Die fünfte Anthologie zum Raabe-Literaturpreis

Hubert Winkels wirbt für Preis, Preisträgerin und Namensgeber

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wilhelm Raabe (1831-1910) zählt mittlerweile längst zu den kanonischen Autoren des bürgerlichen beziehungsweise poetischen Realismus. Das war nicht immer so. Zu seinen Lebzeiten wurden insbesondere die Texte seines Spätwerks kaum gelesen, die heute gerade seinen Ruf als eines modernen Autors begründen. Dagegen hatte ihm neben seinem Erstling „Die Chronik der Sperlingsgasse“ (1857) vor allem der an Gustav Freytags „Soll und Haben“ (1855) orientierte, antisemitische Roman „Der Hungerpastor“ (1864) breite Zustimmung eingebracht.

Inzwischen kann sich eine interessierte Öffentlichkeit leicht einen Einblick in das vielschichtige literarische und zeichnerische Werk Raabes verschaffen. In den aktuelleren literaturwissenschaftlichen Einführungen zum Realismus von Sabina Becker „Bürgerlicher Realismus“ (2003) oder Hugo Aust „Realismus. Lehrbuch Germanistik“ (2006) werden jeweils mehrere seiner Texte besprochen. 2006 wurde ein text+kritik-Band zu Raabe veröffentlicht – und das seit 1960 erscheinende „Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft“ bildet seit einem halben Jahrhundert ein wichtiges Forum der Raabe-Forschung. Seit 1994 liegt auch die auf zwanzig Bände plus fünf Ergänzungsbände angelegte Braunschweiger Ausgabe der Sämtlichen Werke Wilhelm Raabes vollständig vor, mit deren Edition bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen wurde.

Bei dem Wilhelm Raabe-Literaturpreis handelt es sich also um eine Einrichtung, die durchaus auf das etablierte literarische Ansehen des mit ihm verbundenen Namens setzen kann. Zuletzt erhielt ihn Katja Lange-Müller im Jahr 2008 für ihren Roman „Böse Schafe“. Seit dem Jahr 2000 wird der mit 25.000 Euro dotierte Preis neu verliehen, nachdem die Auszeichnung von 1944 bis 1990 in Braunschweig und abermals in anderer Form bereits früher vergeben worden war. Anfang der 1990er-Jahre wurde der Preis jedoch vorübergehend „wegen zu geringer Popularitätsquote“ ausgesetzt, wie Sigrid Thielking in ihrem Vorwort zu den „Raabe-Rapporten“ vermutet.

Die bisherigen Preisträger der neuesten Phase heißen Rainald Goetz, Jochen Missfeldt, Ralf Rothmann sowie Wolf Haas. Zu den Besonderheiten des Preises zählt, dass keine Gesamtwerke sondern jeweils einzelne Romane ausgezeichnet werden. Und: das „Ereignis“ der Preisverleihung sowie dessen „Folgen“ werden jeweils, nun schon zum fünften Mal, in einem schmalen, etwa 150 Seiten starken, gebundenen und solide lektorierten Buch dokumentiert. Was freilich zu den im Untertitel benannten Folgen der Preisverleihung zu zählen ist, bleibt eher unbestimmt, zumal die in den Band aufgenommenen diversen Grußworte, die Laudatio oder der Text der Verleihungsurkunde unmittelbarer Bestandteil des Ereignisses sind, während ein literaturwissenschaftlicher Aufsatz zu Wilhelm Raabes „Pfisters Mühle“ eigentlich weder dem einen noch dem anderen zugeordnet werden kann.

Etwas unklar erscheint, was eigentlich den Gegenstand eines solchen Buches ausmacht, das sich zur Aufgabe setzt, eine Preisverleihung zu dokumentieren. Und eine gewisse Ratlosigkeit stellt sich schließlich ein, wenn auch noch gefragt wird, wie die Umsetzung einer solchen Dokumentationsaufgabe in einer Besprechung angemessen gewürdigt werden kann. Vor allem zu bewerten wäre wohl die Frage, ob eine Buchausgabe über die Preisverleihung zur Popularisierung von Preisträgern und Namensgeber beitragen kann. Das Buch versammelt situative Gelegenheitstexte, ein Gespräch sowie einige Aufsätze, von denen die ersteren als Bestandteil der Preisverleihung Bedeutung besitzen, nachgedruckt allerdings nur bedingtes Interesse hervorzurufen vermögen.

Zu besprechen scheinen daher im konkreten Fall zwei germanistische Aufsätze und die Laudatio auf Katja Lange-Müller. Zusammengehalten wird das alles, wie Hubert Winkels in seinem „verschmitzten“ Vorwort ausführt, von der Geschichte des jeweiligen Preisträgers beziehungsweise im Falle Katja Lange-Müller: der ersten Preisträgerin. Zur Kohärenz trägt immerhin bei, dass zwischen der Preisträgerin und Wilhelm Raabe Korrespondenzen zu entdecken sind.

