It’s all music
Alex Ross’ „The Rest is Noise“ – Musik im 20. Jahrhundert
Von Thomas Neumann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWie schreibt man ein erfolgreiches Buch? Man ist Musikkritiker des „New Yorker“, 1968 geboren und man heißt Alex Ross. Man kennt sich hervorragend in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts aus und ist inspiriert von einem kulturellen Gefüge, das aus verschiedenen, sich beeinflussenden und durchdringenden Stilen und Tendenzen besteht und in seiner Zusammenfassung „Musik“ genannt wird. Dabei ist es für Ross nicht von Bedeutung, ob es sich um E- oder U-Musik handelt. Es ist keine Geschichte der klassischen Musik oder des Pop, keine Untersuchung zum Jazz oder einer anderen separaten Musikrichtung. Ross hat sich schlicht und ergreifend die gesamte Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts als Darstellungsgegenstand ausgewählt. Eine gute Idee, die interessanterweise aber einen seltsamen „Nebeneffekt“ aufweist, der vor allem dem deutschsprachigen Kritiker seltsam erscheint.
Ross’ „The Rest is Noise“ ist ein Verkaufserfolg. Jetzt ist es in deutscher Übersetzung erschienen und es lässt sich das Gefühl nicht verdrängen, das ein Teil des Bucherfolges auf gewisse „antideutsche Affekte“ zurückzuführen sind. Dies sei kurz mit einigen Beispielen erläutert und mit dem Verweis versehen, das sich der Leser selbst davon überzeugen möge, inwiefern ihm diese weit über das Buch verstreuten „Anmerkungen“ bei der Lektüre stören. Wobei „stören“ eigentlich nicht der geeignet Begriff ist. „Irritieren“ wäre wohl die treffendere Bezeichnung.
Debussys „übersichtliche“ Auseinandersetzungen mit Richard Wagner, Helmut Lachenmann, ein Vertreter der „Avantgardisten der gnadenlosen Schule, die keine Gefangenen macht“, Anton Weber mit seinen „Sechs Stücken“ (1906) – alle sind sie für Ross der Beginn einer langen Reihe von Komponisten und Musikern, die einem „Jahrhundert die Melodien wegnahmen“. Sie stehen mit einer Musik im Zusammenhang, die einem Hörer wohl „nicht zur zweiten Natur werden kann“. Ein wenig Ironie ist da mit Mühe schon herauszuhören. Aber es sind diesbezügliche Zweifel angebracht, denn etwa die abenteuerlich konstruierten Verbindungen zwischen Hitler und Mahler gehören schon zu den rhetorischen Tiefpunkten des Buches. Auch wenn Ross zum Beispiel einen Abschnitt beginnt, indem er aus Thomas Manns „Zauberberg“ die Szene mit dem Grammofon und dem Plattenhören herausnimmt – übrigens eine sehr frühe Beschreibung eines „Plattenhörabends“ – und anmerkt, solche Vorführungen wurden auch von Hitler und Stalin geschätzt und damit den Inhalt eines solchen Musikabends – Wagner, Strauß und Wolf – „subtil“ diskreditiert, dann mag man bei solchen vulgärrhetorischen Argumentationsfiguren eigentlich nicht mehr weiter lesen.
Man könnte vermuten, Ross nutzt die populistischen Anspielungen auf und Analogien zu Nazi-Deutschland für Marketingzwecke. Nun denn, die auf 700 Seiten verteilten Anspielungen sind nicht überproportional vertreten, aber da ist es wie mit einem Dutzend Druckfehler in einem Buch – ja, es sind mehr Wörter richtig geschrieben als falsch, aber es wirkt doch störend und lässt an der Qualität der Gedankengänge und deren Ergebnissen zweifeln. Trotzdem gelingen Ross interessante, zusammenfassende und ungewöhnliche Perspektiven auf die Musik des 20. Jahrhunderts. Eine Vielzahl an Informationen bleibt nach der Lektüre dem Leser erhalten. Sie lassen sich mit einer ebensolchen Anzahl an Hörerlebnissen – Ross‘ Empfehlungen folgend – verbinden. Weitere, sehr nutzbringende Hinweise sind dabei auf der Webseite zum Buch zu finden. Ebenso erkenntnisreich ist der Abschnitt am Ende des Buches „Hör- und Lesevorschläge“. Auch das ein ordentliches Register den Band erschließt, soll nicht verschwiegen werden. Trotzdem ist das Buch mit den genannten „Argumentationslinien“ eine Enttäuschung und eigentlich sogar ein Ärgernis, weshalb der Blick auf die erkenntnisreichen Abschnitte leicht verstellt erscheint.
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