„Die Birn is g’schält.“

Hans-Joachim Noack und Wolfram Bickerich schreiben die Biografie Helmut Kohls

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

9. November 1989. Helmut Kohl hält sich zum Staatsbesuch in Warschau auf, bricht diesen ab, um nach Berlin zu fliegen und von dort in die Bundeshauptstadt: „Stets auf der Suche nach abhörsicheren Telefonen, fliegt der Kanzler samt Begleitung abends nach Bonn, spricht mit der britischen Premierministerin Margaret Thatcher, mit US-Präsident George Bush, am nächsten Morgen mit Mitterand und Egon Krenz, mittags mit Gorbatschow. […] Die ‚Eiserne Lady‘ in London ruft er deshalb als Erste an, weil er zu Recht vermutet, dieses Gespräch werde ‚das schwierigste‘ werden. Doch auch der vermeintliche Freund Mitterand steht nicht wirklich fest an seiner Seite. In seinem Tagebuch notiert der Franzose an jenem Wochenende: ‚Die Leute spielen mit einem Weltkrieg, ohne es zu bemerken.‘ Viel weniger dramatisch sieht Gorbatschow inzwischen die Lage. […] Der Mann in Moskau spricht ganz einfach von ‚historischen Veränderungen‘ in einer ‚neuen‘ Welt. Da schaut der Kanzler erleichtert seinen am Telefon mithörenden Teltschik an und sagt zu ihm, ganz Pfälzer: ‚Die Birn is g’schält‘.“

Dieser Passus ist in mehrerlei Hinsicht bezeichnend für Hans-Joachim Noacks und Wolfram Bickerichs – zweier ehemaliger „Spiegel“-Ressortleiter und Angehöriger der „linken Hamburger Medienmafia“ (Kohl) – Biografie über den sogenannten ‚Kanzler der Einheit‘. Man weiß zu verdichten, zum knappesten möglichen Ausdruck: „Spiegel“-Schule womöglich, aber ohne das oft Ätzende und Aggressive. Noacks und Bickerichs sprachliches Niveau – hinsichtlich grammatikalischer und orthografischer Richtigkeit, Sprachfluss und Phrasen-Askese – ist durchwegs hoch, nur selten schleichen sich lässliche Anglizismen wie „nicht wirklich“ ein. Gröbste Verfehlung: Die Wörter „Reformer“ und „Reformator“ werden konfundiert, wenn Michail Gorbatschow mit dem – auf Martin Luther zu beziehenden – Wort als „russischer Reformator“ firmiert und hinsichtlich versäumter Sozialreformen – sachlich zutreffend – festgestellt wird, ein „innenpolitischer Reformator“ sei Kohl nie gewesen. Der Umschlagtext jedenfalls, wohl vom Verlag zu verantworten, vermittelt ein falsches Bild: Da ist von Kohl als „Vollblut- und Ausnahmepolitiker“ die Rede, und die „große Biographie zum 80. Geburtstag“ bietet ein „glänzend geschriebenes Lebenspanorama“, das „zugleich eine packende Zeitreise durch acht Jahrzehnte deutscher Geschichte“ sein soll. Solche Worte wird die Marketing-Abteilung verantworten müssen, gewiss nicht Noack und Bickerich.

Was die sachliche Seite angeht, zeigen sich die Autoren wohlinformiert. Fehler sind selten: So ist, mehr en passant, von „Jacob Burckhardt“ und dessen Betrachtungen über „historische Größe“ die Rede. (In welchem Maße dieses Attribut Helmut Kohl zukommt, wird offen gelassen.) Burckhardt wird als „Urvater der deutschen Geschichtsschreibung“ eingeführt, und diese Zuordnung ist schief – nicht so sehr weil Burckhardt Schweizer ist, sondern weil Franz Leopold Ranke, Johann Gustav Droysen und Theodor Mommsen die deutsche Geschichtsschreibung stärker als jener geprägt haben. Wohlgemerkt: Dies ist bloßes Gemäkel am Rande. Was ihren eigentlichen Gegenstand, Helmut Kohl, betrifft, ist Noack und Bickerich nicht am Zeug zu flicken: Ihre Kompetenz bleibt unangefochten, und – „Spiegel“ hin oder her – im Urteil zeigen sich beide erstaunlich abwägend und fair.

