Aus dem Leben gegriffen

Bei Arnold Esch erzählen Menschen des Mittelalters aus ihrem Alltag

Von Jutta LadwigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jutta Ladwig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Student unterrichtet den Sohn eines reichen Bürgers. Als er der Schwester seines Schülers begegnet, verliebt sich er in sie und vernachlässigt seine Wissenschaften. Nachdem das Liebesverhältnis stadtbekannt wird, bleibt dem Studenten, der das Priesteramt anstrebt, nur eine Lösung: die Flucht in eine andere Stadt. Doch der Vater zwingt ihn vor Zeugen zum Eheversprechen und verfolgt ihn sogar bis an den Studienort.

Was klingt wie ein historischer Roman, hat sich tatsächlich ereignet und ist schriftlich belegt. Arnold Esch, Professor für mittelalterliche Geschichte, hat in „Wahre Geschichten aus dem Mittelalter“ diese und ähnliche Begebenheiten aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zusammengetragen. Ihr Schauplatz: der gesamte mitteleuropäische Raum. Als Grundlage dienten Esch die Suppliken – von Klerikern oder Laien eingereichte Bittgesuche – des Archivs der Pönitentiarie, das sich heute in den Räumen des Archivo Segreto Vaticano in Rom befindet.

Die vorliegenden „kleinen Schicksale“ sind als Gesuche um Absolution an ein päpstliches Amt überliefert. Nicht selten ist einer der Beteiligten ein Geistlicher. Formuliert sind die Bittschriften als Erzählungen (narrationes), die nicht nur die Sache konkret benennen, sondern auch von den Gegebenheiten berichten, die überhaupt erst zu diesen Ereignissen geführt haben. So erklärt ein junger Mann, er habe als 12-jähriger „bei einer Frau, die gefoltert und auf dem Seil gestreckt wurde, dieses Seil für kurze Zeit“ gehalten, bevor sie verbrannt wurde. Zwei Jahre später handhabte er beim Verhör eines ungeständigen und später enthaupteten Verbrechers erneut das Folterseil. Hat sich der junge Mann dadurch selbst des Mordes schuldig gemacht?

Oder: Ein Geistlicher bekennt sich strafwürdig, da er die vertraulichen Briefe des Burghauptmanns diesem laut vorgelesen hatte – allerdings sei er, der Kleriker, auf der ganzen Burg doch der Einzige gewesen, der das Lesen und Schreiben beherrschte.

Und auch das Wirtshaus ist Schauplatz zahlreicher Streitanlässe, die oft in Handgreiflichkeiten gipfelten – wie in folgendem Beispiel: In einem niederländischen Dorf schickt ein Pfarrer einen anderen ins Wirtshaus, damit er ihm Bier bringe. Doch als derjenige ohne das Gewünschte zurückkehrt, geht der Geistliche selbst, zahlt der anwesenden Schankmaid den genannten Preis und zapft sich mit ihrer Erlaubnis im Keller sein Bier kurzerhand selbst. Doch der hinzukommende Wirt und dessen Frau sind von dieser Selbstbedienung nicht begeistert und schlagen den Geistlichen nieder – was dieser nicht tatenlos mit sich machen lässt.

Die vorliegenden Erzählungen erinnern an die Novellen Boccaccios oder Franco Sacchettis, allerdings enden sie ohne die für die Novelle typische sinngebende Schlussbemerkung. Was sie gemeinsam haben, sind die Einblicke ins mittelalterliche Leben, welches stark von Glauben und von der Kirche geprägt ist. Doch nicht das Kirchenrecht steht im Vordergrund, der Leser erfährt von den Sorgen und Nöten kleiner Leute aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und in verschiedenen Lebenssituationen wie Krieg, Hungersnot oder auf der Pilgerfahrt.

Allerdings weist Esch darauf hin, dass dieser Blick geschönt ist. Bis zur Niederschrift durchliefen die Erzählungen mehrere Instanzen und dienten nur einem Zweck: der Bitte um Absolution. Nachträgliche Änderungen zu Gunsten des Bittstellers sind nicht ausgeschlossen.

Dem ungeachtet sind die Erzählungen kurzweilig beschrieben, oftmals wünscht man sich jedoch eine detailliertere und längere Wiedergabe der Fälle, da diese zum Teil nur kurz angerissen oder in einer Reihe ähnlicher Beispiele aufgezählt werden. Die ausführlich dargestellten „kleinen Schicksale“ hingegen sind lebensnah und anschaulich beschrieben. Damit zeichnet Esch ein lebendiges Porträt der mittelalterlichen Gesellschaft und zeigt, dass die Realität des Mittelalters so ereignisreich und spannend sein kann, wie ein historischer Roman.

Titelbild

Arnold Esch: Wahre Geschichten aus dem Mittelalter. Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst.
Verlag C.H.Beck, München 2010.
222 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783406601330

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