„Es geht um die ganze Heil- und Unheilsgeschichte!“
Peter Henischs gelungene Auseinandersetzung mit der Messiasidee
Von Winfried Stanzick
Besprochene Bücher / LiteraturhinweisePeter Henisch, Jahrgang 1943, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern deutscher Sprache. Mit seinen beiden letzten Romanen „Die schwangere Madonna“ (2005) und „Eine sehr kleine Frau“ (2007) war er jeweils auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis und insbesondere das letzte Buch mit seinem autobiografisch geprägten Text über seine Großmutter hätte diesen Preis wirklich verdient.
Sein neuer, hier vorliegender Roman „Der verirrte Messias“ umspannt einen immensen Zeitrahmen: Er spielt zum einen in der Gegenwart und zum anderen reflektiert er mit starken künstlerischen Freiheiten. Dennoch ist er immer sehr nahe an der Überlieferung der Geschichte des Jesus von Nazareth, der sich selbst nie Christus nannte, aus dessen Worten und Taten aber insbesondere der Apostel Paulus eine durchkomponierte Religion formte, die bis heute einer der großen Weltreligionen darstellt und deren Einfluss insbesondere auf die europäische Kultur im Rahmen der Debatte um die Rolle der Religion in einer „postsäkularen“ (Habermas-) Gesellschaft in den letzten Jahren wieder stark im Fokus vieler intellektueller und feuilletonistischer Debatten steht.
Der Roman, den man auch lesen kann als eine ehrliche und grundlegende Auseinandersetzung des Autors mit der jüdisch-christlichen Überlieferung, handelt von einer 39-jährigen Literaturkritikerin namens Barbara, in deren Lebensgegenwart die Geschichte mit einer Begegnung in einem Flugzeug beginnt. Als sie später einem Kollegen die Sache erklärt, sagt sie von der Geschichte, die ihr Leben verändern wird: „Allerdings reicht sie weit zurück in die Vergangenheit und womöglich reicht sie auch irgendwie in die Zukunft.“
Sie wartet im Abflugbereich des Airports in Frankfurt auf ihren Flug nach Israel, wo sie ihre Halbschwester Esther besuchen möchte (sie hat also, wie Peter Henisch selbst, jüdische Wurzeln), als sie ein seltsamer Mann anspricht: „Nein, er sah nicht ungewöhnlich aus. Ganz bestimmt nicht wie eine dieser Ikonen. Auch nicht wie irgendein Fanatiker oder Psychopath. Allerdings hatte sein Blick etwas Beharrliches.“ Mischa Myschkin hat Henisch diesen Mann in Anlehnung an Dostojewski mit russischer Abstammung genannt, der, dreißig Jahre alt, in Deutschland lebt und von einer Mission beseelt ist: „Es ist überhaupt die ernsteste Angelegenheit, die du dir vorstellen kannst“, sagt er später im Flieger zu Barbara, neben die er zufällig (?) zu sitzen kommt. „Es geht um die ersten und die letzten Dinge! Es geht um die ganze Heil- und Unheilsgeschichte! Es geht, ja verdammt noch einmal, um alles oder nichts!“
Noch im Flugzeug beginnt Mischa, von dem die nüchterne Barbara zunächst gegen ihren Willen mehr und mehr fasziniert ist, vom Heiligen Geist und vom Willen Gottes zu reden. Eine Störung der Elektronik (Zufall?) zwingt das Flugzeug zu einer Zwischenlandung in Rom, wo die beiden einen leidenschaftlichen Abend verbringen, der Barbara ganz in das Magnetfeld dieses außergewöhnlichen Menschen versinken lässt.
Einen Menschen, den Henisch, mit vielen Rückblicken in die Zeit und das Leben von Jesus von Nazareth ergänzt, dem Leser als einen „verirrten Messias“ präsentiert, der kritisch und auch enttäuscht versucht zu verstehen, was denn da in letzten zweitausend Jahren geschehen und nicht geschehen ist, der versucht, zu verstehen, was geworden ist aus einer Vision, die so viele Menschen bewegte und gleichzeitig so viel Unheil über die Welt brachte. Und einen Teil dieses Unheils der Welt betrachtet Henisch auf einer dritten Ebene, wenn er Mischa folgt auf seiner Reise zu den Schauplätzen des ersten Messias, und ihn von den politischen und religiösen Konflikten im Nahen Osten in vielen Briefen an Barbara berichten lässt.
Am Ende weiß er selbst nicht mehr, welcher Religion er wirklich angehören möchte. Henisch hat in einem Interview zu seinem Buch gesagt: „Ich habe einerseits die Geschichte sehr ernst genommen, andererseits ihre ironischen Aspekte durchaus nicht vergessen. Für mich ist der Umgang mit den Evangelientexten und der Umgang mit der Geschichte, die mir dazu eingefallen ist, ein Spiel mit Möglichkeiten. Dieses Spiel mit Möglichkeiten wäre in früheren Zeiten wahrscheinlich als häretisch eingestuft worden – die Zeiten sind Gott sei Dank vorbei. Ich will Niemandes religiöse Gefühle verletzen, aber bei mir sehen die Dingen etwas anders aus.“
Ein Buch, das auf hohem literarischen Niveau dazu geeignet ist einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zu der eingangs erwähnten Debatte um die Rolle der Religion in der postsäkularen Gesellschaft zu leisten.
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