Das Wissen von der Gewalt

Maximilian Bergengruen und Roland Borgards versammeln Studien zu einem modernen Forschungsgebiet

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jedes Wissenschaftsjahrzehnt hat seine Zauberworte. Schien es vor einiger Zeit noch sicher, dass diesmal in den Geisteswissenschaften „Kultur“ das Rennen machen würde, so ist nun mit „Wissen“ ein ernsthafter Konkurrent aufgetaucht. Nun gilt als „Wissen“ so ziemlich alles, was jemals gedacht und niedergeschrieben wurde und anders als „Information“ nicht bloß isoliertes Faktum, sondern irgendwie verknüpft ist. Gerade darin besteht der Charme des Forschungsprogramms: dass jeder sich genau jenem Thema widmen kann, das ihn ohnehin interessiert, und dabei die Weihen der Aktualität genießt. Das kann ja durchaus produktiv sein, denn wahrscheinlich tun die Leute immer das am besten, was sie mit Freude tun.

Vorliegender Band kündigt entsprechend im Untertitel „Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte“ an und also zu allem Möglichen, grenzt aber im Haupttitel scheinbar ein: „Bann der Gewalt“. Doch ist auch dies vieldeutig: Keineswegs bedeutet dies nur, wie der Klappentext vorschlägt, „gebannte Gewalt“. Statt gebannt zu werden, kann ja die Gewalt auch in ihren Bann ziehen. Und was überhaupt ist unter „Gewalt“ hier zu verstehen? Nur im Ausnahmefall rohe Körperlichkeit. In fast allen Beiträgen stehen Fragen der staatlichen Souveränität sowie der ein- und ausgrenzenden Kontroll- und Lenkungsfunktion von Verwaltung und Wissenschaft im Zentrum.

In ihrer Einleitung geben die beiden Herausgeber Maximilian Bergengruen und Roland Borgards einen begrifflich-methodischen Rahmen vor, der sich auf die – freilich in einem zentralen Punkt revidierte – Theorie Giorgio Agambens stützt. In einer bemerkenswerten und originellen Engführung Agambens mit den Arbeiten Michel Foucaults wird der Mechanismus, dass der gewaltsame Ausschluss zugleich ein Einschluss ist, an zwei Extremen gezeigt: Auf dem einen Pol ist der Rechtlose, der Gebannte, der den Schutz des Staates verloren hat, aber als Verfolgter weiterhin Objekt staatlichen Handelns ist. Den anderen Pol markiert der Herrscher, Verkörperung der Souveränität, der als oberste Instanz der Rechtsordnung das Recht suspendieren kann. Beide stehen damit formal sowohl innerhalb wie außerhalb des Rechts. Indem mit Foucault und Agamben Biopolitik untersucht wird – also ein Eingriff von oben, der nicht nur Ungehorsam straft, sondern planmäßig das Nützliche zu befördern sucht – ist der moderne Aspekt der Gewalt vertreten. Indem immer noch der handelnde Souverän gedacht wird und keine unpersönliche, nach unerfindlichen Regeln sich figurierende Struktur, stehen Bergengruen und Borgards eher als bei Foucault bei Agamben und auch Carl Schmitt; wobei letzterer, wie sie betonen, von Biopolitik nicht nur dem Wort, sondern auch der Sache nach wenig wusste, doch mit seiner Formulierung vom „Feind als der eigenen Frage in Gestalt“ dem Ineinander von Aus- und Eingrenzung doch näher stand als es hier scheint.

Freilich wollen die Herausgeber von einem zentralen Anliegen Agambens nichts wissen: vom Ausblick auf eine „reine Gewalt“, die ohne jede rechtliche Vermittlung eschatologisch auf eine neues Leben hinführen mag. Diesen „wirklichen Ausnahmezustand“, die „reine Gewalt“, vermögen Bergengruen und Borgards nicht zu sehen; und wirklich wäre zu überlegen, ob dies, als Moment des Übergangs zu etwas Neuem oder gar als das Neue selbst, zu wünschen wäre. Die Selbstbescheidung freilich, sich auf „die historische Analyse von Machtverhältnissen“ zu beschränken, ist in zweifacher Hinsicht zu hinterfragen. Erstens nämlich kann man zweifeln, ob solche antiquarische Genügsamkeit noch die Legitimität besitzt, sich der Theorien zu bedienen, die radikal Grundfragen menschlicher Gesellschaft stellten; und zweitens könnte es doch passieren, dass die Theorien ihrerseits das historistische Geschäft unterlaufen und zu Wertfragen führen.

