Vektorfeld Natur: Endlosschleife aus Laub und Leichen
Heskes „Wegintegrale“ als Symbiose von Poesie und Mathematik
Von Thorsten Schulte
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseHenning Heske legt mit „Wegintegrale“ einen außergewöhnlichen Gedichtband vor, denn der promovierte Geograf, Germanist und Mathematiker hat eine spannende Symbiose von Poesie und Mathematik geschaffen. Seine Gedichte sind Dechiffrierschlüssel für die optimierte, durchgestylte Welt der Technik. Es ist die filigrane Architektur seiner Gedichte – „mathematische Grundstrukturen mit Tendenz zu harmonischen Proportionen“ heißt es in seinen „Gedichte der Bionik“ – die fasziniert. Der Leser ist nicht gefangen im künstlichen Röhrensystem der Mathematik, einer technisierten, entmenschlichten Welt, welche die Natur nur kopiert. Heske wagt einen humanen Ausblick hinter die Kulisse aus Datenspeichern und Nano-Automaten; dort gibt es sie noch, die „Endlosschleife […] (aus) Laub und Leichen“.
Im Klappentext des Buches wird der Leser darauf hingewiesen, dass Heske mit seinen „klug komponierten Gedichten“ den vieldeutigen Horizont zwischen Kunst und Wissenschaft durchleuchtet. Um in der Sprache des Mathematikers zu bleiben: Wegintegrale bilden komplexe Funktionen. Wegintegrale erweitern den gewöhnlichen Integralbegriff im mehrdimensionalen Raum. Doch Mehrdimensionalität ist keineswegs gleichzusetzen mit Vieldeutigkeit. Denn genau das will Heske vermeiden: Er will nicht abgleiten in einen vieldeutigen Nebel, der sich wie Wasserdampf auf Brillengläser legt. Damit keine Zweifel aufkommen, gibt Heske dem Leser die „Positionsangabe II“ zur Hand, eine Abrechnung mit sinnloser Verschleierung durch wortgewandte Poeten in zehn Zeilen: „Entkleidung aus dem Korsett der Formen / […] Bedeutungsübertragung durch Komposita. / Aufladung von Fachbegriffen durch Verfremdung / der Kontexte“; nüchterner kann eine Analyse des lyrischen Schaffens nicht sein – nüchtern und logisch, eindeutig und klar abgegrenzt: Mathematik.
Diese bildet die Grundlage für Heskes Arbeitsweise. Kaum ein Text kommt ohne mindestens einen Doppelpunkt aus, der in der Mathematik als Geteiltzeichen genutzt wird. Bei Heske entfaltet er zugleich trennende wie betonende Eigenschaften, meist leiten die Worte vor dem Doppelpunkt hin zu einem größeren Zusammenhang, dem Vektorfeld der Absicht. Man könnte es als Formelsprache bezeichnen. „Algorithmische Unerschöpflichkeit [ist das] Leitmotiv“, so heißt es im Gedicht „Unvollständigkeitssätze“. Die Tatsache der algorithmischen Unerschöpflichkeit zeigt, dem Mathematiker Kurt Friedrich Gödel, an den dieses Gedicht erinnern soll, zufolge, dass entweder der menschliche Geist allen Computern überlegen ist, oder dass die Mathematik nicht vom menschlichen Geist geschaffen ist; oder aber sie zeigt beides zugleich. Gödel verzweifelt: „Zuletzt der vergebliche Versuch eines Gottesbeweises.“ Gödel starb an Unterernährung, so werden die Integrale zur Realität gezogen, die nicht nur aus vorweihnachtlichen Lichterketten, sondern auch aus Grablichtern besteht. Seepferde werden nicht romantisiert und zu Seepferdchen verniedlicht, sondern „zerrieben […], gekocht […], geröstet [und] verpulvert“. Es öffnet sich das Spannungsfeld der Gegensätze tot und lebendig, logisch und unlogisch.
In der „Lyrikedition 2000“, begründet von Heinz Ludwig Arnold und Wolfram Göbel, sind schon viele interessante Gedichtbände – zu günstigen Preisen – erschienen. Die Lyrikedition gibt jungen, deutschsprachigen Lyrikern eine Plattform und damit die sonst leider seltene Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu erregen. Heske kann man diese Aufmerksamkeit nur wünschen. Seine selbstreflexive Positionierung im Zeitalter der Computertechnologie: „Gott allein genügt – nicht“, beschert spannende Lesemomente.
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