Das Menschenwerk fügt sich den Formeln nicht

Mit dem Roman „Lachmunds Freunde“ liegt Karl Mickels Vermächtnis vor

Von Christoph JürgensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Jürgensen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den großen Erwartungen, die nach dem politischen Ende der DDR nicht erfüllt wurden, zählte die Hoffnung darauf, dass nun die Schubladen der ostdeutschen Schriftsteller geöffnet und lange versteckte Manuskripte hervorgeholt würden. Nur Reinhard Jirgl konnte Text um Text aus einer offenkundig gut gefüllten Schublade ziehen und veröffentlichen, wie seine gewaltige, zwischen 1985 und 1990 entstandene Trilogie „Genealogie des Tötens“. Und von Karl Mickel, der sich als Lyriker der sogenannten „Sächsischen Dichterschule“ einen Namen gemacht hatte, erschien 1991 im Rahmen seiner Werkausgabe im Mitteldeutschen Verlag der erste Teil seines einzigen Romans, „Lachmunds Freunde“, an dem er seit Anfang der 60er Jahre immer wieder geschrieben hatte – im Gegensatz zu Jirgls düsteren Verfallsgeschichten der DDR blieb der Roman allerdings weitgehend unbeachtet, wie Mickel selbst fast unbekannt ist.

Nun bietet sich die Gelegenheit zur Neu- oder Wiederentdeckung Mickels, dessen Werk Friedrich Dieckmann einmal als „eines der prägnantesten deutscher Sprache“ gefeiert hat. Klaus Völker hat „Lachmunds Freunde“ im Wallstein Verlag erneut herausgebracht, ergänzt um den Fragment gebliebenen zweiten Teil des Romans, an dem Mickel bis zu seinem Tod im Jahr 2000 gearbeitet hat und um die schon 1962 entstandene „Lachmund-Novelle“ sowie Paralipomena zu aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen, allgemein poetologischen Reflexionen und vor allem Gedanken zum Romanprojekt: „Wahrscheinlich wird L II nicht fertig werden. Darum keine Panik. Aber auch keine Nachlässigkeit. Es ist unwichtig, wie viel noch fixiert wird. Nur muß der letztgeschriebene Satz gut sein“, liest man dort etwa als gelassene Erkenntnis angesichts seiner Krankheit in diesen Gedankensplittern, die erst in seinem Todesmonat abbrechen mit der Notiz: „ob ein Wessi das versteht? Antwort: sollte es einen Wessi geben, der Jean Paul versteht, der versteht das.“

Gleich der Auftakt des Romans erhellt, woher Mickels Skepsis rührt, und er deutet an, warum ausgerechnet Jean Paul als Bezugspunkt genannt wird. „Erzählt wird die Geschichte dreier Männer; ihre Lebenswege streben auseinander, dennoch bleiben sie Freunde. Der eine heißt Bär, der andere Günter Hammer, der dritte Eckart Immanuel Lachmund. Merkwürdige Frauen und rührende Mädchengestalten streifen und kreuzen ihre Bahn oder schwenken auf sie ein. Jede dieser Personen ist selbst wieder Zentrum eines beweglichen Kreises. Wo treffen sie zusammen, die Dreie? Dort, wo der Luftkreis zu stocken scheint, im Auge des Taifuns, am Ort, da die Wirbelstürme untersucht werden.“

Gleich drei Hauptfiguren weist der Roman also auf, die allesamt Spiegelungsfiguren ihres Autors sind, gleich drei narrative Kerne, die jeder für sich ein relativ eigenständiges erzählerisches Gravitationszentrum darstellen, an das weitere Erzählungen angelagert sind – oder mit Blick auf Jean Paul formuliert: Es wird nicht gradlinig erzählt, sondern eine Digression, eine Abschweifung geht über in die nächste, und nur an gelegentlichen Schnittpunkten des Textes treffen die auseinanderlaufenden Erzählfäden wieder zusammen, um dann erneut in unterschiedliche Richtungen zu führen.

Immerhin lässt sich der Auftakt dieses Konglomerats aus Geschichten zeitlich und örtlich noch festmachen: Bär reist im D-Zug von „D*** nach der Hauptstadt B***“, hinter der sich unverkennbar Berlin verbirgt, um dort ein Studium aufzunehmen, und erinnert sich an den 17. Juni 1953. Ausgerechnet an diesem historischen Datum wollte er in die Oper, in „Don Giovanni“, hatte seinen besten Anzug angezogen und alle Orden und Abzeichen angelegt. Schnell gerät er in tumultuarische Auseinandersetzungen und in eine Schlägerei, weil er naiv schlichten will, und „sah die Welt vor Fäusten nicht“. Aber dieser Schlüsseltag der DDR-Geschichte wird dann nicht zu Ende erzählt, sondern verliert sich in einer Digression – und so bestätigt sich das eingangs angedeutete erzählerische Verfahren des Romans gleich in seiner ersten Episode. Es wird dem Leser unmissverständlich demonstriert, dass er weder eine realistische Geschichtsstunde noch überhaupt eine zusammenhängende Fabel erwarten darf: Denn Bär wird, nachdem er seine ruinierte Garderobe gewechselt hat, in eines der „Aufklärungslokale“ abgeordnet, um das „Objekt“ zu verteidigen. Statt allerdings diesen Auftrag zu erfüllen, referiert er seitenlang die erfundene Rezension zu einer erfundenen Studie Friedrich Dieckmanns über Don Giovanni.

