Durchzechte Bahnreise

Murat Uyurkulaks türkischer Revolutionsroman „Zorn“ ist ein virtuoser Roman über die condition humaine

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wie schön ist die Revolution, wenn sie eine Wahrscheinlichkeit ist“, denkt Yusuf voller Hoffnung zu einem Zeitpunkt, an dem diese Revolution vielleicht schon vorbei ist. Am Ende einer langen Bahnfahrt quer durch das Land von Istanbul nach Dyarbakir – das Setting erinnert sehr an Wendikt Jerofejews „Reise nach Petuschki“ – tanzen die Menschen mit den Soldaten. Der „hinkende Kommandant“ soll aus den Bergen zurück in der Stadt sein. Mit diesem schönen, märchenhaft versöhnlichen Abschluss endet Murat Uyurkulaks erzählerischer Husarenritt durch die jüngere türkische Geschichte. Yusuf, in Istanbul noch ein eben entlassener, versoffener Korrektor, atmet befreit durch, bevor er seinen unbekannten Vater treffen wird. Mit ihm steigt auch der Dichter aus dem Zug.

Gemeinsam haben die beiden eine wilde Fahrt hinter sich, während der sie soffen, stritten, kotzten – und vor allem erzählten. Yusuf weiss gar nicht, wie er in dieses Abteil geraten ist, auf einmal saß er im Zug und ihm gegenüber ein gebieterischer Riese. Dieser scheint einiges über Yusuf zu wissen, bald wird deutlich, dass die Begegnung arrangiert ist. Der „Dichter“, wie er genannt wird, hat Yusufs Vater Oğuz gekannt, beide kämpften sie gemeinsam für die Revolution, wurden verfolgt, eingesperrt und geschlagen. Während der Dichter auf die ungebetene Hilfe seines Bruders Ismail, eines mysteriösen Schergen im Dienste der Regierung, zählen konnte, schützte sich Oğuz dadurch, dass er sein Gedächtnis löschte, sich Ahmet nannte und als selbst ernannter Prophet in die Berge ging. Mit einer kaputten Knarre leistete er Widerstand, auch zum Gaudi der Soldaten.

Diesen dürren Rahmen füllt der türkische Autor Murat Uyurkulak während der ratternden Bahnfahrt der beiden Zechkumpane mit rasanten, rotzig frechen und derben Erzählungen, in denen sich im Kern eine politische Geschichte der Türkei spiegelt. Die revolutionäre Linke, der die Protagonisten angehören, führen vom Staat verfolgt eine klandestine Existenz. Ihre Wut und ihr Zorn werden dabei nicht nur politisch abreagiert, sondern auch mit Alkoholexzessen, Prügeleien und tristen sexuellen Beziehungen. Nicht zuletzt deshalb wächst Yusuf im Heim auf, ohne seine Eltern zu kennen. In einer Mischung aus Zorn und Bewunderung hält dies Yusuf seinem Gegenüber vor: „Du bist eben ein alter Kämpe. Knallst Leute ab, gründest Untergrundorganisationen, legst Bomben…“. Doch die Zeit für derlei scheint vorbei, auch wenn während dieser Bahnfahrt im ganzen Land Bomben hochgehen. Nicht einmal der Dichter weiss, wer sie gelegt hat. Die alten Revolutionäre aber sind nur noch Schwätzer. Mit welchen Idealen sie einst ihren Kampf begründeten, entdeckt Yusuf in Briefen seines Vaters, die ihm der Dichter überreicht. Sie berichten von persönlichen Krisen und von einem Elan, der spätestens nach dem Militärputsch – am 12. September 1980 – zur tragikomischen Farce verkommen ist.

Murat Uyurkulak, der selbst einem kommunistischen Elternhaus entstammt, hat aus diesem Stoff einen hinreißenden politischen Roman gemacht. Mit unverblümter, lakonischer Direktheit entzaubert er den Mythos einer leuchtenden Guerilla, ohne jedoch deren Scheitern zu verhöhnen. Insbesondere im dritten Teil findet Uyurkulak eine zugleich beklemmende wie anrührende, bildhafte Sprache für seine politische Analyse. Der Irrsinn erscheint als einzige Form, mit der sich das Scheitern aushalten lässt.

„Zorn“ ist ein eindrücklicher, ungebärdiger, virtuoser Roman über die condition humaine, der die Lesenden herausfordert. Nüchtern hält der Autor dabei die Vergeblichkeit dieses politischen Kampfes fest, doch er beugt sich ihr nicht. Die Briefnotizen, die Yusufs Vater an den Dichter adressierte, zeugen von närrischer Nostalgie und von einem revolutionären Geist, dessen tiefere Beweggründe lauter und rein sind. Dass der Vater am Schluss von den Bergen herabsteigt, um mit seinem Sohn die Revolution zu feiern, verleiht dem Buch einen märchenhaften Schluss, der allen Trübsal hinwegfegt. Doch es ist bloß der Schluss einer durchzechten Bahnreise.

Titelbild

Murat Uyurkulak: Zorn. Roman.
Nachwort von Jens Peter Laut.
Übersetzt aus dem Türkischen von Gerhard Meier.
Unionsverlag, Zürich 2008.
350 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783293100114

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