Limit Live, meine Show

Frank Schätzing liest in der Stuttgarter Liederhalle vor eineinhalbtausend Zuschauern und schafft sich ein neues Veranstaltungsformat

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das junge Pärchen neben mir studiert noch: Er ist für den Studiengang „Nachwachsende Rohstoffe“ eingeschrieben, sie für „Luft- und Raumfahrttechnik“. An „Limit“ hat er seit Weihnachten gelesen – in ihrem Exemplar. Er kennt alles von Frank Schätzing, dem Science-Fiction-Erzähler, der mit seinen Lesungen große Säle füllt. Was erwarten die beiden? „Wir lassen uns überraschen.“

Pünktlich geht es los: Der Hegel-Saal in der Stuttgarter Liederhalle ist nicht ganz ausverkauft, aber dennoch sehr gut besucht. Meine Eintrittskarte hat 28 Euro gekostet – ein stolzer Preis für einen literarischen Abend. Dafür wird auch einiges geboten: Ein attraktiver Autor, graumeliert, in verwaschener Jeans und dunklem Shirt. Angenehme Stimme, gepflegte, schlanke Erscheinung, offenes Gesicht. Auch das Stuttgarter (bürgerliche) Publikum macht einen kultivierten Eindruck: Wieviele Männer, wieviele Frauen im Saal könnten sich Schätzing als Schwiegersohn vorstellen? Wieviele wären selbst an ihm interessiert? Eine gute Partie ist er in jedem Falle: Er gehört zu den Großverdienern, geht einer geregelten Tätigkeit nach, ist zudem ein nachdenklicher, soignierter, reflektierter, gescheiter und witziger Mann, dem man gerne zuhört. Mit Bart und Lesebrille, doch schon vergeben: Vor zwei Jahren haben ihm die Schwiegereltern ein Grundstück auf dem Mond geschenkt, in guter Lage: Neil Armstrongs Fußabdruck ist nur einen Steinwurf entfernt.

Womit wir beim Thema wären: „Limit“, sein Zukunftsroman aus dem vergangenen Jahr, spielt teils auf dem Mond, teils auf der Erde, und zwar in der nicht mehr ganz fernen Zukunft anno 2025. Diese Zukunft, so Schätzing, könne sich der Leser gerade noch vorstellen: „Und man kauft lieber ein Buch über eine Zeit, die man noch zu erleben hofft.“ Es ist ein „großer Raum“, der sich noch gestalten lässt: „In einem erbitterten Wettlauf fördern Amerikaner und Chinesen auf dem Mond Helium-3, ein Element, mit dem die Energieversorgung der Erde gesichert scheint. Zur gleichen Zeit soll Detektiv Owen Jericho in Shanghai die untergetauchte Dissidentin Yoyo ausfindig machen. Die bildschöne Chinesin ist im Besitz streng gehüteter Geheimnisse und ihres Lebens nicht mehr sicher. Was nach Routine klingt, ist der Auftakt zu einer alptraumhaften Jagd rund um den Globus – bis zum Mond, wo eine Gruppe Weltraumtouristen unversehens in tödliche Gefahr gerät.“ Soweit der Covertext der gratis verteilten Hörprobe.

Die Lesung beginnt mit einer Video-Animation, die die kommenden knapp zwei Stunden begleiten wird: Zu sehen sind – neben Eigenproduktionen – Zukunftsvisionen, die von ZDF-Enterprises und vom Pay-TV-Kanal National Geographic beigesteuert wurden: Spiralnebel, Städte der Zukunft, Raumstationen, fliegende Automobile; dazu der swingende Frank Sinatra: „New York, New York“. Ein Dank an die Medienpartner darf nicht fehlen.

Schätzing beginnt mit einer Lesung von zwanzig Minuten: Er schildert einen tödlichen Unfall in einem Hafen für Raumschiffe, bei dem ein Astronaut ums Leben kommt. Geschickt liest er die verschiedenen Rollen und gibt seiner Stimme mal ein dunkleres, mal ein helleres Timbre. Er wird schneller, wenn es dramatisch wird, und auch die teils sphärisch, teils rockig klingende Musik folgt ihm in dieser Dynamik: Die Geschichte des Rock n‘ Roll, dem besorgte Eltern in den 1950er-Jahren ein schnelles Ende prophezeiten, ist noch lange nicht zu ihrem Abschluss gekommen, und auch die Klangwelten von „Raumpatrouille Orion“ oder „Raumschiff Enterprise“ sind noch immer allgegenwärtig. Insofern ist Schätzing, Jahrgang 1957, ein Kind seiner Zeit.