Immer wieder schweift der Roman in der Folge in solche Exkurse ab. Dem titelgebenden Immanuel Lachmund etwa, einem begabten Boxer, der sogar den deutschen Meister Schugaschwili schlägt, am Tag des Sieges aber zusammenbricht und als Tuberkulosekranker in ein Heim für Rekonvaleszente eingeliefert wird, schreibt Mickel vier kleine Essays über Goethe zu, die bereits 1968 unter dem Titel „Die Entsagung“ in der Zeitschrift „Sinn und Form“ erschienen waren. Und er zitiert aus erfundenen und realen Nachschlagewerken und Lehrbüchern (etwa über Tischtennis, Boxen oder Rennradtraining), wechselt die Perspektiven und Erzählverfahren, zwischen fantastischem und dokumentarischem Realismus, springt zwischen den Zeitstufen hin und her und lässt sogar eine Archäologin auftreten, Barbara Itschenthal, die 1772 Persepolis ausgegraben haben will.

Viele Passagen sind dabei nicht nur von grotesker Komik, sondern geradezu albern – aber Mickel wollte ja „Ehrenbürger von Calau“ werden, wie die Notizen verraten. In dieser wilden Gemengelage spricht sich die skeptische Haltung Mickels gegen homogenisierende Meta-Erzählungen und auch dagegen aus, die Geschichte als teleologischen Prozess zu verstehen oder zu (re)konstruieren. Ausdrücklich antwortet der Roman mit der IX. These von Walter Benjamins „Über den Begriff der Geschichte“ auf jeden Fortschrittsoptimismus: Allegorisch gefasst wird die Historie in den „Engel der Geschichte“, der „das Antlitz der Vergangenheit zugewendet“ hat. „Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“ Und vom Paradies her wehe ein Sturm, der ihn unaufhaltsam in die Zukunft treibe, „während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

Und so scheint nur folgerichtig, dass der erste Teil dieser geschichtspessimistischen, anarchischen Mixtur der Gattungen, Redeweisen und Stillagen nicht in einen harmonisierenden, alle Fäden zusammenbindenden Schluss mündet, sondern mit einer beißenden Aufklärungskritik einfach unvermittelt abbricht: „Bahnhof Ostcrux […] Vorbey, vorbey. Jeder Fuß ist jedes Fußes Fußfessel, Hauch quirlt Hauch. Vernünftige Wesen; § 7; dreh und wende dich so, daß die Maxime deines Willens et cetera.“

Das zweite Buch des Romans ist nur lose mit dem ersten verbunden, deutlich verändert ist das Setting: Jahrzehnte sind verstrichen, und die Handlung spielt nun in einem fiktiven Königreich Sachsen, einer von Walter Ulbricht aus strategischen Gründen genehmigten Enklave. Aber das Personal hat sich in diesen zweiten Teil gerettet, ebenso wie das mäandernde Erzählen. So gehen beispielsweise magisch-realistische Schilderungen von Lachmunds Leben als Hofrat und ein Wiedersehen mit Bär in seinem vornehmen Dienstsitz, seiner Amtsgeschäfte und der erotischen Vorteile, die die „Clubkarte für das Gynäkeum“ mit sich bringt, unvermittelt über in den burleske Lebenslauf von Wolf-Dieter Irrgang Esq, der Consul oft the German Democratic Republic in der Südsee ist. Und auch in das zweite Buch sind kulturgeschichtlich weit ausgreifende Essays montiert, so Lachmunds Studie über „Naturform und Menschenwerk. Ein Versuch, den gegenwärtigen Begriffsinhalt des Wortes „Landschaft“ zu bestimmen.“

Von wunderbarer Beiläufigkeit und Nüchternheit ist dann der „letztgeschriebene“ Satz, den Mickel schreiben konnte, ja er wirkt fast wie ein ironischer Kontrapunkt zur narrativen Zügellosigkeit des Romans insgesamt: „Der Linienrichter hatte die Pudelmütze über die Ohren gezogen; die Gegenseite ward vom Schiedsrichter mitbetreut: laut DFB-Spielordnung war das für Pflichtspiele im Jugend- und Juniorenbereich sowie der Männer-Kreisklassen 2 und 3 zulässig.“

Nicht immer fällt es leicht, all den Sprüngen des ausufernden Romans zu folgen, und gelegentlich wird sich der Leser mehr Überblick über den Erzählzusammenhang, mehr Kohärenz und weniger Textbaustelle wünschen. Aber im Sinne einer Selbstbeschreibung des Romans kann es vielleicht nur so gehen, denn: „Das Menschenwerk fügt sich den Formeln nicht. Es sträubt sich mit Händen und Füßen. Auf eine elegante Lösung dürfen wir nicht hoffen. Ich will aber versuchsweise zusammentragen, was über den Kasus allenfalls gegenwärtig gedacht werden könne.“

Titelbild

Karl Mickel: Lachmunds Freunde. Roman. Erstes und Zweites Buch.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
600 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-10: 3892449996
ISBN-13: 9783892449997

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch