Von der Kulturindustrie zur Kulturkritikindustrie

Ray Bradburys Klassiker „Fahrenheit 451“ ist als Graphic Novel adaptiert worden

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass dort, wo man Bücher verbrennt, auch bald Menschen brennen würden, dies fiel Heinrich Heine zur Zeit des ersten großen deutschen Bücherverbrenungsrituals 1832 beim Hambacher Fest zur Reconquista ein. Die feierlich begangenen Büchervernichtungen in Deutschland wurden von Ray Bradbury in seinem Klassiker „Fahrenheit 451“ zu einem staatlich institutionalisierten Säuberungsvorgang transformiert. Feuerwehrmänner stürmen Häuser, deren Bewohner wegen Buchbesitzes denunziert wurden, und verbrennen alle Schriften. Einer der Feuerwehrmänner ist Guy Montag, der zunächst mit seinem Job sehr zufrieden ist, dann aber mehr und mehr aus seinem geordneten Leben herausfällt. Dazu führen vor allem drei Ereignisse: Das Nachbarsmädchen Clarisse macht ihn auf die Schönheit der Natur aufmerksam und darauf, dass er doch nicht glücklich ist. Seine Frau Helen nimmt so viele Schlaftabletten, dass man einen Suizidversuch vermuten kann. Und dann gibt es eine alte Frau, die es vorzieht, zusammen mit ihren Büchern verbrannt zu werden.

Montag liest verbotenerweise und nimmt Kontakt zu einem alten Gelehrten namens Faber auf. Schließlich wird er von seiner Frau und deren Freundinnen denunziert. Seine heimlich entwendeten Bücher und sein Haus werden verbrannt, und nach einem Kampf mit seinen Kollegen flieht er aus der Stadt. Draußen auf dem Land schließt er sich einer Gruppe ehemaliger Akademiker an, von der Faber ihm erzählt hatte. Diese führen ein Leben als Tramps und haben Bücher auswendig gelernt. Am Ende bricht der Krieg, der bereits die ganze Zeit ein Thema war, auch im eigenen Land aus, und die Akademiker im Exil beobachten aus der Entfernung die vollständige Vernichtung der Stadt, aus der Montag floh.

1953 zum ersten Mal veröffentlicht, fügt sich „Fahrenheit 451“ in die Reihe von Dystopien wie Aldous Huxleys „Brave new World“ (1932) und George Orwells „1984“ (1949) ein. Die Gesellschaft, die Bradbury skizziert, steht zwischen der gewaltförmigen Kontrolle von „1984“ und den Massen der schönen neuen Welt, die sich freiwillig selbst sedieren und unterwerfen. Die Welt von „Fahrenheit 451“ ist eine verkehrte, was Bradbury teilweise sehr sinnfällig zum Ausdruck bringt: Feuerwehrmänner machen Feuer, anstatt es zu löschen, und rutschen die berühmte Feuerwehrmann-Stange nicht herunter, sondern werden von ihr nach oben befördert.

Bradbury versammelte diverse der gängigen kulturkritischen Topoi: Das schnelle Autofahren vereint Schnelllebigkeit und Oberflächlichkeit; Jugendliche, die aus Spaß nebenbei töten; die allgemeine Gleichgültigkeit der Menschen gegenüber dem, was um sie herum passiert; die omnipräsente Werbung; die ‚geistlosen‘ Soaps, deren Darsteller von den Zuschauern als ihre ‚echte‘ Familie wahrgenommen werden; Menschen, die zu viele Tabletten nehmen, vor allem zur Beruhigung; eine manipulierende Medizin, die die Erinnerung tilgt und die Persönlichkeit verändern kann; Psychiater, die Menschen normierend behandeln; der Staat, der in die privaten Zellen menschlicher Beziehungen eingedrungen ist, und Familienmitglieder und Nachbarn dazu motiviert, einander zu denunzieren. All diese Themen sollten in den folgenden Jahrzehnten in Büchern, Filmen und politischen Theorien wieder und wieder ‚neu‘ hervorgebracht werden, bis hin zu Terry Gilliams Filmen „Brazil“ (1985) und „Twelve Monkeys“ (1995).

