Der letzte Europäer

Manfred Riedels Studien über deutsches Schrifttum zwischen Goethe und Nietzsche

Von Gabriele GuerraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Guerra

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als der junge Thomas Mann am Ende des 19. Jahrhunderts nach seinen Lieblingsschriftstellern befragt wurde, antwortete er prompt: „Heine, Goethe, Bourget, Nietzsche, Renan“. Die Reihenfolge kann zufällig sein, und die Auswahl mag den heutigen Leser erstaunen – von Bedeutung ist aber die gleichzeitige Nennung von Goethe und Nietzsche. Die Begebenheit erzählt zunächst etwas über die persönlichen Stellung und den literarischen Geschmack eines jungen Schriftstellers um die Jahrhundertwende, wie er selbst damals einer war. Darüber hinaus aber wirft sie die Frage danach auf, inwiefern der Autor des „Fausts“ und der Philosoph aus Röcken, der Olympier und der Dionysiker in einer Kulturgeschichte des deutschen Literatur zusammen zu denken sind. Eine mögliche Antwort kann lauten: Durch die Verbindung von Kunst und Macht – und deren Wechselwirkung zueinander. Der Autor des vorliegenden Buches Manfred Riedel, der 2009 verstorbene Germanist, Philosoph und Schüler Gadamers kündigt deutlich an, dass er hinter der Beziehung der besagten Instanzen Kunst und Macht mehr sieht als den Versuch, eine direkte Gedankenlinie von Nietzsche zu Goethe innerhalb der deutschen Geistes- und Literaturgeschichte zu zeichnen: „Mein Buch überprüft die einst zu Nietzsches Gunsten vorgebrachten Argumente vom ‚Willen zur Macht als Kunst‘ und vergleicht sie mit Georges und Hofmannsthals Goethe- und Nietzsche-Verständnis“.

Riedel entfaltet offen und klar die Intention des Buches, den roten Faden von Kunst und Macht in der Klassischen Moderne zu verfolgen, der ja die politische Rolle des Künstlers und des Schriftstellers unterstreicht. Die „Linienzüge“, die der Autor somit aufzeigt, beginnen bei Goethe und dessen Italienträumen, und sie setzen sich fort bis hin zu Nietzsche und dem jungen Stefan George, die beide Goethes Spuren folgen.

Die deutsche Italienfaszination interpretiert Riedel nicht nur unter der Perspektive der Anziehungskraft der klassischen Künste, deren Heimat Italien unbestreitbar war, sondern auch im Bezug auf die Vorstellung eines „klassischen Menschen“ und dessen Totalität und Vollkommenheit – eine Instanz, die auf problematische, aber konstitutive Weise an die Natur gebunden ist. Der Totalität anstrebende Geist, der den besagten Schriftstellern gemeinsam ist, vereint nach Riedel das Höchste und das Tiefste des Menschlichen und weist zugleich auf den verspäteten Charakter der deutschen Literatur, die nicht in der Lage war, einen Dichter-Seher aus den eigenen Reihen hervorzubringen, wie etwa Homer und Vergil, Dante und Shakespeare. Unter diesem Blickwinkel rekonstruiert Manfred Riedel das Goethe-Bild bei George und Hugo von Hofmannsthal und beschreibt es als eine absolute Sehnsucht nach einer verlorengegangenen, noch besser: nie wirklich entstandenen Totalität zwischen Göttern und Menschen, Natur und Kultur. Innerhalb dieser melancholischen, aber auch zukunftsträchtigen Entzifferung der literarischen Geistesgeschichte Deutschlands zeichnet der Autor auch jene „Hölderlin-Linien zur Moderne“ nach, die sich in der tragischen Wahrnehmung des Traditionsabbruchs und in dem „Entschwundenen“ des Schönen verkörpern.

