliert, in dem sich gerade der Handelnde verstrickt; die Weltordnung anzuklagen, in der Menschen die Freiheit unweigerlich verlieren, sobald sie anfangen, von ihr Gebrauch zu machen“. Die Freiheit des Handelns ist eine Vorstellung, die durch jenes Bezugsgewebe hervorgerufen wird, in dem sich der Handelnde verstrickt. Noch die literarische Figur verstrickt sich in die vom Erzähler geschaffenen Verstrickungen als ihrer eigenen; wie die juristische Fixierung der Moral nicht gelingt, fixiert der Erzähler seine Figuren nicht, sondern setzt sie Anfängen aus. Vermag die dichterische Sprache Ethik und Moral also zu vermitteln? Ethik als sprachabhängig kommt über das relative Werturteil nicht hinaus –gut Tennisspielen, gut ein Haus bauen, gut tanzen zu können. Wo es ums Ganze geht, steht das absolute Werturteil allein, es bildet die Figur seines eigenen Ausschlusses aus der Welt. Liebe als „der Anfang einer neuen Welt“ lässt im „Denktagebuch“ an die Ethik denken, die eine Narration durchbricht: „Denn in dieser neuen Welt, sofern sie nicht nur neu, sondern eben auch Welt ist, geht sie zugrunde.“

Doren Wohllebens Beitrag zeigt im Rekurs auf die Philosopheme der Trennung von Ethik und Moral, der implikationsreichen Prozessualität der Ethik, der Differenzierung des dichterischen Denkens (Walter Benjamin) in der dreifachen Perspektive von Hegels Aufhebungsbegriff die Reichweite des Zusammenhangs von Narration und Ethik an. Nicht-Denken, das ist das Böse, das Sich-nicht-Hineindenken in das Gegenüber, die Fühllosigkeit, der Empathie als Zumutung erscheint. Tiefe als Dimension des Denkens geht unter die Oberfläche, nicht, um unten zu tümeln und zu schwafeln, sondern um sich, nach Arendts „Denktagebuch“, emporheben zu lassen in die erzählten Vollzüge.

Neben dem Arendt-Rekurs gibt es den Bezug auf Platon. Eine philosophische Kritik der Moderne (und damit der impliziten Identifizierung von Ethik- und Sinnkategorie) zeichnet Ruth Hagengruber in ihrem aufschlussreichen, die Frage nach Ethik und Narration grundsätzlich im Blick auf ein Differenzkriterium stellendem Beitrag nach. Narration sei „Beschreibung, Darstellung, Erzählung, Darlegung eines Sachverhalts.“ Ethik erhebe darüber hinaus einen Anspruch auf die Unterscheidung von gut und schlecht, richtig und falsch. Der Sachverhalt erhält seine Tönung durch die Anwendung dieser Unterscheidungsmerkmale. Narration erscheint als ethisch unberührt zu dem Zeitpunkt, da sie nur Darstellung ist, Exponierung eines Handlungsganges oder einer Selbsterzählung. Hier stellt sich die Frage, ob nicht, gerade in der philosophischen Behandlung des Themas, diese Trennung heuristisch-idealtypisch ist. Narration geschähe dann nicht ohne Ethik, die als wertender Anspruch später eingreife, sie wäre selbst ethisch durchwirkt – und diese Durchwirkung kann durchaus darin bestehen, von Werturteilen abzusehen oder die Kriterienkataloge der vernünftigen Betrachtungen von Sachlagen hinter sich zu lassen (Juli Zehs „Spieltrieb“). Anthropologisch bei Aristoteles fundiert macht, mit Hagengruber, der Sinn für gut und böse den Mensch zum Menschen. Überzeugungen zu teilen, an den endoxa, dem zu einem bestimmten Zeitpunkt Für-wahr-Gehaltenen zu partizipieren, versichert den erzählten antiken Menschen seiner Teilhabe an der Gemeinschaft. Gemeinschaftlichkeit erscheint vor diesem Hintergrund als stille Voraussetzung, Narration und Ethik zusammenzuführen: Wo „Unterschiede und Gemeinsamkeiten“ zu Tage treten sollen, sollen sie dies in einem etablierten Kontext des Miteinanders auch im literarischen Feld, in aestheticis. Dass die ethische Bewandtnis des Erzählens darin liegen könnte, das Erzählen vermindern zu wollen zugunsten des Schweigens angesichts dessen, was unaussprechbar ist und sich schon der Substantivierung verweigert, liegt nahe. Es ist auch der technizistische Anklang des Begriffes „Narration“ als Terminus, der vom wie unabsichtlichen Gelingen des „Erzählens“ wegführt. „Erzählen“ mag mit dem Wissen um gut und böse im Einklang gewesen sein, in den großen weltspiegelnden Epen; die erklärte (nicht beschriebene und beschreibende) narratio ist Element diskursiver Spiele im Geltungsbereich normativer Metarede. Wie in bestimmten Abständen die Feuilletons Romane zu bestimmten Zeitsituationen zu vermissen pflegen, als könne man bei den Autoren Verdichtungen von Zeiterfahrung bestellen, verdichten sich die Fragen nach der Ethik in Zeiten permanenter Wende und Änderung von Lebensbedingungen. Nicht, um das große erlösende Wort zu finden, sondern um die Bedingungen, unter denen solche Worte nicht mehr sagbar sind, zu explorieren.