Das gedankliche Fundament, das Bradburys Darstellung der Entstehung der Welt von „Fahrenheit 451“ zugrundeliegt, ist bereits bedenklich. Unter dem Label „Massengesellschaft“ haben sich seit je politische Ideen sehr unterschiedlicher theoretischer und praktischer Voraussetzungen wie Konsequenzen versammelt. „Massengesellschaft“ bedeutet bei Bradbury nicht nur, dass die Menschen auf einem mediokren Niveau vereinheitlicht werden, sondern auch, dass es zu viele Menschen gibt: Früher, so erzählt Montags Vorgesetzter und Gegenspieler Beatty, sei die Welt noch „geräumig“ gewesen. In der Gesellschaft der Menschenmassen hätten sich die Medien dann nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner richten und vorsichtig gegenüber Minderheiten sein müssen. Glück sei dann garantiert, wenn alle gleich sind; und gleich sind alle dann, wenn sie kulturindustriell gleich bedient werden. Hier reproduziert Bradbury die Geschichtsschreibung der Kulturindustrie, mit der sie sich selbst legitimiert. Bedauernd zuckt sie die Schultern; angesichts der Konsumentenmassen seien ihr die Hände gebunden. Die Gleichschaltung funktioniert in „Fahrenheit 451“ ebenso von oben wie von unten. Bradbury weist darauf hin, dass diese Gleichschaltung nicht von oben hätte initiiert werden müssen. Faber schildert Montag, dass die Menschen von selbst aufgehört hätten zu lesen.

Trotzdem gibt es nach wie vor Außenseiter, so wie Clarisse, die als „ungesellig“ gilt, und ihre Familie, die noch „Gespräche“ führt. Montag belauscht eine dieser Unterhaltungen: Vornehmlich beklagt man sich über einen Mangel an sozialer Unmittelbarkeit. Clarisse schaut weder Fernsehen, noch sucht sie sonst Zerstreuung und hat deshalb Zeit für Gedanken. Und für was für welche!

Sie reißt Montag aus seiner Zufriedenheit heraus, indem sie ihn auf Kleinigkeiten hinweist, die keiner mehr beachtet: Blumen, Morgentau, Regen, den man sich in den Mund tropfen lassen kann, und die Frage danach, ob Montag glücklich sei. Sie erscheint wie eine Mischung aus Hippie-Mädchen und Elfe, in ihrem weißen dünnen Kleid und ihrer pseudo-kindlichen Vorliebe für Naturdetails. Was Clarisse hier evoziert, das kann in der Tat schön sein, ist aber unaussprechlich geworden; verdorben sowohl durch die Kulturindustrie, die sie verwertete, wie durch die Kulturkritikindustrie, die sie als falsche Unmittelbarkeit für eine mindestens zweifelhafte Kritik längst verdinglicht hat. Gegen Clarisse behalt Beatty recht, wenn er ihre Phrasen als „Kitsch“ disqualifiziert.

