„Und jetzt“

Vergnügliches Memento mori: Urs Widmers Roman „Herr Adamson“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Urs Widmer, Jahrgang 1938, gilt als einer der „verblüffendsten und erfolgreichsten Schweizer Schriftsteller der Generation nach Frisch und Dürrenmatt“, wie die Züricher Literaturwissenschaftlerin und Kritikerin Pia Reinacher feststellt. Vom „Zappelphilipp der Gegenwartsliteratur“, so der NZZ-Kritiker Roman Bucheli jüngst über den Übertreibungskünstler Widmer, liegen so wunderbar fantasievoll-poetische, fröhlich-melancholisch und überbordend grotesk-fantastische Bücher vor wie „Der Kongreß der Paläolepidopterologen“ (1989), „Der blaue Siphon“(1992), „Im Kongo“ (1996) und „Ein Leben als Zwerg“ (2006).

In seinem neuen Roman „Herr Adamson“ geht es gewohnt skurril-surreal und melancholisch-heiter zu. Vielleicht sogar noch eine Spur stärker. Jedenfalls ist die abgründige Handlung, die einsetzt mit dem Rückblick auf den 21. Mai 2032, den 94. Geburtstag des Ich-Erzählers, gleichermaßen verschlungen wie doppelbödig: „Gestern bin ich vierundneunzig Jahre alt geworden. […] Ich packte die Geschenke aus: ein miniaturkleines Boot, ein Nachen, in dessen Heck ein schwarzer Fährmann mit einem Ruder in den Händen stand (von Susanne). Ein Lebkuchenherz, auf dem ‚Gute Reise‘ stand (Noemi). Ein Brot, das wunderbar duftete, und eine Flasche Wein (Anni). Die beiden Buben – sie sind Zwillinge und haben irgendwelche Namen der modernen Art, aber wir sagen alle Bembo und Bimbo zu ihnen – hatten mir eine Zeichnung gemacht, auf der ein Mann (er trug meine Attribute, einen Schnauz nämlich und wirre Haare um einen Glatzkopf herum) dem Horizont entgegenging, über dem eine rote Sonne leuchtete.“

Und am Ende, als der Ich-Erzähler im heimlich-heimeligen Gartenparadies seiner Kindheit mit den Geburtstagsgeschenken ausstaffiert, seiner Enkelin Anni sein Leben auf Band spricht, eben den Roman von Herrn Adamson, den wir als Leser vor uns haben, heißt es, ohne abschließendes Satzzeichen: „Er kommt auf mich, und jetzt“. Bis dahin ist das rückblickende Erzählen und damit das Schreiben das Ziel, gemäß der Widmer’schen Maxime, an die auch die Festschrift unter dem Titel „Das Schreiben ist das Ziel, nicht das Buch“ (2008) zu seinem 70. Geburtstag anschließt. Doch was bei Scheherazade im Märchen gelingt, ist für den greisen Ich-Erzähler keine Option. Er weiß, dass sein Leben „keine Erzählung aus dem Morgenland“ ist und ihn daher „also nicht retten“ kann.

Dabei hat Widmers Held am Ende seines Lebens eine lange Reise hinter sich. Im verbotenen Garten der Villa Kremer im Basler Bruderholz-Quartier – letzteres ist Widmer-Lesern durchaus vertrautes Terrain – begegnet der Ich-Erzähler 1946 beim Indianerspiel erstmals Herrn Adamson: „Herr Adamson – falls er nicht doch Herr Kremer war; ich musste auf der Hut bleiben – war alt, uralt, um die neunzig wohl, klein, mager und hatte einen sehr weißen Kopf mit einer kantigen Nase und einer noch kantigeren Oberlippe, die wie ein Vordach über der Unterlippe und dem Kinn hing. Er war kahl, wenn man von drei einzelnen Haaren absah, die hintereinander aufgereiht leicht gekrümmt in die Höhe ragten.“

Knut Adamson, so erfährt der Ich-Erzähler alsbald, ist exakt in jener Sekunde am 21. Mai 1938 gestorben, als dieser das Licht der Welt erblickt hatte. Dieser Vorgänger, nur für seinen Nachfolger sichtbar, wird den Ich-Erzähler bis zu dessen Tod begleiten. Dann muss er ihn selbst abholen, um endgültig auf der „anderen Seite“ zu bleiben. Doch bis dahin erlebt der Erzähler manch fantastisches Abenteuer mit seinem un- oder besser vortoten Begleiter. Ob im Totenreich, in den Ruinen von Mykene oder bei der vermeintlichen Schliemann-Enkelin Bibi, die in Wirklichkeit Adamsons Enkelin ist und später als Navajo-Forscherin Daphne Miller in Arizona Karriere macht: immer wieder „schwankt“ dem Erzähler und mithin auch dem Leser buchstäblich „der Boden unter den Füßen“, wenn Widmer seinen Helden Raum und Zeit bis zu jenem endgültigen „und jetzt“ durchschreiten lässt.

Urs Widmers „Herr Adamson“ ist ein vergnügliches, gleichwohl nachdenklich stimmendes Memento mori, eine Geschichte, die sich jedoch nicht im Todesmythos erschöpft, sondern auch eine Geschichte, die mit dem „und jetzt“ am Schluss poetologisch auch die Gegenwart des Schreibenden einzuholen versucht. „Herr Adamson“ erzählt somit im besten Widmer’schen Sinne eine Geschichte „vom Leben, vom Tod und vom Übrigen auch dies und das“, wie der Titel seiner Frankfurter Poetikvorlesungen (2007) lautet.

Titelbild

Urs Widmer: Herr Adamson. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2009.
200 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783257067187

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