Der ethische Erzähler weiß offenbar nicht nur um Begründungsformen wie die philosophisch einschlägige Ethikliteratur (ein Mörder steht vor der Tür und bittet um ein Versteck, was tun?), er verschmilzt mit seinen Darstellungsformen und zeigt in diesen sein Wissen um ethische Standards. Daran erinnert Hagengruber, wenn sie den philosophischen Diskurs aufruft: „Wenn wir also nach dem Verhältnis von Narration und Ethik fragen, so richtet sich diese Frage nach der Wohlbegründetheit menschlicher Handlungen in diversen Handlungsmustern, Erzählformen und Darstellungsweisen.“

Ethik ist hier Beurteilungswissenschaft, die die schwarze oder weiße Kugel zieht und die Kontingenz dieses Vorgangs in den Begründungsmustern auffängt. Darum kommt sie so oft zu spät, wirkt befremdlich, grenzsetzend, müsste das wahrhafte ethische Buch die anderen überflüssig machen, nicht nur mit Wittgenstein. Einstweilen gilt der philosophische Diskurs. Philosophie kommt als Nutz- und Hilfswissenschaft in den Blick, als Kriterienbeschafferin, die „von der Dichtung angerufen (werde) als jene Disziplin, die für die Beurteilung von Handlungen zuständig ist“. Fein aufgeteilt nach Fakultät und Zuständigkeit scheint das komplexe Untersuchungsfeld überschaubar. Es sind nicht zuletzt diese Einteilungen, die darüber hinwegtäuschen, dass Ethik nicht nur Wissen in Form von Kriterien bereitzustellen hat, sondern auch das Wissen vermitteln kann, das besagt, dass die Kriterien (vor der Evidenz eines Ausgedrückten) zu schweigen haben. Die Evidenz des Ausgedrückten ist mehr als sie. Das Festhalten an den Kriterien führt die berühmte Ausweisung der Dichter aus dem Staatswesen bei Platon fort. Das Denken beschafft etwas, was das Dichten nicht kennt, Letzteres ist, anstatt zu schaffen, bildet Unwahres ab, lässt das Ebenbild dieses Unwahren in den Staat eintreten. Die funktionsbasierte Verbindung von Narration und Ethik verlängert unabsichtlich diesen Zusammenhang. Gleichwohl ist der Reichtum der platonischen Perspektive zu betonen: Mit dem Satz „Er [Sokrates, S.M.] will Wahrheit, kann sie aber in den Erscheinungsformen nicht finden“, ist die Grundfrage des erkennenwollenden Menschen bis in die Moderne ausgesprochen: Die Erscheinungen täuschen; mit dem linguistic turn lernte man, die Formulierung „Erscheinung“ als unziemliche Substantivierung abzuweisen, die Substrat und Essenz des Erscheinungsmodus zu implizieren schien. Ob die Dichter Anteil am Guten haben (bei Aristoteles mehr, bei Platon eben nicht), ist bis heute nicht die bestimmende Frage; ihr Gutes ist eine Darstellungsform, die die dargestellten Dinge zum Leben bringt, auch zu einem Leben in gewollter Betäubungsstarre und Besinnungslosigkeit.