Wenn man sich die Kulturkritik der letzten 100 Jahre anschaut, dann könnte man sagen, dass ihre Eintönigkeit mühelos mit der Mediokrität ihres Gegenstandes mithalten kann. Wenn man der bürgerlichen Gesellschaft mit Theodor W. Adorno und Walter Benjamin vorwirft, dass das, was sie als Novum ausschreit, ‚eigentlich‘ ‚immer schon‘ ‚nichts als‘ ihr „Immergleiches“ sei, dann muss man dies auch der Kulturkritik vorhalten. Nicht nur und nicht erst die Kultur „schlägt heute alles mit Ähnlichkeit“, wie Adorno und Max Horkheimer in dem Kulturindustrie-Kapitel der „Dialektik der Aufklärung“ schreiben. Dies wäre für „Fahrenheit 451“ noch zu viel der Ehre. Die Kulturkritik ist in ihren Produkten und deren Verfahrensformen so mimetisch zu ihrem Gegenstand, dass keiner sie noch zu schlagen bräuchte. Es ist nicht nur so, dass die Kulturindustrie sich alle subversiven Inhalte anverwandelt. Dies setzte eine Differenz zwischen ihr und dem jeweiligen Inhalt und dann dessen ‚Anpassung‘ voraus. Die Kulturkritikindustrie hingegen hat ihre eigene Branche neben der Kulturindustrie aufgemacht. Sie wird ihr eigener Betrieb, und einen Stachel, den man ihr ziehen könnte, hat sie nie gehabt. Seit Jahrzehnten ‚reißt die Kulturkritik der selbstzufriedenen oberflächlichen bürgerlichen Scheinwelt die Maske herunter‘, wie auch jetzt die Feuilletons anlässlich der Fahrenheit-Graphic-Novel ebenso begeistert wie automatisch tönen. Seit Jahrzehnten verharrt diese Kritik auf der Stelle, spielt sie immer wieder „21st Century Digital Boy“ von „Bad Religion“ genauso gelangweilt und routiniert wie diese Punk-Band. Manche Bilder, Filme und Musikstücke können zu einem bestimmten Lebensabschnitt das kritische Denken weiterbringen. Dies kann sogar bei „Fahrenheit 451“ der Fall sein; aber man sollte bedenken, dass seine Halbwertszeit sehr gering ist. Hierzu passt, dass der Zeichner Hamilton Bradburys Vorlage einfach nur exakt adaptierte. Das Lettering folgt dem Text des Buchs, der Zeichenstil ist konventionell und auf düster und gedankenvoll getrimmt. Doch gibt es Einiges in „Fahrenheit 451“, von dem fraglich ist, ob man es immer wieder neu verkünden sollte. Adorno wies in den „Minima Moralia“ darauf hin, dass das „Wettern über die Lüge […] eine verdächtige Neigung [hat], selber zur Ideologie zu werden. […] Mit der Logik der Konsequenz und dem Pathos der Wahrheit“ könnte die Kulturkritik fordern, dass die Verhältnisse auf ihren materiellen Ursprung reduziert werden. Dann würde man „unmittelbar zur Barbarei übergehen, die man als vermittelte der Kultur vorwirft.“ Der Ursprung ist in „Fahrenheit 451“ eine vermisste Unmittelbarkeit, die in Form von Natur und menschlicher Selbstaufgabe dargestellt wird.

Die Natur wird als der Gegenpol zum modernen Leben angeführt. Als Montag aus der Stadt flieht, gelangt er in den Frieden der Natur, ‚geborgen‘ vom Wasser. Die Natur ist die Instanz, die immer da ist und nur darauf wartet, ihre systemsprengende Kraft zu entfalten. Ebenso gilt Glück als unmittelbares und identisches, als müsste nur an ein verborgenes Refugium gerührt werden. Das, was den Menschen fehlt, sagt Faber zu Montag, „Sie finden es in der Natur und in Ihrem Inneren“. Und in diesem Satz liegt die gesamte Spannbreite von zurück-zur-Natur-Schwärmerei bis hin zur Esoterik, von Naivität bis anti-zivilisatorischem Ressentiment. Dass dem so ist, das hätte Bradbury auch vor 1968 und den Folgen wissen können, denn dies wurde vor und nach dem Ersten Weltkrieg bereits komplett durchgespielt. Aber auch die Kulturkritikindustrie kann oberflächlich sein und den kleinsten gemeinsamen Nenner bedienen.

Neben Clarisse ist die alte Frau, die sich mit ihren Büchern nicht nur verbrennen lässt, sondern selber Feuer legt, bevor die Feuerwehrmänner es tun können, die andere Person, die Montag ein Erweckungserlebnis bereitet. Spätestens seit den Selbstmordattentaten der letzten Jahre sollte einem aber unbehaglich werden bei Menschen, die sich für eine Sache physisch opfern; bei Erzählungen, die Ideen durch diese Opferung eine besondere Weihe verleihen; bei Menschen, die sich einer Idee öffnen, weil Menschen dafür zu sterben bereit sind, und die – so wenig wie der Erzähler Bradbury – darauf reflektieren, wofür da gestorben wird. Bücher sind aber für Menschen da – und nicht umgekehrt.