Entlarvende Anekdoten werden zielsicher platziert. Mancher Seitenhieb wird zwischen den Zeilen versteckt: Dass Kohl die großen Fragen der Einheit mit „seinem Teltschik“, nicht mit dem von Amts wegen zuständigen Hans Dietrich Genscher oder Bundespräsident Richard von Weizsäcker in Angriff nahm, dass Kanzlerberater Horst Teltschik mehr Einfluss ausübte als die meisten Minister. Mit einem Wort: Dass Deutschland küchenkabinettsmäßig regiert wurde, am Rande konstitutioneller Legalität, wird in zwei Wörtern mitgeteilt – andernorts aber ausreichend gründlich und mit reichem Beispielmaterial dargestellt. Bezeichnend ist auch, dass es beiden Autoren vorzüglich gelingt, Politisches und Persönliches zu verschmelzen. Diese 300 Seiten wollen keine politikwissenschaftliche oder ökonomische Analyse bieten, ebenso wenig eine allumfassende Charakterstudie Kohls. Weder der ‚Mensch’ noch der Kanzler oder CDU-Vorsitzende wird in den Blick genommen, vielmehr alles zugleich, mit leichter Hand, ineinander gewoben. Dies dürfte Noacks und Bickerichs größtes Verdienst sein: Die menschliche und die politische Seite Kohls auf engem Raum zusammengeführt und beide als zwei Seiten ein und desselben Lebens ausgewiesen zu haben. Wie im Vorübergehen und mit wenigen Strichen werden Charakterskizzen von Kohl und anderen hingeworfen.

Erfreulich auch dies: Noack und Bickerich lassen die wohlfeil simplifizierende Einordnung Kohls als ‚Kanzler der deutschen Einheit‘ hinter sich . Zurecht machen sie geltend, die (west-)europäische Einheit mit Maastricht und Schengen, Wirtschafts- und Währungsunion und prospektiver politischer Union sei im Wesentlichen Kohls Verdienst. Den europäischen Einigungsprozess habe er erfolgreicher betrieben als irgendein anderer Staatsmann – teils aus politischer Notwendigkeit, vor allem aber aus tief empfundener Leidenschaft für den Europa-Gedanken, die ihre Wurzeln in den Kriegserfahrungen der Kindheit habe. Details, die von der populären Kohl-Legende oft unterschlagen werden: „Die erste Bombe, ein Blindgänger, schlägt bereits Anfang Mai 1940 im Vorgarten seines Hauses […] ein, und von da an haben die knapp 150.000 Einwohner der prosperierenden Chemie-Metropole Ludwigshafen unter insgesamt mehr als 120 Luftangriffen zu leiden. Helmut Kohl ist gerade mal zwölf Jahre alt, als er mit den Schülerlöschtrupps, die überall zur Trümmerbeseitigung verpflichtet werden, zwangsläufig auch Tote bergen muss. Da habe er, wie sich noch der alte Mann erinnert, ‚aufgehört, ein Kind im normalen Sinne zu sein‘.“ Gespenstisch nimmt sich auch die Zufallsfügung aus, als „Helle“, der „Pimpf“, zum Obersalzberg versetzt wird, „um die letzte Bastion des ‚Führers‘ mit dem Einsatz von Nebelwerfern abzuschirmen.“

Die Elemente der politischen Vita werden gründlich, aber ohne Längen dargestellt: Der CDU-interne Verdrängungskampf mit Rainer Barzel, die seitens Kohls mit ruhiger Hand und langem Atem ausgefochtenen Kämpfe mit Franz-Josef Strauß, dem Möchtegern-Weltpolitiker und Irrlicht auf Rechtsaußen; die „Wende“ 1982 und verfassungsrechtlich prekäre Neuwahlen, auf Kohls Initiative 1983 durchgeführt; die sang- und klanglos im Mistkübel der Zeitgeschichte verschwindende „geistig-moralische Wende“, mit der die sozial-liberale Reformpolitik der 1970er-Jahre entsorgt werden sollte; vergangenheitspolitische Desaster à la Bitburg; „Männerfreundschaften“ mit Mitterand, Bush und Gorbatschow, die sich im Wendejahr 1989/1990 als segensreich erweisen, weil sie Deutschland den dringend benötigten Vertrauensvorschuss verschaffen; schließlich das wirtschafts- und sozialpolitische Versagen der 1990er-Jahre und Kohls tiefer Fall in die Abgründe des CDU-Spendenskandals – samt rapidem Ansehensverlusts und langsamer Regeneration während der letzten paar Jahre.

Noack und Bickerich verfügen über indirekte, subtil differenzierende, aber vordergründig harmlos daherkommende Formulierungskunst. Dies erweist sich in den letzten Sätzen des Buches. Sie scheinen versöhnlich, respektvoll. Sie paraphrasieren – ausgerechnet – die „Welt“, einen publizistischen Antipoden des „Spiegels“: „Man müsse ihn vielleicht nicht als ‚Menschen und Machtpolitiker‘ lieben, für seine Leistung habe er indessen Bewunderung und Dankbarkeit verdient.“

Titelbild

Hans-Joachim Noack / Wolfram Bickerich: Helmut Kohl. Die Biographie.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2010.
301 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783871346576

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