Auf sein Leseexemplar hat er sich eine kleine Leuchte geklemmt, am T-Shirt ist ein Mikrofon befestigt, und so ausgestattet schreitet der Autor laut lesend über die Bühne, während über ihm Animationsfilme ablaufen. Dann, in einem zweiten Teil, präsentiert Schätzing eine eigens produzierte Nachrichtensendung aus dem Jahr 2025: „der tag“. Die Nachrichten, die hier verlesen werden, berichten bereits vom Mondunfall, dann von Silvio Berlusconi, der sich klonen ließ, vom Tabellenführer der Bundesliga, dem 1. FC Köln, von Johannes Heesters, der – 121-jährig – auf der Bühne den „Methusalem“ gibt. Derbe Späße aus einer alternden Gesellschaft, mittels derer Schätzing seine kabarettistischen Neigungen zu erkennen gibt. Er ist halt ein Kölner Jeck, der mit ironischen Anspielungen und Seitenhieben auf seine Heimat nicht spart: Die KVB, derzeit in den U-Bahn-Bauskandal verstrickt, wird mit ihrem zerstörerischen Wirken als „unsere al-Quaida“ bezeichnet.

„Willkommen in der Zukunft“, so seine Botschaft, die nicht nur Katastrophen für uns bereithält, sondern auch Möglichkeiten bieten möchte. Die Menschheit, „versessen auf Destaster“, möge, so das Plädoyer, ihre Fantasie spielen lassen und ihren Gestaltungsspielraum nutzen. Der Autor steht mit seiner Person dafür ein: Er sieht in seinen Büchern keinen Eskapismus in unmögliche Fantasy-Welten, sondern Vorschläge für eine gestaltbare Zukunft. Ihm ist die Vergangenheit des Universums präsent, die er frei und flüssig referiert: Die Materie, die sich zur „Interessensgemeinschaft Mond zusammengekrümmt“ und der Erde Ebbe und Flut beschert habe – und dem Menschen ein Sexualleben. Gegen Ende seiner Präsentation wird er genüsslich über Sex in der Schwerelosigkeit referieren.

„Limit Live, meine Show“: Der ehemalige Werbefachmann und jetzige Schriftsteller hat sich ein Veranstaltungsformat geschaffen, das ankommt. Die zwei Stunden verfliegen im Nu. Das Publikum geht lachend mit, wenn sich Schätzing mit seiner Leinwand unterhält: Dort sind gerade Jan Josef Liefers (alias Owen) und die junge Schauspielerin Milena Karas (alias Yoyo) zu sehen. Zu dritt lesen sie einen weiteren Passus aus dem Roman, und Liefers plaudert darüber, wie es ihm als Romanfigur ergangen sei. Miguel de Unamuno oder Pirandello lassen grüßen. Dann spotten die (fiktive) Yoyo und der (ebenfalls fiktive) Owen über die (reale) Flugangst ihres „Vaters, Erfinders, Schöpfers“ und hoffen, auch im nächsten Buch wieder dabei zu sein. Die Zwischenzeit vertreiben sie sich „in einer sehr schönen Bar im vierten Kapitel“.

Die Rolle des Entertainers liegt Schätzing jedoch nicht: Seine Gelöstheit auf der Bühne ist eine gespielte, seine Scherze gehen an die Schmerzgrenze, und der Autor verspricht sich oft am eingeübten Text. Die „letzte Lockerung“ ist ihm nicht vergönnt, und wahre Begeisterung kommt ebenfalls nicht auf. Der Abend bleibt geprägt von kühler Distanz, was zum Gutteil auch dem Buch geschuldet sein mag: Es bietet mit 1.328 Seiten viel Papier und viel Papierenes. Nur selten blitzen erzählerische Qualitäten auf – die Fabel wird vom Sujet getragen, nicht vom Stil. Schätzings Prosa, dies offenbart seine „public lecture“, muss ohne die Finessen jener großen Erzähler auskommen, die uns den „Orbit“ der Weltliteratur geschaffen haben: Lew Tolstoi, Emile Zola, James Joyce, Robert Musil, Heimito von Doderer oder Thomas Mann. Schätzing ist fachkundig, aber kein Romancier von Gewicht. Die Kritik folgte denn auch dem Spektakel auf dem Fuße; andererseits stimmt es nicht, dass diese Form der Lesung das Lesen überflüssig machen würde – der Büchertisch war gut frequentiert, und auch das Hörbuch verkaufte sich augenscheinlich bestens.

Und wie urteilt das Pärchen? „Ein Super-Typ, ein aufregender Abend, mal ganz was anderes.“ Na, dann!

Titelbild

Frank Schätzing: Limit. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009.
1320 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783462037043

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