Das Schicksal des „mare sovieticum“

Zu der von Katharina Raabe und Monika Sznajderman herausgegebenen Sammlung „Odessa Transfer“

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Natürlich: Schutzumschlag und Einband des Bandes in tiefem Schwarz, weiße magere Schrift (Frutiger) schwarz-weiße Fotografie mit Säulen – schließlich geht es um das „Schwarze“ Meer. Aber wer je (im Sommer) an den Ufern dieses (fast-) Binnenmeeres stand, wird es nicht ausschließlich in dieser Farbe wiedererkennen wollen – ist das Schwarze Meer doch ein südliches, teilweise mit Palmen bestandenes Gewässer mit einem eigenen Licht, nicht so idyllisch wie das Mittelmeer, oft noch rauh und unentdeckt oder bereits verbraucht durch Industrialisierung, Militärsperrbezirke, Verödung.

Aber wichtiger als der Einband sind ja die Texte dieser Sammlung sowie der Fotoessay von Andrzej Kramarz. Und da wird es schon viel bunter. (Nicht bei den Fotos, die sind wie gesagt schwarz-weiß.) Das Buch ist in gewisser Weise eine Fortsetzung der erfolgreichen Anthologie „Last and Lost. Ein Atlas des verschwindenden Europa“, die ungewöhnliche Ansichten des scheinbaren Randeuropa brachte. Nun ging man einen Schritt weiter und ist sich nicht mehr sicher, ob man sich noch in Europa befindet oder gerade seine eigentlichen Wurzeln erkundet.

Katharina Raabe hebt in ihrem Vorwort das Düstere dieses Meeres hervor, das seine Namensgebung rechtfertigt und erdhistorisch darauf beruht, dass „das bis zu 2.200 Meter tiefe Becken zwischen Europa und Asien bis auf eine schmale obere Schicht randvoll mit toter Wassermasse [ist]. Fünf große Flüsse – Donau, Dnjestr, Dnjepr, Don und Kuban – münden in das Meer und spülen seit zehntausenden von Jahren eine unverdauliche Menge organischen Materials hinein. Unterhalb von 150 bis 200 Metern erstickt das Meer – ein biochemischer Prozess, bei dem der giftige Schwefelwasserstoff entsteht. Oberhalb der sauerstofflosen Zone jedoch wimmelt das Meer von Leben“. Diesen eklatanten Widerspruch von Tiefe und Oberfläche explorieren die folgenden Texte auf unterschiedlichste, aber höchst lesenswerte Weise.

Wortgewaltig gibt der rumänische Schriftsteller Mircea Cărtărescu diesem „pontos axeinos“, dem „ungastlichen, feindlichen Meer“ in mehreren Konstellationen der Begegnung literarische Gestalt. Natürlich ist das Schwarze Meer das erste Meer, das das rumänische Kind zu sehen bekommt, zudem ist es das Meer des Exilanten Ovid, dessen Name in Rumänien jedes Produkt kennzeichnen kann und zudem einen der häufigsten rumänischen Vornamen liefert. Meisterlich inszeniert Cărtărescu nicht nur die Präsenz des antiken römischen Exilanten, sondern auch eine winterliche Begegnung mit dem Casino in Constanţa, einem Jugendstil-Bau an der Hafenpromenade – und einem der anschaulichsten letzten Sinnbilder Mitteleuropas an der Grenze zum Meer und nach Osten. Für den sensiblen Dichter aber ist vor allem das wilde Meer etwas Fremdes, fast Feindliches, das „Meer, das dich hasst“: „Dann saugt es sich wie ein auf rätselhafte Weise geheilter Tumor wieder ein und zieht tiefgefrorne Möwen und am Ufer entwurzelte Bäume hinter sich her, um dir gleich darauf ein weiteres Mal seinen Hass ins Gesicht zu schleudern, Verachtung und Wahnsinn, Medea, zurückgekehrt, wie jeden Winter, um wieder und wieder ihre Kinder hier in Tomis in Stücke zu zerscheneiden, in Tomis, das Wort kommt von ,schneiden‘“.

In Tomis hatte der griechischen Mythologie zufolge Medea ihren Stiefbruder ermordet, um ihren Geliebten Jason zu schützen. Dieser hatte das von den Griechen euphemistisch „Pontus euxinos“, „gastliches Meer“ genannte, unbekannte Wasser erstmals durchquert, um Kolchis zu erreichen und das Goldene Vlies zu finden, wo er sich dann in die Königstochter Medea verliebte. Takis Theodoropoulos erzählt die Geschichte dieses ureuropäischen Topos als eine der Konkurrenz zu der viel geläufigeren des seefahrenden Odysseus.

