Wahnsinniger oder Messias?

Hubert Lampo schickt uns in „Die Ankunft des Joachim Stiller“ auf die Suche nach einem mysteriösen Unbekannten

Von Susan MahmodyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susan Mahmody

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An einem sonnigen Sommertag sitzt der Journalist Freek Groenevelt über eine Studie zu Franz Kafka gebeugt in seinem Stammcafé, als laute Geräusche aus der Nachbarstraße seine Ruhe stören. Arbeiter sind damit beschäftigt, in der Kloosterstraat Pflastersteine aus der Straße zu stemmen, um diese sogleich wieder an derselben Stelle einzusetzen. Um die Sinnlosigkeit dieser straßenbaulichen Maßnahme zu kritisieren, verfasst Groenevelt einen Artikel, der bereits einige Tage nach seinem Erscheinen durch einen Leserbrief kommentiert wird. In der Kloosterstraat hätte es gar keine Baumaßnahmen gegeben, was den aufgebrachten Leser zur Konklusion bringt, dass der Verfasser des Artikels wohl nicht ganz bei Sinnen sei. Von diesen Anschuldigungen erschüttert, sucht Groenevelt den Stadtbaurat auf, der ihm gesteht, diesen Brief selbst geschrieben zu haben, um den Journalisten zu sich zu locken. Seltsame, unerklärliche Dinge ereigneten sich in letzter Zeit, wovon sich ab diesem Zeitpunkt auch Groenevelt überzeugen darf.

Alles beginnt mit einem von einem gewissen ‚Joachim Stiller` stammenden Brief an Groenevelt, in dem auf dessen Artikel über die Straßenbaumaßnahmen angespielt wird. Das Außergewöhnliche an diesem Brief ist das Datum: Diesem zufolge hätte der Brief 40 Jahre vor Erscheinen des besagten Artikels geschrieben worden sein müssen. Ist dies alles ein Scherz? Hat dieser Joachim Stiller etwas mit den aufgebrochenen Straßen in der Kloosterstraat zu tun? Arbeitet er für staatliche Institutionen? Ist er einfach nur ein Irrer, der Freek Groenevelt Angst einjagen will oder ein missgünstiger Konkurrent, der ihm seine journalistische Arbeit vermiesen möchte? Oder war Stiller tatsächlich ein mittelalterlicher Theologe mit hellseherischen Fähigkeiten, durch die es ihm möglich war, Ereignisse im Leben Groenevelts vorherzusehen? Groenevelt macht sich auf die Suche nach Anhaltspunkten zur Identität dieses mysteriösen Mannes. Die Suche führt ihn zunächst zu Simone Marijnissen, der Redakteurin der Zeitschrift ‚Atomium`, mit der ihn bald mehr verbindet als nur die Fahndung nach Stiller. Simone kann als der ‚missing link´ angesehen werden, hellt die Bekanntschaft mit ihr doch die Verhältnisse auf und führt Groenevelt auf die richtige Spur. So kommt er weiter über den Kunstvermittler Wiebrand Zijlstra, den Antiquar Geert Molijn und den Archäologen Schoenmakers, via Hypothesen rund um die Apokalypse, Sternbilder und die Wiedergeburt zu einer Konklusion: Joachim Stiller ist eine mit Jesus vergleichbare Messiasfigur, die gekommen ist, um die Menschheit zu erlösen.

Was der flämische Autor Hubert Lampo, der oft mit Franz Kafka verglichen wird, in „Die Ankunft des Joachim Stiller“ (im niederländischen Original im Jahre 1959 erschienen) präsentiert, ist ein magisch-realistischer Roman par excellence. Was den magischen Realismus kennzeichnet, ist die Spannung, die zwischen der konkret bestehenden Wirklichkeit und dem Fantastischen, Magischen anwesend ist. Als Basis fungiert hier die uns allen bekannte Realität, die aber in einem bestimmten Augenblick von traumhaften, manchmal sogar übernatürlichen Komponenten durchbrochen wird, wodurch eine Atmosphäre entsteht, in der das Wirkliche und das Magische harmonisch ineinander übergehen. In Lampos Roman präsentiert sich die Realität als die der belgischen Stadt Antwerpen der 1950er Jahre, die vom Autor sehr detailliert beschrieben wird, sowie in den Biografien der Protagonisten Freek Groenevelt und Simone Marijnissen, die durch die plötzliche Präsenz des mysteriösen Joachim Stiller imitiert werden.

Sehr spannend und unter allerlei verschiedenen Aspekten beleuchtet Lampo die Suche Groenevelts nach Stiller, die aus der Perspektive des Journalisten wiedergegeben wird. Mit einem bemerkenswerten Gespür für die Tiefen der menschlichen Seele bildet der Autor die Gedanken und Emotionen seiner Protagonisten ab. Dabei bedient er sich vieler Metaphern, die aus der Archetypenlehre des Schweizer Psychologen Carl Gustav Jung abgeleitet sind, um seine Darstellungen so lebendig wie möglich zu gestalten. Seine Figuren sind Personen mit Ecken und Kanten, voller verschiedener Facetten und keineswegs in eine bestimmte Schublade zu stecken. Lampo hantiert einen spielerischen Stil, in dem kurze prägnante Stücke, schnelle Dialoge und lyrische Passagen einander abwechseln. Auch die Ironie kommt bei Lampo nicht zu kurz, sodass man als Leser oft nicht weiß, ob man seine Äußerungen ernst nehmen oder sie eher belächeln soll.

Auch das Geheimnis um Joachim Stiller wird zunächst nicht aufgelöst. Sehr wohl werden dem Leser diverse Anknüpfungspunkte geboten, die durch ihn noch kombiniert werden müssen, sodass alles einen Sinn ergibt. Echte Wahrheiten werden trotzdem nicht enthüllt. Was deutlich wird, ist der Zusammenhang zwischen den Dingen, dass also nichts im Leben einfach so, ohne Sinn, willkürlich und unabhängig von anderen Ereignissen geschieht. „Die Ankunft des Joachim Stiller“ ist ein äußerst empfehlenswertes Buch, das den Vergleich mit aktuellen Romanen und Thrillern in puncto Spannung, Faszination und Tiefe auf keinen Fall scheuen muss.

Titelbild

Hubert Lampo: Die Ankunft des Joachim Stiller.
Übersetzt aus dem Flämischen von Herbert Genzmer.
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2009.
237 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783898125376

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