Das wird deutlich bei dem ambivalenten Begriff der Gewalt, der ja nicht nur mindestens zweierlei meint und damit zwei Wertungen transportiert. Gewalt als Brutalität wird fast durchgängig negativ gewertet – einem gewalttätigen Menschen möchte man nicht im Dunkeln auf der Straße begegnen. Andererseits gibt es den staatsrechtlichen Begriff der Gewalt, der zunächst neutral ist. Wenn sich im Grundgesetz der Satz findet: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, so changiert das zwischen Norm und Tatsachenbehauptung, soll aber jedenfalls nicht das Volk als prügelnden Haufen kennzeichnen. Dabei ist mitgedacht, dass der Staat nicht nur potentiell Zwang ausübt, sondern tagtäglich real; und dass dies auch durchaus positiv zu werten ist. Man will ja nicht wirklich zum mittelalterlichen Raubrittertum zurück, und auch dass der Staat für bestimmte gesellschaftliche Zwecke zwangsweise Steuern einzieht, wird von den denkenden Menschen mit Ausnahme Peter Sloterdijks als sinnvoll anerkannt.

Nun aber durchdringen sich die Dimensionen des Gewaltbegriffs. Einmal bei der falschen Gelegenheit gesagt: „Die Bundesrepublik ist eine Gewaltorganisation“, und man steht im Rufe eines Verfassungsfeinds. Offensichtlich trägt auch eine als sinnvoll anerkannte Gewalt noch am Erbe der verdrängten Vergangenheit, in der Machtressourcen mit unfeinen Mittel zusammengerafft wurden. Und eben dieser Widerspruch kennzeichnet viele der Beiträge im Sammelband.

Die Gewalt erscheint dabei paradoxerweise als moralisch relativ unproblematisch, wo es um die Konflikte souveräner Herrscher geht. Wenn Natalie Binczek Dramen von Andreas Gryphius behandelt und Maximilian Bergengruen sich den „Turm“-Fassungen von Hugo von Hofmannsthal zuwendet, wird zwar deutlich, in welch ungesicherter Position auch die Herrscher agieren, doch gehört die einschneidende Maßnahme zum Fürsten und steht ihre Berechtigung darum nicht ernsthaft in Frage.

Ganz anders wird es, wenn Verwaltungsapparat und Wissenschaft den personalen Herrscher ablösen und das Konzept zu greifen beginnt, das im Gefolge Foucaults als Biopolitik erfasst werden kann. Nun wird nicht mehr nur die Verfehlung bestraft, sondern das richtige und rationale Verhalten gefördert; nun entdeckt der entstehende Staat die Funktion der Fürsorge, die vom religiös gebotenen Gnadenakt zum Mittel wird, die Gesellschaft zu lenken.

Dies geschieht hierarchisch, von oben nach unten, wobei Beamte wie auch die intellektuellen Spezialisten, die ihnen zuarbeiten, die irrational Abweichenden zu ihrem vorgeblich eigenen Besten zu zwingen versuchen. Dieses Beste kann dann auch schon mal in den Tod führen: Harald Neumeyer bringt in einem Beitrag über Debatten zur Selbstmordproblematik im 18. Jahrhundert Beispiele, wie gerade die totale Kontrolle die Opfer der Bemühungen zerstörte.

Das ist Gewalt (übrigens hier auch physische), die von frühen biopolitisch agierenden Apparaten ausging. Freilich: So kenntnisreich und quellenbewusst Neumeyer die Argumentationen nachzeichnet, die im 18. Jahrhundert gegen den Suizid ins Feld geführt wurden, so scharfsinnig er die Widersprüche analysiert, die die Diskurse belasteten und antrieben – man sollte nicht vergessen, dass es sich um die ersten wissenschaftlichen Versuche handelte, Depressiven zu helfen. Gewiss verwendete man untaugliche Mittel, die aber doch die Vorformen der heute immerhin etwas tauglicheren sind.

Zu welch befremdlichen Vorstellungen die Koppelung des Gewaltbegriffs mit Foucaults Konzepten führen kann, zeigt sich in Peter Schnyders Beitrag „Gouvernementalität und Glücksspiel“, der in seiner sowohl quellengesättigten wie stringenten Darstellung im übrigen zu den besten des Bandes gehört. Mathematische Modelle, die von der „Zähmung des Glücksspiels“ ihren Ausgang nahmen, konnten auch dazu dienen, überhaupt Unglücksfälle statistisch zu erfassen und ökonomisch handhabbar zu machen. Darauf beruht seitdem jedes funktionierende Renten- und Versicherungssystem. Nun erscheint aber dem antirationalen Affekt Foucaults gerade die Kontrolle des Unglücks als die spezifisch neuzeitliche Gewalt – während man doch andererseits meinen könnte, es bedeute Gewalt, wenn man ein Unglück zulässt, das nach dem Stand der Wissenschaft und der menschlichen Ressourcen vermeidbar ist.

