Thomas Mann – Ein ‚kalter Künstler‘?

Zur Einführung

Von Alke BrockmeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alke Brockmeier und Ulrike SchermulyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Schermuly

Kaum ein Autor hat Emotionen so umfänglich in seinen Werken thematisiert, kaum ein Autor ist unter emotionalen Gesichtspunkten so kontrovers rezipiert worden wie Thomas Mann. Dennoch haben sich ihm – trotz des ‚emotional turn‘ in der Literaturwissenschaft – bisher nur sehr wenige Studien aus emotionswissenschaftlicher Perspektive genähert.

Um einen ersten Beitrag zur Schließung dieser Forschungslücke zu leisten, haben sich junge Thomas-Mann-Forscher am 5. und 6. März 2010 in Göttingen dem Thema „Ein ‚kalter Künstler‘? Emotionen und Aspekte von Emotionalität bei Thomas Mann“ gewidmet. Der Vorwurf, ein ‚kalter Künstler‘ zu sein, begleitete Thomas Mann ein Leben lang. Erstmalig damit konfrontiert wurde er zuerst anlässlich der Veröffentlichung der Novellensammlung ‚Tristan‘ im Jahr 1904. Der Ausdruck stammt ursprünglich aus einem Brief Körners an Friedrich Schiller und ist auf Johann Wolfgang von Goethe geprägt, um die Gegensätzlichkeit beider Dichternaturen zu charakterisieren. Darauf wird nun rekurriert, unter anderem vom Kritiker Karl Muth in der Zeitschrift „Hochland“.

Verurteilt wird von dem Rezensenten vor allem Thomas Manns ironische Schreibweise, er beklagt eine „Kunst, worin die Persönlichkeit völlig ausgeschaltet ist, wo nur des Künstlers ordnender Verstand ‚gleichgültiges Material‘ zusammensetzt“.

An die Lübecker Schriftstellerkollegin und Förderin Ida Boy-Ed schreibt Thomas Mann nach der Lektüre: „Ich bin ein ‚kalter Künstler‘, es steht in mehr als einer Zeitschrift. Ich habe durch eine übertriebene Anbetung der Kunst jedes Verhältnis zum Gefühl und zum lebendigen Leben verloren… Wahrhaftig, ich wünsche zuweilen, es wäre so, ich würde dann ein besserer Arbeiter sein und mich nicht jeden Augenblick durch das ‚Leben‘ und Gott weiß welche Abenteuer des Gefühls vom Pfade des Schaffens ablocken lassen!“

Eine Überprüfung des hartnäckigen Topos’ vom ‚kalten Künstler‘ Thomas Mann muss bei Überlegungen zur Rolle von Emotionen im Künstlerkonzept beginnen, also bei dem äußeren Kommunikationssystem von Literatur: der literarischen Produktion und ihrer Verortung im kulturellen Kontext sowie der Leserrezeption.

Zudem sind jedoch die Texte als Untersuchungsgegenstand an sich nicht weniger relevant. In den Blick genommen werden die verhandelten Themen selbst und ihre Darstellungsformen, ihre sprachliche Präsentation. So stellen sich auch die Fragen, wie Emotionen im Text sprachlich vermittelt werden, inwiefern sie an die Figuren oder den Erzähler gebunden sind, und nicht zuletzt welche Funktionen sie erfüllen. Damit ist der Themenaufriss der Tagung vorgegeben:

1. Produktionsbezogene Untersuchungsperspektive

Zum einen hat Thomas Mann selbst in seinem Werk, z. B. in seiner Goethedarstellung, die „Kälte“ – die Abwesenheit von Emotion – zur produktionsästhetischer Voraussetzung schriftstellerischer Größe gemacht. Eher Dilettant (im Sinne Paul Bourgets) als schwärmerisches Originalgenie geht es ihm weniger um die Erfindung einer anderen, sondern um ‚Beseelung‘ der vorhandenen Welt. Intertextuelle Struktur und ironische Sprache kennzeichnen sein Werk. Doch macht ihn das zum ‚kalten Künstler‘? „Gern ist Thomas Mann ein Ironiker genannt worden, zu oft. Oft ist es nichts als Scheu, hinter der ganz andere Gefühle, Liebe, Mitleid, Trauer sich verbergen oder nicht verbergen können“, so Golo Mann.

2. Textbezogene Untersuchungsperspektive

Tatsächlich verhandelt Thomas Mann in seinem Werk hoch emotionale Themen. In romantischer Tradition ist sein Anliegen die Darstellung emotional menschlicher Grunderfahrungen, das „Menschlich-Allzumenschliche“. Was seine Figuren erleben – Liebe, Sehnsucht und verborgene Leidenschaft, Heimsuchung und Ekstase, aber auch Scham, Selbstzweifel, Selbstekel und Selbsthass, die Wehmut des Außenseiters, anders zu sein und nicht dazu zu gehören, Verstrickung in Schuld, Reue, Sühne und die Erfahrung von Gnade – knüpft an die persönlichsten und intimsten Erfahrungen und das episodische Wissen seiner Leser an. Diese hochemotionalisierten Inhalte werden durch ihre sprachliche Präsentation vermittelt und zugleich objektiviert, wie die Analyse narratologischer Mittel und die Aufdeckung spezifischer Schreibstrategien erweist.

3. Rezeptionsbezogene Untersuchungsperspektive

Wozu führen solche „Abweichungen“ zwischen Emotionalität des erzählerischen Gegenstandes und Kühle des sprachlichen Duktus beim Leser? Abweichungen gelten in der Emotions- und Rezeptionsforschung als ein Indikator für hohe Emotionalität. Das erzählerisch vorgeführte Ringen um Distanz kann die größere emotionale Involviertheit anzeigen und so emotionalisieren, die im Ergebnis geglückte Distanzierung umgekehrt kann zur Kontrolle hervorgerufener Emotionen beitragen. Emotionalisierung und emotionale Bemeisterung funktionieren reziprok und kennzeichnen in diesem Wechselverhältnis die menschliche Humanität.

Untersucht werden Emotionen wie Liebe, Sehnsucht und Freundschaft, aber auch Entsetzen, Ekel und Angst. Der Querschnitt durch das Werk reicht von „Luischen“ über die „Buddenbrooks“ bis hin zur „Joseph“-Tetralogie.