Vom utopischen Schreiben zur Poetik der Negativität

Michèle Pommé vergleicht die intertextuellen Schreibstrategien von Ingeborg Bachmann und Elfriede Jelinek

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ingeborg Bachmann (1926-1973) und Elfriede Jelinek (1946-) gehören zu den bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts beziehungsweise der Gegenwart“, konstatiert Michèle Pommé zweifellos zurecht. Doch warum verwendet sie nicht das große Binnen-I und spricht von Schriftstellerinnen? Sicher, das generische Maskulinum Schriftsteller würde an dieser Stelle nicht nur merkwürdig klingen, sondern wäre fehl am Platz, denn schließlich handelt es sich bei Bachmann und Jelinek ja um Autorinnen. Andererseits wird Pommé wohl kaum sagen wollen, beide zählten nur zu den bedeutendsten deutschsprachigen SchriftstellerInnen weiblichen Geschlechts, verlören jedoch an Bedeutung, wenn man auch ihre männlichen KollegInnen beziehungsweise deren Werke mit einbezieht. Kurzum, anhand des Zitats lässt sich einmal mehr zeigen, warum das große Binnen-I so unverzichtbar ist.

Michèle Pommé, deren Untersuchung zu „[intertextuelle[n] Schreibstrategien“ der beiden Schriftstellerinnen die Passage entstammt, macht neben Gemeinsamkeiten zwischen beiden Autorinnen, wie etwa die österreichische Herkunft, den „gesellschaftskritische[n] und feministische[n] Impetus ihres Schreibens“, die „große[n] thematische[n] Affinitäten“ ihrer Werke – etwa die „literarische Aufarbeitung der (österreichischen) NS-Vergangenheit“ oder die „radikale Darstellung des Geschlechterverhältnisses aus (vor-)feministischer Perspektive“ – auch deutliche Unterschiede aus. Diese findet sie insbesondere in der jeweiligen „literarischen Behandlung“ der Themen und Anliegen. Präsentiere Bachmann „unterschiedliche Gegenentwürfe“ zu dem „defizitären Geschlechterverhältnis“ (in „Malina“ etwa die „Utopie einer androgynen Ich-Identität“), verzerre Jelinek die Wirklichkeit, indem sie „ausschließlich das Negative“ hervorhebe und auf die Spitze treibe. Des weiteren handelten die Werke der Nobelpreisträgerin satirisch von Sexualität, während Bachmann „todernst“ über Liebe schreibe. Zudem sei es ein vorrangiges Anliegen Bachmanns, „eine neue poetische Sprache zu entwickeln“; Jelinek decke hingegen die „verdeckten Schichten“ der Alltagssprache auf. Bei all diesen Differenzen ist den Werken beider Schriftstellerinnen Pommé zufolge doch der Versuch gemein, auf je eigene Weise „die conditio féminine ins Licht zu rücken“.

In ihrem „Beitrag“ zur „komparatistischen Intertextualitätsforschung“ interessiert sich die Autorin jedoch weniger für die thematischen Affinitäten der Werke von Bachmann und Jelinek als vielmehr für deren jeweilige „Schreibweisen“, die sie anhand von Bachmanns Roman „Malina“ und dem Fragment gebliebenen Romanentwurf „Das Buch Franza“ sowie an Jelineks Roman „Die Klavierspielerin“ und dem „Prinzessinnen“-Stück „Die Wand“ beleuchtet, mit dem die Nobelpreisträgerin ihren „literarische[n] Geistesverwandte[n]“ Ingeborg Bachmann und Sylvia Plath ein „zweifelhaftes Denkmal“ gesetzt habe.

Bevor Pommé die Werke der beiden Schriftstellerinnen und ihre „intertextuellen Schreibstrategien“ miteinander vergleicht, betrachtet sie diese jeweils separat. Dabei geht es ihr nicht darum, möglichst viele intertextuelle Bezüge nachzuweisen und auszuwerten, sondern mittels einer „textimmanenten Interpretationsarbeit“ die Bedeutung der Bezugnahmen hervortreten zu lassen. Pommés besonderes Interesse gilt den intertextuellen Bezügen zur Psychoanalyse. Allerdings geht es ihr keineswegs um eine „psychoanalytische Deutung“ der Werke oder gar darum, anhand dieser die Psyche der Verfasserinnen zu analysieren – sondern darum, herauszuarbeiten, welche „Funktion“ die intertextuellen Bezüge auf die Psychoanalyse in den untersuchten Werken haben. In einem abschließenden Kapitel betrachtet Pommé die Ergebnisse ihrer Studie unter dem Aspekt der „Moderne-Postmoderne-Diskussion“.