Überhaupt zeigt sich zuweilen eine fragwürdige Verachtung der gesellschaftlichen Moderne. Mit Borgards unter Berufung auf Agamben zu behaupten, dass „in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte das Leben der Menschen nicht durch Einschluss in den Raum des bürgerlichen Rechts geschützt, sondern durch den bannenden Ausschluss dem Zugriff einer Biopolitik überhaupt erst ausgesetzt wird“, abstrahiert doch allzu entschlossen von historischen Entwicklungen. Weder waren vor jener Erklärung die Menschen vor einem gewaltsamen Zugriff von oben geschützt, noch ist der biopolitische Bann die Folge irgendeiner Menschenrechtserklärung. Vielmehr sind die in der Tat gewaltsamen Ausgrenzungen der letzten zwei Jahrhunderte durch einen weiteren Faktor begründet, der durch den Wissensbegriff nur schwer zu erfassen ist: durch eine Realität, die sich jenseits der Texte ereignet und in der ökonomische Interessen, häufig unausgesprochen, eine Rolle spielen.

Oder auch einfach krude Impulse. Barbara Thums hebt hervor, dass die vier Brüder, die in Kleists „Heiliger Cäcilie“ einen Gottesdienst stören wollen, ihren Entschluss im Wirtshaus fassen. Nun beruht dieses Vorhaben nicht auf theologischem Nachdenken über die Abbildbarkeit des Heiligen, sondern ist teils als Nachahmung niederländischer Ereignisse gekennzeichnet, teils aber auch als ortstypisch alkoholbedingt. Dazu hat Thums eine Passage gefunden, die der Kant-Leser Kleist vermutlich sogar gekannt hat: Nach der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ ist „ein täuschendes Gefühl vermehrter Lebenskraft“ die Folge des Saufens und dann natürlich unvernünftiges Handeln.

Mag sein, dass sich hier anthropologisches Wissen in Literatur wiederfindet; aber vielleicht hat sich auch einfach Kleist, der kreuz und quer durch Mittel- und Westeuropa reiste, in Wirtshäusern umgeschaut. Was Thum über den Topos „Wirtshaus“ um 1800 herausfindet, ist bemerkenswert und interessant zu lesen; doch sind die Orte, an denen damals Personen zusammentreffen können, beschränkt, und finden sie sich vielleicht nicht deshalb in der Literatur, weil die Autoren an einem Diskurs teilhaben, sondern aus der Not heraus, irgendeinen überzeugenden Platz fürs Geschehen zu finden.

Der Band hat manche Vorzüge; vor allem den, den Beiträgern viel Raum zu gewähren und sie nicht auf das übliche Vortragsformat zu verpflichten, das häufig da zum Abbruch führt, wo es nach einigen Vorerwägungen erst interessant werden könnte. Ergebnis sind einige Aufsätze, die auf der Grundlage intensiver historischer Quellenstudien in der gebotenen Ausführlichkeit instruktive Einblicke in ihr Thema erlauben. Erwähnt seien hier neben den genannten Beiträgen die von Eva Horn zu Ambivalenzen der Verschwörung bei Machiavelli, Shakespeare und Schiller, von Christine Weder über den „Zwang zur Freiheit“ in manchen der um 1968 rezipierten Theorien zur sexuellen Befreiung sowie Armin Schäfers „Versuch über Souveränität und Moral im barocken Trauerspiel“.

Doch zeigt sich andererseits, neben dem problematischen Umgang mit dem Gewaltbegriff, auch eine Schwäche des Wissens-Paradigmas. Mit seiner Hilfe lässt sich breit untersuchen, wie Texte andere Texte fortschreiben. Die geringere Gefahr besteht dabei darin, dass Textbezüge willkürlich aufgrund mehr oder minder vager thematischer Verwandtschaften behauptet werden, ohne dass der Nachweis tatsächlicher Wirkung geführt wird. Die größere Gefahr ist, dass das, was nicht in Textform überliefert ist, als nicht zum Wissen gehörig wegfällt. Wo nichts mittels Schrift oder Bild aufbewahrt wurde, sind zwar Thesen zu Wirkungen spekulativ. Doch führt, wie das Wirtshaus-Beispiel zeigt, das Denken in Plausibilitäten zuweilen weiter als die Suche nach den Diskursen in der Welt verschriftlichten Wissens.

Dies indessen rührt vielleicht an die Grundlagen der eingangs skizzierten Erfolgsgeschichte: „Wissen“ ermöglicht es, in eine Welt des jemals Gedachten wegzutauchen und unbequeme Konkretionen im Materiellen zu vermeiden.

Titelbild

Maximilian Bergengruen / Roland Borgards (Hg.): Bann der Gewalt. Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2009.
583 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783835304635

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