Eine spekulative „Metapsychologie“ des Sarkasmus

Burkhard Meyer-Sickendieks Habilitation analysiert die Seele jüdischer Sarkasten und lässt sich im Feld der interdisziplinären Emotionsforschung verorten

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die rhetorische Figur des Sarkasmus hatte von der Antike bis zum Humanismus einen präzise zu bestimmenden Ort in der Rhetorik. Während Sarkasmus in Quintilians (35-96 nach Christus) Lehrbuch über den Redner als eine der Figuren aufgeführt wird, die aus dem griechischen Begriff der „eironeia“ hervorgingen, und mit „illusio“ als Verspottung übersetzt wurde, wird sie von dem Humanisten Julius Caesar Scaliger (1484-1558) in seinen erst postum veröffentlichten sieben Büchern über die Dichtkunst „Poetices libri septem“ 1561 aus der Rhetorik ausgeschlossen. Vor dieser an den Anfang seiner Studie gestellten historischen Klammer stellt Burkhard Meyer-Sickendiek die von ihm selbst als „vollmundig“ charakterisierte Überlegung an, seit diesem Ausschluss aus der Figurenlehre hätte der Sarkasmus weder in der Rhetorik noch in der Literaturwissenschaft je wieder einen theoretischen Ort finden können. Mit seiner Studie nimmt Meyer-Sickendiek nun eine solche Platzanweisung vor.

Der prägnante Titel der Studie verspricht eine Untersuchung des literarischen Sarkasmus im Rahmen der deutsch-jüdischen Moderne. In Einleitung und Klappentext ist die Rede davon, dass es sich um die erste größere Studie zu diesem Gegenstand handle. Dort findet sich auch die durchaus rätselhafte These, erst mit der Einwanderung ostjüdischer Autoren im 19. und frühen zwanzigsten Jahrhundert sei ein genuin literarischer Sarkasmus in der deutschsprachigen Literatur entstanden. Es mag ohnehin verwundern, dass der problematische Zuschreibungsbegriff „ostjüdisch“ hier herangezogen wird, der seine historische Genese im 19. Jahrhundert hatte. Denn so lässt die Aufzählung der genannten Autoren von Ludwig Börne, Heinrich Heine, Daniel Spitzer, Alfred Kerr oder Karl Kraus bis zu Kurt Tucholsky oder Alfred Döblin die These von der „ostjüdischen Einwanderung“ schlicht als irreführend erscheinen. Dahinter steckt die generalisierende, historisch wenig informierte Vorstellung, bei den von Meyer-Sickendiek behandelten Autoren handle es sich – mit Ausnahme des von sephardischen Juden abstammenden Elias Canetti – durchweg um die Nachfahren „kulturell deutsch-geprägter Aschkenasen aus Mittel- und Osteuropa“, wie in seiner Studie zu erfahren ist. Gemeint ist also nicht die Einwanderung der Autoren, die ja schon da waren, sondern eine kollektiv unterstellte Zuwanderung von irgendwelchen Vorfahren der besagten Autoren, die allerdings bei den wenigsten erst im 19. Jahrhundert stattfand. Diesem Zugehörigkeitsmodell wird angesichts von dessen offensichtlicher Unzulänglichkeit allerdings, wie sich zeigen wird, relativ viel Bedeutung beigemessen.

