Von der ostpreußischen Gutsbesitzerin zur kapitalismuskritischen Publizistin

Marion Gräfin Dönhoff: Ein Leben in Briefen, herausgegeben von Irene Bauer und Friedrich Dönhoff

Von Norbert KugeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Kuge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie zählt für viele zu den bedeutendsten deutschen Journalistinnen des 20. Jahrhunderts, Marion Gräfin Dönhoff. In der Redaktion „Die Zeit“ wurde sie nur „die Gräfin“ gerufen, für die sie 56 Jahre, mit einer kurzen Unterbrechung, bis zu ihrem Tode 2002 arbeitete. Zuerst als Journalistin und Leiterin des Politikressorts, dann als Chefredakteurin und zuletzt als Mitherausgeberin. Sie hat die Bundesrepublik und das dann wiedervereinigte Deutschland publizistisch und politisch begleitet. Ihr Herzensanliegen war die Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn, insbesondere mit Polen.

Ihr Leben umfasste fast das gesamte 20. Jahrhundert, und so umwälzend und tragisch dieses Jahrhundert für viele Völker Europas verlief, so tragisch und turbulent verlief auch Dönhoffs Leben. Das Buch setzt ein mit einer Tagebuchaufzeichnung der 16-jährigen im Jahr 1926. „Merkwürdig ist, dass Erwachsene Kinder nie verstehen; sie nehmen sie nicht ernst, lächeln über alles begütigend und versuchen allerhand vorzumachen, d.h. sie glauben auch, dass ihnen das gelingt.“ In dieser ersten Notiz ist schon vieles vorweggenommen, was später ihre Einstellung und ihr Verhalten prägen sollte. Eine eigene unabhängige Meinung, Toleranz und die Relevanz der richtigen Mittel und Methoden zur Erreichung von Zielen. Sie, die nie heiratete und auch keine Kinder hatte, war stets für die Kinder ihrer Geschwister da, als deren Eltern im Krieg umkamen, verunglückten oder wie ihre Schwester im Kinderbett starben. Aber auch später, als bekannte Persönlichkeit, beantwortete sie jeden Brief von Jugendlichen oder setzte sich für Schulen und Ausbildung ein. Ihr letzter Brief ging 2002 an den Theaterregisseur Peter Stein, der eine Einladung zu ihrer Mittwochsgesellschaft nicht erhalten hatte. An diesem Treffen konnte sie krankheitsbedingt nicht mehr teilnehmen. Kurze Zeit später starb sie im Alter von 92 Jahren auf Schloss Crottorf. Dieses Leben und Schicksal war für die Komtesse aus Ostpreußen, aus einer alten Adelsfamilie stammed, sicher nicht vorhersehbar gewesen. Gleichwohl klagte sie später aber nicht über ihr Schicksal, obwohl sie zeitlebens ihrer ostpreußischen Heimat gedachte und glücklich war, wenn ein Domizil irgendwie an die Heimat erinnerte.

Klug und einfühlsam ausgewählt von Irene Bauer, ihrer langjährigen Sekretärin, und ihrem Großneffen Friedrich Dönhoff, beide Vorstandsmitglieder der Marion Dönhoff-Stiftung, präsentiert die hier vorgestellte Publikation das Leben der Marion Gräfin Dönhoff dem Leser anhand von Tagebuchaufzeichnungen und Briefen. Zeitliche Abstände zwischen den Aufzeichnungen oder markanten Anlässen der Briefe kommentierten die Herausgeber sparsam und zurückhaltend, jedoch präzise und informativ. Zusätzlich ist das Buch auch noch mit Bildern aus ihrem Leben und einer ausführlichen Zeittafel ausgestattet.

Von der Romreise als Belohnung für das Abitur, über das Studium in Basel und der Absicht, über Marx zu promovieren, die sie sich aber leicht ausreden lässt zugunsten des Themas über „die Entstehung des östlichen Großgrundbesitzes von der Ordenszeit bis zur Bauernbefreiung“ reichen die Stationen. Weiter geht es über die Reisen in ihrem Cabrio mit Schwester Yvonne in die baltischen Staaten und in das südliche Europa, bis hin zur Safari in Afrika anlässlich eines Besuches bei ihrem Bruder in Kenia.

In diesen Tagebuchaufzeichnungen beeindrucken Dönhoffs unabhängiges Urteil fernab von normalen Reiseberichten und ihre Neugierde auf Land und Menschen. Immer wieder fällt ihre Liebe zur Natur und ihr unprätentiöses Auftreten auf. Natürlich fehlen auch nicht die Aufzeichnungen über die Schicksalsschläge während der „Nazizeit“: Ihr Lieblingsbruder stirbt bei einem Flugzugabsturz als Soldat in Russland, ihr Neffe kommt, genau wie andere Freunde, nicht mehr aus dem Krieg zurück. Dann der berühmte Fluchtritt aus Ostpreußen vor den anrückenden russischen Truppen bis ins Westfälische, der Verlust der Heimat, des Schlosses Friedrichsstein, und der Tod der Freunde um die Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944. Auch die Karriere in der Nachkriegszeit, die Bekanntschaft und oft auch Freundschaft mit Politikern, Wissenschaftlern, Künstlern wie Kissinger, Georg F. Kennan, Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Carl Jakob Burckhardt, Michael Gorbatschow, Lew Kopelew und anderen. All das erfährt der Leser in den Aufzeichnungen und Briefen. Dabei werden auch unangenehme Fakten nicht ausgespart. So ist ihre Antwort auf die Anfrage des „Spiegels“ wegen der NSDAP-Mitgliedschaft ihres Bruders Christoph abgedruckt, in der sie seine Begeisterung für die Nazis bestätigt, ebenso die Sympathie des Bruders für die Apartheid, als er in Südafrika lebte. Obwohl dieser Fakt bisher ein Tabu war, beschönigte Dönhoff hier nichts. Sie, die nie mit ihrer adeligen Herkunft kokettierte, sondern vielmehr schon früh ein distanziertes Verhältnis zu dem Adel des Osten hatte, kann sich innerlich nicht von ihrer Herkunft lösen, worüber sie in ihren Büchern „Kindheit in Ostpreußen“ oder „Namen, die keiner mehr kennt“, die Bestseller wurden, Rechenschaft ablegte und auf die Frage, was ihre schönste Zeit im Leben gewesen sei, die Kindheit in Ostpreußen nannte. Hier wird auch deutlich, warum sie es nicht über sich brachte, mit Willy Brandt zur Unterzeichnung der Ostverträge nach Warschau zu reisen, obwohl sie seine Ostpolitik unterstütze, weil sie nicht mit einem Glas Champagner auf den Verlust der Heimat anstoßen wollte.

Ein leiser Einwand bleibt: Es wäre schön und sicher im Sinne von Gräfin Dönhoff gewesen, wenn die Herausgeber sich von dem leider üblichen Sprachgebrauch bezüglich des Krieges abgesetzt hätten und den Beginn des „Zweiten Weltkriegs“ nicht als „Ausbruch“ oder den Tod des Sohnes der Schwester Yvonne mit den Worten „fällt im Alter von 19 Jahren“ notiert hätten. Ansonsten ist es ein zu lobendes Buch, das die bedeutende Publizistin auch als Menschen mit all seinen Facetten präsentiert und gleichzeitig ein exemplarisches Bild von der Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert gibt.

Titelbild

Marion Gräfin Dönhoff: Ein Leben in Briefen.
Herausgegeben von Irene Bauer und Friedrich Dönhoff.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2009.
304 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783455501186

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