Mit der Ablehnung der Erzählung „Pfisters Mühle. Ein Sommerferienheft“ endete nach beinahe dreißig Jahren Raabes Zusammenarbeit mit dem Westermann Verlag. Nachdem auch der Herausgeber der „Deutschen Rundschau“ Julius Rodenberg von einer Veröffentlichung absah, konnte sie schließlich 1884 in den „Grenzboten“ erscheinen. Die doppelte Niederlage des Autors wurde in der Raabe-Forschung als Krise gedeutet. In seinem Aufsatz „Geist, Gift und Geschäft in ‚Pfisters Mühle‘“ geht der in Basel am Deutschen Seminar lehrende Ordinarius Alexander Honold allerdings nicht auf werkbiografische Fragestellungen ein. Stattdessen untersucht er diese, sicher zu den bekanntesten Raabe-Texten zu rechnende Erzählung ausgehend von dem im Titel bereits aufgerufenen „locus amoenus“, des idyllischen, am Wasser gelegenen Fleckchens Erde. Mit dem Titel biete der Text aber noch mehr, nämlich Namen und Sache zugleich, also eine literarische Kunstübung und eine Mühle am Bach. Ebenso wie „Pfisters Mühle“ als Schauplatz und Gegenstand sowie als literarischer Text nicht voneinander zu trennen seien, unterhalte die Erzählung auch noch ein von Anfang an mitlaufendes Literaturgespräch mit vorausliegender Literatur und benachbarten Textsorten. Das so von Honold herausgearbeitete reflexive Verhältnis des Textes zu seiner eigenen Machart vertieft er vor dem Hintergrund von Schillers bekannter geschichtsphilosophischer Schrift „Über naive und sentimentalische Dichtung“ (1795). Schillers wirkungsmächtige Bestimmung der Gattungsoptionen „naiver“ und „sentimentalischer“ Literatur eigne sich in besonderer Weise zur „Kartographie“ des „literarischen Feldes“ poetischer Realismus. Einleuchtend erscheint Honolds Interpretation, den Text als „eine diagnostische Bestandsaufnahme des technisch-industriellen Wandels und seiner Folgen“ zu lesen, der nicht als Anklage sondern als Einsicht in den „ökologisch wie ökonomisch“ plausiblen Kreislauf der Dinge zu verstehen sei.

Während Honolds Aufsatz keinen Brückenschlag zur Literatur der Preisträgerin Katja Lange-Müller unternimmt, versucht Christof Hamanns und Oliver Rufs Beitrag „Kommunikation mit den Toten“ genau das. Den Ausgangspunkt bildet die Beobachtung, dass Raabes „Die Akten des Vogelsangs“ (1896) und Lange-Müllers „Böse Schafe“ (2007) jeweils als Aufzeichnungen entworfen seien, die von ihren Erzähler(inne)n einige Zeit nach dem Tod einer ihnen nahestehenden Figur angefertigt wurden. In ihrer Analyse stellen die beiden Autoren die Besonderheit schriftlicher „Trauerarbeit“ ins Zentrum, wobei sie ungeachtet der Differenz zwischen der „Aktenform“ (bei Raabe) gegenüber dem „Brief an einen Toten“ (bei Lange-Müller) die in den Texten reflektierte Ambivalenz schriftlichen Totengedenkens aufzeigen. Die bei Raabe und Lange-Müller gleichermaßen spukenden Gespenster deuten sie als Resultat „des medial-kommunikativen Erinnerungsaktes, deren Medien sie gleichzeitig leiten“. Tatsächlich gelingt dem Aufsatz eine wechselseitige Erhellung beider Texte und damit eine erfreuliche Aktualisierung Raabes, bei der sich gleichzeitig auch die Modernität von Lange-Müllers Roman erweist.

In Ijoma Mangolds Laudatio auf Katja Lange-Müller steht neben persönlichen Erinnerungen und Anekdoten die alte Gattung der Tierparabel im Zentrum, da in Lange-Müllers Texten von Tiervergleichen ausgiebig Gebrauch gemacht werde. Zunächst entwickelt Mangold aus einer Reminiszenz die Verbindung dreier „Lieblingsthemen“ der Autorin, nämlich „das Kulinarische, das Zoologische und das DDR-Soziologische“. Ein Erzählungsband aus dem Jahr 2003 trägt den Titel „Die Enten, die Frauen und die Wahrheit“, an dessen titelgebender Erzählung Mangold jedoch gerade die Entfernung von der gattungstypischen Moral der Tierparabel herausstellt: so kollabiere der Vergleich von Menschen mit Erpeln gerade „wegen letzlicher Ununterscheidbarkeit“. Der Erpel in der Geschichte dient als Projektionsfläche unterschiedlicher Deutungen. Und ähnlich verhält es sich mit dem verstorbenen Harry aus „Böse Schafe“, über den niemand etwas Substantielles erfahre. Dennoch hielten ihm alle die Treue, weil er sich anscheinend als Objekt diverser Projektionen anbiete. Insbesondere gilt das für Soja, eine in den 1980er-Jahren eben aus der DDR nach West-Berlin ausgereiste Frau, die Harry auf der Straße kennen lernt. Die Deutungsfigur der „atemberaubenden Asymmetrien“, mit der Mangold seine Laudatio überschrieben hat, bezieht sich vor allem auf diese im postumen Brief an den Toten, also der literarischen Konstruktion des Romans, erinnerten Vertrauensbeweise der Ich-Erzählerin. So konstruiert der Roman eine Wirklichkeit, in der auch einer, der wie Harry lügt, betrügt und treulos ist, für eine andere Person zum Liebesobjekt werden kann. Oder, mit dem letzten Satz der Laudatio gesprochen: „Auch im bösen Schaf ist immer noch das Lamm Gottes zu greifen“.

Im Sinne der eingangs geschilderten Schwierigkeit ein Buch zu besprechen, dessen primärer Zweck in der Popularisierung eines Literaturpreises steckt, lässt sich nach seiner Lektüre immerhin attestieren, dass es dieser Zielsetzung insofern gerecht zu werden weiß, als es sowohl Neugierde weckt, wieder Texte von Wilhelm Raabe zu lesen als sich auch mehr mit dem Werk der Berliner Autorin Katja Lange-Müller zu beschäftigen. Im Herbst 2010 wird die Auszeichnung erneut vergeben.

Titelbild

Hubert Winkels (Hg.): Katja Lange-Müller trifft Wilhelm Raabe. Der Wilhelm Raabe-Literaturpreis. Das Ereignis und die Folgen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2009.
150 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783835305304

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