Meyer-Sickendiek, der 2005 schon eine Studie zur „Affektpoetik“ veröffentlichte, legt hier nun eine leicht überarbeitete Fassung seiner im Sommersemester 2008 von der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München angenommenen Habilitationsschrift vor. Beide Studien stehen in einem Zusammenhang, insofern sie sich auf die Frage nach den von Literatur hervorgerufenen und in Literatur kodierten Affekten beziehen. Damit lässt sich Meyer-Sickendieks Forschung auch im aktuellen Feld der interdisziplinären Emotionsforschung verorten. So erklärt es sich auch, dass er sich für den Sarkasmus als ein in psychologischer und soziologischer Hinsicht komplexes Phänomen interessiert. Er geht davon aus, dass dem Sarkasmus eine von Aggression geprägte Intention zu Grunde liege und ihm im Gegensatz zur Ironie nicht nur eine semantische sondern auch eine moralische Ambivalenz eigne. Die drei von ihm unterschiedenen Modi Provokation, Agitation und Kompensation gelten ihm als die drei Formen des „Funktionswerts“ von Sarkasmus, auf die sich alle sarkastischen Texte der literarischen Moderne jeweils beziehen ließen. Auf dem Hintergrund dieser Vorannahmen gelangt er zu der normativen Einschätzung, der Sarkasmus wirke „zersetzend“, wobei Meyer-Sickendiek bewusst daran erinnert, dass es sich um ein „Unwort“ handle; allerdings ändert das nichts an der Tatsache, dass er dessen Bedeutungsgehalt zur Beschreibung des Phänomens nutzt: „Der Sarkasmus zerstört soziale, kulturelle und moralische Werte. Er zerbricht und schwächt den kollektiven Frieden, die kulturelle Harmonie und den sozialen Zusammenhalt.“ Obendrein will er den Sarkasmus „von der versöhnlichen Heiterkeit des literarischen Humors“ deutlich unterschieden wissen. Von Beginn an zeigen sich dabei die Fallstricke einer Fragestellung, die auch die gesellschaftspolitischen Folgen von Literatur analysieren will, dabei mit zum Teil fragwürdigen Zuschreibungen („ostjüdisch“/ „zersetzend“) operiert und nicht zuletzt an einem antisemitischen Stereotyp ansetzt, um dieses „auf seinen Wahrheitsgehalt hin“ zu befragen. Wenn Meyer-Sickendiek zu begründen versucht, warum er am Gegenstand des Sarkasmus einen Beitrag zur Erforschung der deutsch-jüdischen Moderne leisten will, setzt er bereits ein Geflecht von disziplinenübergreifenden Thesen voraus. Zwar weist er das zum Beispiel im „Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm“ in der Ausgabe von 1877 festgehaltene ethnische Stereotyp zurück, wonach der „Judenwitz“ definiert wird als „stachlichter, bissiger witz, wie er vorzüglich den juden eigen“ sei, womit in antijüdischer Diktion ein Zusammenhang zwischen Sarkasmus und Juden hergestellt wird.

Meyer-Sickendiek ersetzt dies allerdings durch die stereotype Annahme, durch die „jüdische Sozialisation“ im 19. und 20. Jahrhundert seien Voraussetzungen geschaffen worden, „die für die Bildung eines sarkastischen Witzes als literarischer Form wesentlich“ waren. Während in dieser Verallgemeinerung unklar bleibt, was eventuell mit Hilfe von Sozialisationstheorien, die allerdings nicht berücksichtigt werden, für die Entstehung und Verwendung einer spezifischen literarischen Form gewonnen werden könnte, kann er dagegen plausibel zeigen, dass innerhalb der deutschen Literaturkritik und Literaturgeschichte die Zuschreibung von Sarkasmus bis 1945 tendenziell eine negative, antisemitische Stigmatisierung bedeutete, während nach 1945 das Attribut „sarkastischer Witz“ häufig zur positiven Auszeichnung eines Autors herangezogen wird.

Mit Hilfe eines an Judith Butlers „Excitable Speech. A Politics of the Performative“ (1997) entwickelten diskursiven Verständnisses von Sarkasmus, auf das Meyer-Sickendiek verschiedentlich in seiner Studie rekurriert, versucht er die Wechselwirkung von Sarkasmus als eines literarischen Verfahrens und als Stereotype zu verstehen. Zu dieser Wechselwirkung zählt er auch das Verhältnis von Antisemitismus und Sarkasmus, das zu den durchgängigen Fragen seiner Arbeit zählt: „Welche ursächliche Rolle spielte der Sarkasmus bei der Entstehung des gründerzeitlichen Antisemitismus?“ Aus den antisemitischen Polemiken etwa des Hofpredigers Adolf Stoecker (1835-1909) meint er „einen direkten Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Etablierung der jüdischen Bevölkerung und dieser Genese des Antisemitismus“ herauslesen zu können. Mit anderen Worten, weil es einer Reihe von deutsch-jüdischen Autoren gelungen ist, sich als Feuilletonisten zu etablieren, entsteht in Reaktion darauf der gründerzeitliche Antisemitismus, auf den wiederum deutsch-jüdische Autoren mit Sarkasmus reagieren. An anderer Stelle ist von der unübersehbaren Verschärfung des Antisemitismus im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts die Rede, ohne den Sarkasmus hier jedoch zur Begründung heranzuziehen. Gleich zwei Mal in seiner Studie diskutiert Meyer-Sickendiek die Frage, ob der auch gegen die Sozialdemokratie gerichtete politische Sarkasmus eines Kurt Tucholsky zur Schwächung der Weimarer Republik beigetragen habe. Diese Anfang der 1960er Jahre unter anderem von Kurt Sontheimer, Golo Mann und Paul Sethe gegen Tucholsky vorgebrachten Anschuldigungen weist Meyer-Sickendiek zwar zurück. Trotzdem heißt es resümierend im letzten Kapitel seiner Studie, der literarische Sarkasmus habe zwar einerseits zur wichtigen Modernisierung der deutschen Literatur geführt, andererseits „aber auch zur Eskalation des Antisemitismus sowie zu der so überaus folgenschweren Stärkung der politischen Ränder in der Spätphase der Weimarer Republik beigetragen“.