Der reiche mythologische Hintergrund des Schwarzen Meeres ist vielfach im Buch präsent. Jasons Kolchis lag im heutigen Georgien, von dessen Grenzort Batumi Aka Morchiladze Geschichten der Flucht aus der nur scheinbar hermetischen Sowjetunion in die nahe Türkei zu einem anschaulichen Teppich georgischer und das heißt auch „schwarzmeerischer“ Mentalität verwebt. Hier wird bereits der weitere Schwerpunkt des Bandes erkennbar: Das Schwarze Meer war fast ein Jahrhundert lang ein „mare sovieticum“, dessen imperialer Herrschaft am Meer sich nur die Türkei weitgehend entzog. Die Folgen dieser Hegemonie sind es, die das Thema einer Mehrzahl der Beiträge bestimmen. Ganz politisch aktuell plädiert Neal Ascherson, Autor einer viel gelobten Monografie zur Geschichte des Schwarzen Meeres, für die Anerkennung des von Georgien abtrünnig gewordenen Abchasien, das nur von Russland als Staat anerkannt wird. Aber er sieht in der wenig bereisten Gegend auch eine ganz andere Geschichte: „Unberührte Wälder ziehen sich hinauf bis in die Vorgebirge des Kaukasus. An der Küste und vor allem im Norden, wo die Hänge steil ins Meer abfallen, fühlt man sich in die subtropische Landschaft der französischen Riviera am Ende des 19. Jahrhunderts versetzt“.

Nicht weit entfernt vom Austragungsort der Olympischen Winterspiele 2014, der Küstenstadt Sotschi („Je näher man der Stadt kommt, desto zahlreicher die Palmen. Die Umgebung von Sotschi ist die am nördlichsten gelegene subtropische Region der Welt und wird zu Recht ,Sommerhauptstadt Rußlands‘ genannt. Ein Paradies, vierzig Kilometer von der russisch-georgischen beziehungsweise abchasischen Grenze entfernt. Eine ,Konfliktregion‘. […] zu sowjetischen Zeiten war die Stadt ein Traum, ein Ort der Sehnsucht.“), ist das frühere Pionierlager Orljonok ein Beispiel für die Überführung der „sowjetischen Tugenden“ in die Welt der globalisierten Kinderträume von Erfolg, Effizienz und Macht.

Die Journalistin Katja Petrowskaja hat es mit sehr gemischten Gefühlen erkundet: Es erinnert an ihre eigene Kindheit in der Sowjetunion und die merkwürdig gebrochenen Fortsetzungen jener Mentalität im neuen Russland. Dieser neu-alten Situation gibt auch der junge ukrainische Lyriker Serhij Zhadan in einem furiosen Prosatext Gestalt, indem er die surreal-reale Geschichte zweier Herumtreiber in den postsowjetischen Städten der malerischen Krim mit poetischer Präzision und Ironie als neue Realität am nördlichen Schwarzen Meer kunstvoll inszeniert. Auch Nicoleta Esinencus gekonnt spannungsreich entworfenes Langgedicht, das dem Band seinen Titel gibt, ruft Erinnerungen an die Sowjetische Sozialistische Republik Moldova auf und Zugreisen „Von Chişinău zum Siebten Kilometer“, deren Ziel nicht nur das Meer, sondern auch der in den Endjahren des Imperiums florierende riesige Basar in Odessa war. Die Bedeutung des Erwerbs einer Bluejeans durch die Zeiten macht anschaulich, wie sehr die letzten 80 Jahre die Region geprägt haben und die Orientierung an den neuen Umständen nicht allen Bewohnern leicht fällt. Karl Markus Gauss kann dies aktuell bei einer Erkundung Odessas feststellen: Lenindenkmäler findet er auf seinem Rundgang in der nicht nur durch Eisensteins Filmklassiker „Panzerkreuzer Potemkin“ legendären Stadt, die heute aber auf vielen verschiedenen Vergangenheiten reitet, darunter einer bedeutenden jüdischen und auch deutschen.

