Stimmen zum Glück
Der Züricher Philosoph Michael Hampe inszeniert eine polyphone Philosophie des „vollkommenen Lebens“
Von Oliver Pfohlmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGlücklich allein ist die Seele, die liebt, heißt es bei Goethe. Etwas nüchterner fiel die Definition von Irmgard Keun aus: Glück, das ist, „einem Menschen zu begegnen in den drei Minuten am Tage, wo er gut ist“. So viel und vor allem so viel Verschiedenes ist, von Platon bis Peter Lauster, zum Glück schon gesagt und geschrieben worden, dass man mit Wilhelm Schmid ausrufen möchte, man möge das 21. Jahrhundert doch bitte zum Jahrhundert des Schweigens über das Glück erklären.
Wenn schon, denn schon, dachte sich daher wohl Michael Hampe. Der Züricher Philosoph lässt in seinem neuen Buch gleich einen ganzen vielstimmigen Chor antreten, deren fiktive Vertreter von verschiedenen Ausgangspunkten zu unterschiedlichen Antworten auf die Frage gelangen, ob und wie ein vollkommenes, glückliches Leben möglich sei. Der Physiker etwa vertraut ganz dem wissenschaftlichen Fortschritt. Das Empfinden von Glück ist, wie die Hirnforschung heute zu wissen glaubt, nichts anderes als ein bestimmter neuronal-hormoneller Zustand. Und der ist manipulierbar. So wie man heute schon Kopfschmerztabletten oder Antidepressiva einwirft, wird eines Tages eine an die individuelle Bedürfnisstruktur angepasste Selbststeuerung der eigenen Emotionen möglich sein. „Wir werden zu Herren unserer Stimmungen, Affekte und Gedanken werden.“ Nötig ist dazu nur eine gewisse Reife im Umgang mit einem solchen „Affektoskop“, um nicht der Suchtgefahr zu erliegen.
Die Vertreterin eines spirituellen Weltverständnisses erinnert dagegen daran, dass wahres Glück nicht in der Jagd nach vergänglichen Lustmomenten bestehen kann. Sondern in der Befreiung von inneren Abhängigkeiten und dem Eintauchen in die Fülle der „lebendigen Gegenwart“ durch Fokussierung der Aufmerksamkeit, wie man es in den Meditationsschulen schon seit Jahrtausenden lernen kann. Aus Sicht der Psychoanalyse wiederum sind solche Verheißungen der Neo-Mystik wenig mehr als eine aussichtslose Suche nach der in der frühen Kindheit erlebten Totalumsorgung. Mit Freud, Hobbes und dem Holocaust-Überlebenden Imre Kertész als Kronzeugen, entlarvt die Stimme des Analytikers die Idee eines vollkommenen Lebens angesichts des nur schwer gebändigten menschlichen Aggressionstriebes als bloße Illusion.
Philosophische Gegensätze mit literarischen Mitteln auszutragen, steht in einer altehrwürdigen Tradition. Zu den vielen Vorzügen dieses wundervollen Buches gehört es, dass Hampe seine fiktiven Vertreter gerade nicht „vorführt“ oder gar ihre Positionen satirisch überspitzt. Vielmehr verleiht er ihnen in ihren als Einsendungen zu einem akademischen Wettbewerb getarnten Essays allesamt sympathisch ernsthafte, überzeugende Stimmen. Hampe ist die stilistische Mimikry so gut gelungen, dass man nicht nur die Fiktionalität seiner Figuren immer wieder vergisst: Am Ende erscheint einem auch das Nachwort des Autors nur als weitere Stimme einer klug inszenierten „polyphon zeigenden Philosophie“, die, unter Berufung auf den amerikanischen Philosophen Stanley Cavell, vor dem Leser ein ganzes Spektrum an Denk- und Lebensmöglichkeiten entfaltet und zum Studieren und Vergleichen der jeweiligen Voraussetzungen und Unterschiede, Gewinne und Verluste einlädt. Hinter dem kontrastierenden, aber nicht wertenden Nebeneinanderstellen dieser Stimmen steht kein billiger Relativismus, sondern die Einsicht, dass, so Hampe, „die Anerkennung von Differenzen die Grundvoraussetzung des Glücks ist und die Unfähigkeit, Differenzen zu akzeptieren, der erste Schritt ins Unglück.“
Daran leidet auch Hampes fiktiver Herausgeber, der ehemalige Sekretär der (fiktiven) Calenberger Akademie der Wissenschaften, Stanley Low – im Unterschied zu seinem Freund Gabriel Kolk, dem weisen Gärtner und Hausmeister dieser Akademie, von dem das Schlusskapitel stammt. Hätten Hampes fingierte Essays über das Glück allein schon ein bemerkenswertes Buch ergeben, so wird sein Buch zu einem auch literarischen Lesevergnügen durch die gelungene Spiegelung der diskutierten Vorstellungen vom vollkommenen Leben in einem zusätzlichen fiktionalen Rahmen.
Während Low im Vorwort in einer Mischung aus Trauer und Zorn von seinen Enttäuschungen über die akademische Philosophie, von seiner gescheiterten Uni-Karriere und seinem zerbrochenen Familienleben erzählt, handelt es sich bei dem Autodidakten Kolk um einen Menschen, der dem Glück schon recht nahe zu sein scheint. „Dass noch Menschen wie Kolk möglich sind“, schreibt Low voller Bewunderung, „die Bücher tatsächlich lesen und über sie nachdenken, die sie nicht lesen, um eine Rezension über sie zu schreiben oder aus vielen Büchern ein weiteres Buch zu machen, das sie dann in ihrer akademischen Karriere einen Schritt voranbringt, das hätte ich, bevor ich Kolk getroffen hatte, nicht für möglich gehalten.“
Kolks Beschreibung vom Tod seines unglücklichen Freundes Low kurz vor Drucklegung beim Klettern in den Schweizer Alpen – eine eindrucksvolle W. G. Sebald-Pastiche – endet in Reflexionen über die Heiterkeit, die in der bewussten „Standpunktlosigkeit“ liegen kann, die allein die Wahrnehmung der Welt und Mitmenschen in all ihrer Vielstimmigkeit und Komplexität ermöglicht. Ein solches Leben wäre nicht von Konkurrenz geprägt. Sondern von dem spielerischen Miteinander von Jazzmusikern, die keinen Sieger ermitteln, sondern nur sich wechselseitig überraschen und steigern wollen.
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