Die Ambivalenzen der Studie lassen sich teilweise aus dem ambitionierten Ansatz erklären, verschiedene theoretische Modelle und wissenschaftliche Felder zu verbinden, ohne diese jedoch zu einer gelingenden Synthese zusammenzuführen. So folgt im Kapitel zur Theorie des Sarkasmus auf eine zweifellos gelehrte und beindruckende Übersicht über die rhetorische Figur des Sarkasmus von der Antike bis zur deutschsprachigen Literatur um 1800 herum ein knapper Versuch, die „deutsch-jüdische Moderne“ durch Assimilation, Konversion, den Antisemitismus und die Literatur zu beschreiben, so dass die Begriffsgeschichte des Sarkasmus als einer „Transformation dieser Trope von der Rhetorik hin zur Literatur“ darin einmündet. Mindestens stellt sich die Frage, ob nicht auch von nichtjüdischen Autoren sarkastische Texte verfasst wurden, deren Analyse die allzu glatte Hypothese von der Zerrissenheit konvertierter deutsch-jüdischer Autoren als Vorbedingung für das Verfassen sarkastischer Literatur hätte relativieren können. Das drängt sich schon deshalb auf, weil Meyer-Sickendiek die Nichtjuden Karl Gutzkow und Ferdinand Kürnberger in seine Liste jüdischer Sarkasten umstandslos einreiht. Vermutlich würde obendrein auch die Analyse von literarischem Antisemitismus allerlei Sarkasmus zu Tage fördern.

Schließlich geht es Meyer-Sickendiek in seiner „metapsychologischen“ Definition des Sarkasmus darum, die aus der griechisch-byzantinischen Antike geprägte Begriffsbestimmung „durch eine psychologische Perspektive“ zu erweitern. Hier entwickelt der Autor nun im Rückgriff auf Norbert Elias und Sigmund Freud eine weitreichende und spekulative Theorie, in der die Internalisierung von Aggression zu einer der Grundfiguren dieses psychologisch perspektivierten Verständnisses von Sarkasmus gerät. Die Gemeinsamkeit der von ihm in der deutsch-jüdischen Moderne beobachteten Aktualisierungen von Polemik, Satire und Groteske als Formen des literarischen Sarkasmus bestimmt Meyer-Sickendiek in den satirisch-publizistischen „Weltvernichtungsideen“, die mit Heinrich Heine (1797-1856) in die deutschsprachige Literatur Einzug gehalten hätten. Hinter den Poetologien der Autoren dominierten „Phantasien der Selbst- und Fremdaggression, welche als psychische Dynamiken“ erkennbar blieben. Da mag es dann nur konsequent erscheinen, wenn auch die „Seele der Sarkasten“ als Untersuchungsobjekt einbezogen wird.

Auch wenn insbesondere die einzelnen Autoren gewidmeten Kapitel mit zum Teil recht ausführlichen Relektüren unter anderem von Karl Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“, von Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ oder Kurt Tucholskys „Deutschland, Deutschland über alles“ philologisch gründliche Texte unter Einbeziehung der Forschungsliteratur und fokussiert auf das literarische Verfahren des Sarkasmus darstellen, vermag die Gesamtkonstruktion der Studie nicht recht zu überzeugen. Zu sehr verwischt in der psychologischen Perspektive immer wieder die Grenze zwischen historisch-diskursiver Konstruktion und analytischem Kommentar. Meyer-Sickendieks Versuch einer Rekonstruktion der durch die Ermordung der europäischen Juden zumindest in Deutschland weitgehend abgebrochenen Tradition des Sarkasmus scheitert vermutlich nicht zuletzt daran, dass er sich dabei, wie er schreibt, „in des Teufels Küche, d.h. in die Stereotypenbildung des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts“ begeben hat.

Titelbild

Burkhard Meyer-Sickendiek: Was ist literarischer Sarkasmus? Ein Beitrag zur deutsch-jüdischen Moderne.
Wilhelm Fink Verlag, München 2009.
616 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-13: 9783770544110

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