Die jüngste Vergangenheit ruft auch der in Rumänien geborene Ungar Attila Bartis auf, der seine erste Reise an das Schwarze Meer erst 2008 unternimmt, quasi als Auftrag, um über die Zukunft des Meeres zu reflektieren. Aber es kommen ihm immer wieder Erinnerungen an den Vater und dessen Verschleppung an den Donau-Schwarzmeer-Kanal im Bărăgan, einer steppenähnlichen Landschaft nordöstlich von Bukarest, in die Quere. „Nicht wahr, mein liebes Sternchen, du weißt, worüber man weder mit der Lehrerin noch mit irgendwem sonst reden darf, fragte meine Mutter jeden Morgen, bevor sie meine Hand losließ, und wie hätte ich es nicht wissen sollen, mit sieben Jahren. Als ich an der Reihe war mit Erzählen, ob ich schon am Meer gewesen sei, sagte ich, ja, und es war sehr schön. Daß ich noch nie dort war und auch nie hinkommen werde – darauf hätte die Lehrerin bestimmt gefragt, warum? Worauf ich hätte sagen müssen, deswegen, weil mein Vater nicht schwimmen kann. Worauf sie gefragt hätte, warum kann er denn nicht schwimmen? Worauf ich hätte sagen müssen, deswegen weil ihm der Offizier beim Verhör im Gefängnis einen Nagel ins Ohr geschlagen hat und sein vestibuläres Labyrinth verletzt wurde. Worauf sie gefragt hätte, und warum war dein Vater im Gefängnis? Worauf ich nur hätte sagen können, deswegen weil er die Kommunisten nicht ausstehen kann.“

In Katja Lange-Müllers Erzählung ist diese Erinnerung nur verblasst gegenwärtig, wenn sie die Urlaubserinnerung an eine Ost-West-Liebschaft nach der Wende von 1989 schildert, die ihre skurril-groteske Klimax bei einem Aufenthalt in dem Urlaubsort „Doi Mai“ (Zweiter Mai) nahe der bulgarischen Grenze findet. Sibylle Lewitscharoff erfindet für ihre Fantasien über die bulgarische Küste eine eigene Insel, auf der sich eine Idylle rettet, die am Land bereits längst dem Tourismus geopfert wurde. Aber nicht zivilisationskritische Klage ist ihr Thema, sondern das Fantastische des Schwarzen Meeres und der bulgarischen Geschichte, das sie in einer Anlehnung an Thomas Pynchon im Stil jener Filme der 1960er-Jahre inszeniert, in denen Luftschiffe des 19. Jahrhundert die Welt als Pop-Universum erkunden. Und sie trifft auf Haralampi Orschakow, der seine unglaubliche Familiengeschichte in dem opulenten Werk „Die Battenberg-Affäre“ vor wenigen Jahren geschildert hat.

Bulgarien ist von einer gemeinsamen Geschichte mit der Türkei geprägt. Der polnische Balkan-Erkunder Andrzej Stasiuk nähert sich diesem Thema nur allmählich an – er berichtet höchst ironisch von seiner Autoreise durch Bulgarien nach Istanbul, die ihren Anfang nahm, als er im rumänischen Donaudelta Kühe sah, die nach Istanbul schauten: „Ich stellte mir vor, daß sie von der Hitze hergetragene goldener Kuppeln und Minarette sehen. An diesem öden, menschenleeren und mit Kuhfladen bedeckten Ufer beschloß ich, irgendwann nach Istanbul zu fahren.“ Aus der Türkei kommt als einziger Beitrag eine beeindruckende und vielstimmige Hommage der Schauspielerin Emine Sevgi Özdamar an den ermordeten armenisch-türkischen Intellektuellen Hrant Dink. Seinen Tod bespricht sie mit einem türkischen Taxifahrer, der sie durch Berlin fährt. Sie erinnert sich an die Pontos-Griechen, die Anfang des 20. Jahrhunderts von den Türken vertrieben wurden, an die jüngere Geschichte der Auseinandersetzungen in der Türkei, an die Mörder Dinks, die vom Karadeniz, vom Schwarzen Meer kamen.

Es geht vieles in diesen mitreißenden Texten zusammen, Vergangenheit und Mythologie, Eigensinn und große Politik, so dass man um die Überzeugung nicht umhin kommt, dass die Probleme und ihre Lösungen am Schwarzen Meer ein europäisches Interesse verdienen. Dazu trägt auch die, zu Recht „Fotoessay“ genannte, brillante Bilderstrecke des polnischen Fotografen Andrzej Kramarz bei. Seine im Querformat wie Textbahnen angeordnete Aufnahmen zeigen bei genauer Betrachtung jeweils kleine Geschichten und Statements zur aktuellen Lage der Küsten am Schwarzen Meer. Jedes für sich eine eigene Erzählung und Fantasie zu einem Thema.

Alles in allem – ein wunderbares Buch mit literarisch anspruchsvollen, reflektierten und aktuellen Beiträgen, die diesen nah-fernen Raum um das nicht immer „Schwarze“ Meer für die Lesenden auf anschauliche Weise zum Sprechen bringen.

Titelbild

Katharina Raabe / Monika Sznajderman (Hg.): Odessa Transfer. Nachrichten vom Schwarzen Meer.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
258 Seiten, 26,80 EUR.
ISBN-13: 9783518421178

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