In die philosophischen Exponierungen des Themas (als Perspektivierungen der Abteilungen „Narrative Verfahren und ihre Ethik“, „Narrationen ethischer Herausforderungen“ und „Ethik und Narration im interkulturellen Kontext“) fügen sich die Analysen einzelner literarischer Beispiele. Das Problemfeld ist exponiert, von den „ethischen Implikationen bestimmter Erzähltechniken“ bis zu der Frage, „inwiefern Literatur dank ihrer fiktiven Beschaffenheit Möglichkeitsräume des Denkens und Handelns eröffnet, die fremde, neue und alternative Deutungs- und Wahrnehmungsoptionen sichtbar machen“. (Öhlschläger) Literatur ist mehr als ein Optionengeber wie Philosophie mehr gibt als Kriterien; der ethische Impuls scheint mit einer Übertragbarkeitsannahme sichtbar zu werden: Fiktion eröffnet Pragmatik. Der bestimmte Geltungsraum bleibt. Die Frage des Unternehmens an der „Schnittstelle“ von Narration und Ethik: ob dieser Geltungsraum verlassen werden kann. Verlassen werden könnte er mit Blick auf die Primärtexte, die Geltung durch Imaginationsweisen, die Einbildungskraft, ersetzen.

Mathias Mayer nimmt in seinem die Abteilung narrativer Verfahren abschließenden Beitrag Robert Musil in den Blick: „Der Mann ohne Eigenschaften“ sei eine „Reise an den Rand der Möglichkeiten“ (Musil), die insbesondere das Element „Epilog“ mit der Ethik- und Narrativitätsfrage in Beziehung setze: Als „Experiment an der Grenze der Erzählbarkeit“ impliziere er mit Greimas und Walter Fanta eine „Infragestellung der Beendbarkeit des Erzählens.“ Sehr überzeugend ist hier die Bestimmung der „Ethik als Aporie der Moral“; als Frage, Offenheit angesichts eines scheinbaren Endes narrativer Kompetenz, die jene Problemlagen aufruft, die sich aus der wie selbstverständlich vorausgesetzen Erwartung ergeben, ein ethisches „Erlebnis“ lasse sich auffächern in Bewertungen alltäglicher Handlungen.

Konversionen sind Höhepunkt der ethischen Bindung und ihr Bruch; was einmal galt, gilt nicht mehr und ist umgeschlagen, die Vehemenz des Konvertiten erinnert an die Stärke der vorherigen Bindung an einen Inhalt, der durch einen anderen ersetzt wurde. Liebe, Einkehr, Demut seien mit Musil etwas „sehr schwer zu Übertragendes, ganz Persönliches und fast Unsoziales“, die Zeichen begleiten die Zustände ihrer Abwesenheit, der (scheinbaren) Lockerung konventionaler Gegebenheiten in der individuellen Empfindung.

Zwischen dem Aktivismus der Parallelaktion und einem Leben im Stande der Hypothese kommt bei Musil die „Hypothese der Beendbarkeit“ in den Blick, der Epilog hält sie wach wie er sie scheinbar bestätigt. Analyse und Synthese lassen sich nicht feststellen in einem Ende, die „unmögliche Synthese“ spricht von der unüberbrückbaren Differenz von Ende und Anfang, die im umgekehrten initium, dem Erklären und Denken vom Ende her, keine Lösung findet. Keine Aufhebung eines Anfanges in sein gutes Ende löst auf, hebt empor. Der Blick auf das Ende weist den „Epilog als Signatur“ (Mayer) einer Frage aus, die das experimentum crucis der Moderne bleibt. Signiert, gezeichnet, bleibt die Vorstellung vom Ende so blaß und vorläufig, wie die Versuche, es in einer finiten Weise als ein Finites herzustellen.