Entsprechend ihrer Weigerung, die Autorinnen auf die Couch zu legen, wendet sich Pommé auch gegen autobiografi(sti)sche Lesarten, die in der Bachmann-Forschung des 20. Jahrhundert zumal in Bezug auf den Roman „Malina“ nicht ganz unüblich waren. Was nun die Psychoanalyse betrifft, konstatiert Pommé, dass der Roman zwischen Kritik und „Affirmation“ „oszilliert“. Denn der wissenschaftliche „Autoritätsanspruch“ von Sigmund Freuds Lehre werde zwar in Zweifel gezogen, zugleich werde ihr Diskurs jedoch „affirmativ reproduziert“. Zudem dienten Anleihen bei der Psychoanalyse dazu, körperliche Symptome auf psychische Ursachen zurückzuführen. Allerdings rücke Bachmanns Literarisierung das psychoanalytische „Ausgangsmaterial“ in einen sozialen Zusammenhang, indem sie die von Freud als Hysterie bestimmten physischen Leiden psychisch Erkrankter „als ein gesellschaftlich und historisch bedingtes seelisches Leiden bloßstellt“. In „Das Buch Franza“ mache Bachmann die Hysterie der titelstiftenden Figur darüber hinaus „als Folge einer männlichen Strategie der Vereinnahmung des Weiblichen sichtbar“.

Angemerkt sei, dass Pommé zwar zurecht eine von Sabine Wilke vorgelegte Interpretation des Romanfragmentes zurückweist, in der diese „postuliert, dass es für die reisende weiße Frau nur ‚die Stellung der Weißen Herrin’ gebe, die […] gewaltsam ihre Autorität behauptet und ‚nur als grausame Frau überleben’ könne“. Jedoch findet es auch Pommé „problematisch“, wenn sich die Figur Franza „in ihrem Leid mit den Qualen unterdrückter Völker“ identifiziert und „einen Vergleich zwischen ihrem eigenen Schicksal und dem Los der Ureinwohner verschiedener Länder“ zieht. Denn „als weiße Frau“ sei sie „nicht Opfer, sondern vielmehr Komplizin des Kolonialismus“. (Hervorhebung R.L.). Dass Franza kein Opfer des Kolonialismus ist, trifft zwar zu. Daraus ist aber nicht notwendig zu schließen, dass sie dessen Komplizin ist. Wohl kann man konstatieren, dass sie von ihm profitiert, da er sie privilegiert. Wie Pommé zu sagen, „als weiße Frau“, also qua Hautfarbe und Geschlecht sei sie dessen Komplizin, entbehrt nicht eines leichten biologistischen – gegen die ‚Weißen’ gerichteten rassistischen – Zungenschlags. Dies umso mehr, als die von ihr unterstellte Komplizenschaft bewusste und intentionale Teilhabe an einer verwerflichen Aktivität voraussetzt, während dies bei Nutznießenden (wie es Franza ist) nicht notwendigerweise der Fall ist. Es stellt sich zudem die Frage, warum Pommé an dieser Stelle Franzas Geschlecht betont, indem sie von ihr als „weißer Frau“ und nicht einfach als Weißer spricht. Sie wird doch kaum sagen wollen, dass sich Franza nicht nur aufgrund ihrer „Rasse“ sondern auch aufgrund ihres Geschlechts der Komplizenschaft schuldig mache. Wie dem auch sei. Jedenfalls entdeckt Pommé der literarisierten Engführung der „unterdrückten Völker“ mit dem Leiden Franzas auch etwas Positives. Indem Bachmann den „eurozentrischen Imperialismus“ mit dem „universellen Sexismus“ parallelisiere, mache sie deutlich, „dass die Unterdrückung der Frau durch den Mann nur ein Machtverhältnis unter vielen darstellt“.

Zur „Exegese“ von Jelineks Roman „Die Klavierspielerin“, dessen „Schneideszene“ im Bad sie besonders genau unter die Lupe nimmt, bedient sich Pommé explizit eines anderen „interpretatorischen Ansatzes“ als zur Analyse der Werke Bachmanns. Denn Jelinek supponiere zwar die Psychoanalyse und ihren Diskurs als „Lektüre-Raster“, doch untergrabe ihr Buch sowohl die Methoden der psychoanalytischen Literaturwissenschaft wie auch die Weiblichkeitsdiskurse von Freud und Jacques Lacan, die sie parodistisch reproduziere. Von Bachmann trenne sie zudem, dass sie „die Psychoanalyse von der Figuren- auf die Handlungsebene [überträgt], indem sie psychische Prozesse als äußerliche Handlung inszeniert“. Bei Jelinek sei nicht nur das Verhalten der Protagonistin hysterisch, die Nobelpreisträgerin verlagere das von Luce Irigaray dargelegt „mimetische Prinzip der Hysterie“ außerdem auf die „Produktionsebene“ ihres literarischen Textes. Pommé bringt dies auf die treffende Formel, anders als Bachmann inszeniere Jelinek „nicht die Pathologie, sondern die pathogene Rede“.