Bradbury differenziert ‚die Bücher‘ nicht. Hamilton nutzt sein Medium, um den zu Scheiterhaufen arrangierten Büchern Namen zu geben: Der Bildungskanon ist wenig überraschend und reicht von der Bibel über Shakespeare bis hauptsächlich in die US-amerikanische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Was das fetischisierte Buch zu bieten hat, das weiß Hamilton auch über 50 Jahre später nicht zu sagen. Bradbury zufolge hätten Bücher „Qualität“: sie seien ein „Gefüge“, zeigten die „Poren“ sowie die „Details“ der Wirklichkeit und rührten „ans Leben“. Dies sind aber nur nichtssagende Umschreibungen einer abstrakten Apologie, keine inhaltliche Bestimmung. Wie die Kulturindustrie unterwirft sich auch deren Kritik der „Formel, die das Werk ersetzt“ (Adorno und Horkheimer).

Niemand kann ernsthaft dem Satz widersprechen, dass es Millionen Bücher gibt, deren Verschwinden kein Verlust wäre. Man könnte einwenden, dass „Bücher“ bei Bradbury für etwas Anderes steht. Mag sein. Aber er kann nicht sagen, für was. Und so lange er es nicht kann, taugt die Apologie der Bücher zu nicht mehr als zur verklärenden Pose des Literaten und des Akademikers.

Faber zufolge bieten Bücher die Vorteile, Muße zu erfordern, und zugeklappt werden zu können. Als könnte man Fernseher nicht ausschalten. Wenn man sich die Technologie-Kritiken der letzten Jahrzehnte anschaut, dann gewinnt man den Eindruck, dass die Adaptionsfähigkeit der Menschen an neue Technologien bei weitem größer ist als die Vorstellungskraft der Kritiker.

Diesen bietet „Fahrenheit 451“ einigen Balsam für den Narzissmus. Die Ausgestoßenen, das sind vor allem Gelehrte, Akademiker. Wieso Bradbury ausgerechnet sie zu einem Refugium von kritischem Geist erklärt, das bleibt sein Geheimnis. Immer ein bedeutungsvoll klingendes Zitat auf den Lippen sind sie einsam, unbekannt, verkannt, macht- und bedeutungslos – genau so, wie sich mancher Intellektuelle zeitlos fühlt.

Wenn sie die Bücher auswendig lernen, bevor sie sie ohne äußeren Zwang verbrennen, dann machen sie sich zu Wissens-Monopolisten, und Wissen wird wieder esoterisch und kann, wie bei den Kelten, nur mündlich weitergeben werden. Das Wort wird zum Raunen am Lagerfeuer und die Gelehrten wieder zu ‚Wissenden‘, zu Behältern von Etwas. Die Verkehrung von Mittel und Zweck im Verhältnis von Büchern und Menschen erreicht hier seinen Höhepunkt. In François Truffauts Verfilmung von 1966 sieht man sie dann wie auf Asphodelwiesen wandeln.

Die gegnerische Seite behält häufig recht. Beatty haut Montag um die Ohren, dass man einem Menschen nur ein paar Verszeilen zu geben brauche, und schon glaube er, „Herr über die ganze Schöpfung zu sein“. Neben der Bibel ist Platons „Der Staat“ das einzige Buch, das mehrmals erwähnt wird, und wahrscheinlich kommt dies nicht von ungefähr, denn in Platons totalitärer Utopie herrschen die Philosophen. Am Ende pulverisiert der Krieg die Stadt, aus der Montag floh; die Akademiker können ihr Aufbauwerk beginnen. Nun ist die Welt wieder „geräumig“.

Titelbild

Ray Bradbury / Tim Hamilton: Fahrenheit 451. Graphic Novel.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
156 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783821861067

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