Neben Überlegungen zum Rahmen, der sich verschiebt und mit dem Konzept der „Exteriorität“ (Lévinas) zusammengedacht wird (Vittoria Borsò), worin eine Herausforderung des üblichen Blicks bestehe. Mit Italo Calvino würden Mediatisierungsprozesse betont, die seine Kritiker nicht sähen. Ethik als Aufmerken auf eine Mediatisierungstendenz trägt den sogenannten modernen Schreibweisen Rechnung; nach dem mediatic turn. Das „Änigma der modernen Welt“ sei mit den Rahmenverschiebungen „in einem Chiasmus unhintergehbar verstrickt“ (Borsò); Temporalität durchkreuzt den Blick des Subjekts auf das Objekt durch die Erinnerung.

Mit Merleau-Ponty ist die Essenz des Bildes seine Unsichtbarkeit, das Änigma ist das Komplement des ethischen Anspruchs. Auch wenn es den reinen Blick des Subjekts auf das Objekt nicht gibt, keine reine Relation, die, quai-sächlich, „durchkreuzt“ werden könnte. Mit Calvino wird der Blick taktil, Kurzsichtigkeit ist lebensweltliche Zutat und Eigenschaft einer Figur. Der Kurz-Sichtige tastet die Dinge auf nahe Entfernung an, „die Beziehung mit der Welt gestaltet sich als ständige Entscheidung zwischen noetischem Wissen und sensiblem Abtasten der Dinge.“

Die Rahmenverschiebung ist hier, wie Borsò zeigt, Instrument des Weges zur „Exteriorität“ (etwa durch Projektionen des Orientalismus). Mit dem Exterioritätskonzept wendet sich Lévinas gegen totalisierende Vorstellungen vom Raum, Ethik als blickbasierte Einstellung zu einem Wahrgenommenen hin hat sich hierzu zu verhalten. Exteriorität überschreitet die Immanenz der Narrative. Das Ich muß sich entscheiden, „eine Entscheidung, die inmitten der Pluralität der heutigen Welten nur und gerade vom partikulären Ort der sich im Lesen verkörpernden Subjektivität getroffen werden kann.“

Neben diesen Überlegungen zu Ethik und Wahrnehmung gibt es Beiträge zur Kontroverse zwischen Beschreiben und Erzählen (Joachim Jacob) oder zur Ethik des Lesens und Schreibens bei Schleiermacher und Friedrich Schlegel (Bart Philipsen). Sowohl Rezeptions- als Produktionsperspektive werden abgedeckt, die „Verfahren“ kommen, in der Einteilung des Buches, vor den „Herausforderungen“, die sich ihrer bedienen. Beide werden im letzten Teil des Bandes ausgedehnt im Blick auf den interkulturellen Kontext; Ilja Trojanows „Der Weltensammler“ wird mit Wittgenstein gelesen, Salman Rushdies „Satanische Verse“ und Orhan Pamuks „Schnee“ unter dem Stichwort Postkolonialität. Ein perspektivierender Beitrag von David Martyn zur Kantischen Kritik gab die Einteilung an die Hand: auch Freiheit und Naturnotwendigkeit sind Pole, zwischen denen das Ethikproblem deutlich wird (als eines, das in Bezug auf Handlungskontexte untersucht wird). „Kurz: ein guter Autor weiß am Anfang seiner Arbeit nicht, auf welche Weise sie ausgehen wird.“ (Martyn) Indeed? Nun, der Versuchsentwurf mit den Figuren wächst in einem Spielraum. Die Strukturen und Konstellationen des Erzählens selbst werden in den Blick genommen (von Öhlschläger im Vorwort), der Autor ist nicht auf einen Inhalt verpflichtet, einen Informationsvorsprung im Produzieren, sondern gleichsam auf die Experimente jenseits des verlässlichen Gefüges intendierter Plotstrukturen, die die Lösung des Knotens zu bestimmter Stunde vorsehen.