Im Anschluss an die separaten Untersuchungen der Roman(fragment)e Bachmanns und Jelineks vergleicht Pommé die Texte anhand der Alternative „Utopie versus Satire“. Halte Bachmann Literatur für ein „Forum hoffnungsvoller Zukunftsprojektionen und optimistischer ‚Volkserziehung‘“, beharre Jelinek darauf, „dass mit der Schrift keine Veränderung herbeigeführt werden könne“. In Bachmanns Roman „Malina“, der „die Utopie durchaus als Utopie“ erkenne, werde die „rein fiktive Natur der Utopie“ zwar nicht geleugnet, doch gelte es, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht aufzugeben. Der Verfasserin gehe es zwar offenbar nicht um deren „detaillierte Schilderung“, sehr wohl aber um die im Menschen angelegte Möglichkeit, das „Gegebene“ zu überschreiten. Bachmann lasse die Ich-Erzählerin des Romans zwar „an der konventionellen Geschlechterhierarchie scheitern“, entwerfe in dem Buch jedoch gleichwohl „die Utopie einer befreiten Weiblichkeit, insofern das Ich die ihm gesetzten Schranken im imaginären transzendiert“. Jelineks „Poetik der Negativität“ beschränke sich hingegen darauf, die „mangelhafte Wirklichkeit“ zu durchleuchten.

Ihre These plausibilisiert Pommé nicht zuletzt anhand der „Spiegelszene“ in „Malina“ und der in dieser eingeschlossenen utopischen Fantasie. Die Autorin führt sie gemeinsam mit einer zweiten Spiegelszene aus Bachmanns etwa gleichzeitig entstandener Erzählung „Probleme Probleme“ nicht nur mit Lacans Theorem des Spiegelstadiums eng, sondern macht auch auf die „zahlreiche[n] Reminiszenzen“ der beiden Erzählungen an die Spiegelszene in Virginia Woolfs Erzählungen „Das neue Kleid“ und „Die Dame im Spiegel. Eine Reflexion“ aufmerksam. Für Pommés Argumentation ist nun wichtig, dass sich in Jelineks Roman zu der „positiv besetzte[n] Spiegelszene“ bei Bachmann keine „Entsprechung“ finden lasse. Vielmehr verweigere die Verfasserin der „Klavierspielerin“ ihrer Protagonistin einen „imaginären Gegenentwurf“ und beraube sie so der „letzten Hoffnung auf Freiheit“. Zugleich beginne ihr Roman dort, wo derjenige Bachmanns ende. Ziehe Bachmanns Ich-Erzählerin die „äußerste Konsequenz“ aus dem „Scheitern der Utopie“ und gehe in den Tod, führe die Klavierspielerin Erika Kohut von Beginn an eine Existenz, der jede „positive Zukunftsperspektive“ fehle. In der „Klavierspielerin“ und mehr noch in der „Wand“ bedürfe es anders als bei Bachmann nicht einmal mehr des Mannes „zur Unterdrückung der Frau“. In dem „Prinzessinnendrama“ beförderten sich die beiden Protagonistinnen sogar „ganz allein ins Jenseits“, womit Jelinek den „passiven Opfer-Diskurs der Figuren“ untergrabe.

Im abschließenden Kapitel stellt Pommé die Zitiertechniken beider Autorinnen einander gegenüber und interpretiert diejenige Bachmanns als modern, diejenige Jelineks als postmodern. Sei die „Referenzstrategie“ der Autorin von „Malina“ durch ihren „vorwiegend objektsprachlichen Bezug“ geprägt, so diejenige Jelineks durch einen „ausschließlich metasprachlichen“. Pommé veranschaulicht dies an beider Bezugnahmen auf den Diskurs der Psychoanalyse. Bachmann beziehe sich vor allem auf deren Objekt, die „hysterische Neurose“, die Nobelpreisträgerin konzentriere sich hingegen mehr auf die „diskursive Darstellung und Verschleierung“ von (psychoanalytisch behaupteten) „Tatsachen“.

Ungeachtet einiger weniger, meist zudem eher geringfügiger Abstriche hat Pommé mit dem vorliegenden Buch insgesamt einen durchaus instruktiven Beitrag zur Bachmann- und Jelinek-Forschung geleistet.

Titelbild

Michèle Pommé: Ingeborg Bachmann - Elfriede Jelinek. intertextuelle Schreibstrategien in Malina, Das Buch Franza, Die Klavierspielerin und Die Wand.
Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 2009.
467 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783861104629

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