Achtung, Kanon?

„Deutsche Literatur auf einen Blick“ – Ein kanonischer Versuch von Ralf Georg Bogner

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich erwartet man im vorliegenden Band eine der üblichen Übersichten zur deutschen Literatur, wie sie in regelmäßigen Abständen immer wieder bei den einschlägigen Verlagen erscheinen. In gewisser Hinsicht ist diese kleine Literaturgeschichte in Einzeldarstellungen dies auch, wenn da nicht der kurze Untertitel „Ein kanonischer Versuch“ wäre.

Dies verleitet den Leser, ein paar Überlegungen zum Kanon im Allgemeinen und dem Umgang mit demselben im Besonderen anzustellen. Treffend reflektiert der Herausgeber den Vorgang der Kanonbildung: „Das literarische Gedächtnis ist keineswegs stabil, es bleibt nicht konstant. Das gilt nicht allein deswegen, weil, solange eine Kultur lebendig und kreativ ist, neue Texte hinzukommen. Vielmehr arbeitet das literarische Gedächtnis unausgesetzt am Bestand der kanonisierten Werke. Es ergänzt sowohl neue Texte aus der Gegenwart als auch solche aus der Vergangenheit, derer es sich wieder erinnert, und es verdrängt dafür anderes, was bisher zu seinem Bestand gehört hat. Die ständige Bewegung im Kanon besitzt eine gewisse Eigengesetzlichkeit, folgt bestimmten charakteristischen Mustern. Re-Kanonisierungsprozesse beispielsweise gehorchen regelmäßig spezifischen rituellen Abläufen, etwa anlässlich von Jubiläen. Auch ist der Blick des literarischen Gedächtnisses auf die jüngere und jüngste Vergangenheit typischerweise wesentlich weniger selektiv als auf weit zurückliegende Epochen.“

In der Einleitung findet man noch einige nutzbringende Hinweise zur Theorie der Kanonisierung von Literatur. Hier hätte man sich noch einige Anmerkungen und Literaturhinweise gewünscht, um die Ausführungen besser nachvollziehbar zu machen und die diesbezügliche Lektüre vertiefen zu können. Auch für den Hauptteil des Nachschlagwerkes soll eine hoffnungsvolle Annahme gelten, die den eigentlichen Sinn des Buches in den Vordergrund stellt: „Ziel ist es vielmehr, erste, knappe, aber stets wissenschaftlich fundierte Angaben zu machen, die freilich notwendigerweise verkürzt sein müssen und v. a. zum Lesen des jeweiligen Werkes selbst einladen möchten.“ Es ist eine Auswahl, die vor allem eines ist: praktisch gut zu gebrauchten. Die gut systematisierten Informationen bieten einen schnellen Überblick, auch wenn der eine oder andere Zeitabschnitt – etwa die Werke bis ins dreizehnte Jahrhundert – manchmal mit abwegigen Beispielen gespickt zu sein scheinen.

Vor allem die Literatur nach 1945 ist auf fünfzig Seiten ein wenig zu kurz zu kommen. Dass dabei in den letzten zwanzig Jahren als die kanonisch verbindlichen Werke Robert Schneiders „Schlafes Bruder“ (1992) und Bernhard Schlinks „Der Vorleser“ (1995) als die letzten beiden Einträge verzeichnet werden ist befremdlich. Dass man allerdings in der „Literaturliste“ seit 1945 aus der ehemaligen Literatur der DDR keine fünf Titel findet, darunter Beckers „Jakob der Lügner“, Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“ und Plenzdorfs „Leiden“, lässt ein einseitiges Bild der deutschsprachigen Literatur nach 1945 entstehen. Ja, es soll eine Anregung zur Lektüre sein. Aber über die Auswahl müsste man vielleicht doch noch einmal reden. Aber genau das sollte ja die Aufgabe dieses Sammelwerkes sein.

Titelbild

Ralf Georg Bogner (Hg.): Deutsche Literatur auf einen Blick. 400 Werke aus 1200 Jahren.
Primus Verlag, Darmstadt 2009.
384 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783896786630

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