Sehr sorgfältig und gut ausgearbeitet der Beitrag von Stefanie Rinke zu Robert Walsers „Der Gehülfe“ (1908): Wie eine Dienerexistenz, vorindustrielle Strukturen zitierend, sich in einem geordneten Hauswesen in schöner Landschaft wohlfühlt, das Platz für Träume ist, gibt den Hintergrund zur Frage nach Narration und Ethik ab. Der Angestellte „zwischen Auflehnung und Demut“ changiert zwischen diskordanten und konkordanten Elementen (Paul Ricœur), „Selbigkeit“ (Konkordanz) und „Selbstheit“ (Diskordanz) sind Marken zur Bestimmung des Zustands, in den eine Figur durch die Erzählstrukturen, die sie umgeben, gerät. Die Ethik der „narrativen Identität“ reflektiert Moral.

Wie Robert Walser in Stellung als Diener nicht geschrieben hat, um die Rolle nicht zu brechen, sondern deren kommende Verschriftlichung zu inkubieren (Paul Nizon stellte dies in seinen Poetikvorlesungen dar), geht der Gehilfe über das Terrain der Villa und des Gartens nicht hinaus. Hier sind seine Träume in einer familialen Behaglichkeit aufgehoben, zu der er kaum gehört – die Blicke messen ihn als Fremden, der an der Tafel sitzt, verköstigt wird, Mitleid als Herablassung erfährt – sie werden sich nicht verwirklichen (Synästhesien, Traumbilder), nur in einem Wechsel von Anstellungen, einem Auf-dem-Sprung-Sein in geistiger „Obdachlosigkeit“ (Siegfried Kracauers berühmte Studie „Die Angestellten“ wird genannt) verschieben. Eine „Kultur aus Narrativen, wobei Narrative von handelnden Menschen handeln“ (Öhlschläger), verbindet „Ethik als Reflexionstheorie der Moral“ (Niklas Luhmann) mit den literarischen Beschreibungen alltäglicher Handlungsvollzüge.

Nicht gleich „ethical turn“ (das Thema wurzelt bei Aristoteles und geht ins 20. Jahrhundert bis zu G.E. Moore und seinen vielen Verflechtungen), aber Aufmerken auf das, was man tun soll angesichts dessen, was man tut – nicht als konkrete Richtschnur, sondern Strukturfunktion modernen Erzählens und darüber hinaus. Ethik im literarischen Text erscheint, wie der Band herausarbeitet, in Form der Verhandlung von Praktiken nicht so sehr der Lebensführung, sondern ihrer Darstellung. Repräsentation stellt noch im Bruch Aufgaben: auf das andere Leben (Appell), die Herausforderung durch Ambivalenz, die Werte, die sich nicht erzählen lassen. Sie finden sich in Figuren. Diese sind nicht nur Illustration ethischer Positionen. Der Sammelband fasst das Wissen einer Zeit zusammen, sucht die implizite Ethik explizit zu machen. Nicht als eingeschliffene Moral (mores), sondern die Sitten des Erzählens selbst: es ist das Selbst, jenseits von Konkordanz und Diskordanz, doch in einer Position, in die die erzählten Figurationen nicht einfach einrücken. So zerrt das „brüchige Machtinstrument des ‚naturalistischen Fehlschlusses‘ […] an der Ökonomie des Stifterschen Textes“ (Öhlschläger/Roselli), ist selbst Element der Diskordanz. Sein und Sollen kommen nicht zusammen in einer Struktur. Ein Überblick wird gegeben, der das Arbeitsfeld umreißt, als reichhaltig ausweist, wichtige Stellen betont. Dass Ethik indes älter ist als ihre präsentischen Manifestationen bleibt im Gedächtnis.

Titelbild

Claudia Öhlschläger (Hg.): Narration und Ethik.
Wilhelm Fink Verlag, München 2009.
327 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770546381

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