Hintergründig agiert hier nach Riedel Friedrich Nietzsche, der für George die „Grundnorm der Humanität“ vorgab. Denn für George liegt „für die ganze Menschheit ein unvergleichbares, einziges und vollkommenes eingeschlossen […], dem nachzueifern alles aufgeboten werden müsse und dass die bestrebungen des so beliebten fortschrittes erst einmal in diese bahn zu lenken seien“. Auf diese Weise, kommentiert Riedel, „statt ‚Bildungsphilister‘ zu sein und zu bleiben, könnten die Goethe-Deutschen ‚Griechen der neueren Zeit‘ werden“. Diese Art „translatio imperii“ im kulturellen Sinn muss auch im Sprachlichen stattfinden, um eine Sprache tief zu erneuern, die eigentlich kleinbürgerlich und philisterhaft klingt: „Nietzsches wie Georges Wege stehen am Anfang im Zeichen der Empörung gegenüber dem vernachlässigten, verarmten, verdumpften Epigonendeutsch eines Volkes, das einst, bevor es die staatliche Einheit erreichte, die Vielfalt seiner individuellen Seele mittels einer reich verschlungenen Syntax über ganz Europa und die Welt ausgoss und eine Sprache besaß, in der sich die europäische Seele mit sich zu unterreden vermochte“.

Aus diesen kulturphilosophischen und sozusagen geomorphologischen Prämissen heraus beschreibt Riedel dann eine „Tektonik des Dichterstaates“, die sich vor allem auf das Rhythmische und auf das Architektonische der Dichtung bezieht, und hinter der die grundlegende Idee der Kunst als Macht steht. Deren logische Konsequenz ist die Konservative Revolution Hofmannsthalscher Observanz und kunstreligiöser Prägung, die nach Riedel den Gipfelpunkt der Verbindung zwischen Goethe und Nietzsche bildet: „Goethes starke Phantasie, die dem ‚Konservativen‘ näher steht als Romantisch-Revolutionärem, der Hang zu Zauberei und Magie, nach Nietzsche eine ‚Gattung gewaltsameren Zwangs‘ denn Liebe, die bindet und gebunden wird, sie stehen am Anfang von Hofmannsthals Dichtung“.

„Goethe“ ist für Hofmannsthal auch, wie für George, Symbol für all das, was die Deutschen nicht sind – und was sie hätten sein müssen (und vielleicht in der Zukunft immer noch werden können): Diese Utopie des Schrifttums der Nation ist nach Riedel eine Ergänzung von Goethes „Weltliteratur“ – eine Kultursynthese, in deren Zentrum das Menschliche schlechthin steht. In diesem Sinn setzt Riedel Nietzsches Diktum „Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen“ und seine Traumwelt der „guten Europäer“ gleich, da in beidem eine „Entdeutschung“ stecke, die die Wahrung, ja Konservierung der europäischen Tradition impliziert. „Geist nährt sich und wächst nur durch Konservation, fortwährendes Bewahren und Bezeugen, sich verleibend in Individuen, Dichtern, Künstlern, Denkern und Menschenkreisen, die sie umschließen, um sich immer weiteren Kreisen mitzuteilen und zu öffnen“.

Auf diese Weise plädiert Riedel für eine Europaidee rein geistiger Natur, die sich von Goethe bis George und Hofmannsthal (via Nietzsche) erstreckt. Damit impliziert er die faszinierende These, dass der gute Europäer ein Dichter sein muss – eine These aber, die indes bis heute keinen Platz in der Geschichte gefunden hat.

Das Buch von Riedel erzählt letztlich von der Utopie eines Dichter-Staates im kosmopolitischen Sinn: Dass diese Idee eines dichterischen Europa aber sternenweit von den konkreten historischen Geschehnissen gewesen war (und wahrscheinlich immer noch ist), hatte schon Walter Benjamin festgestellt, als er in einem 1940 datierten Brief sorgenvoll konstatierte, dass das aktuelle, durch die Nazis bedrohte Europa aus den beiden nietzscheanischen Figuren des guten Europäers und des letzten Menschen nun das dramatische Bild des „letzten Europäers“ hätte entstehen lassen.

Vielleicht ist nur die ironisch-tragische Idee dieses „letzten Europäer“ in der Lage, die Last der literarischen Tradition auf sich zu nehmen.

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Manfred Riedel: Im Zwiegespräch mit Nietzsche und Goethe. Weimarische Klassik und klassische Moderne.
Mohr Siebeck, Tübingen 2009.
250 Seiten, 69,00 EUR.
ISBN-13: 9783161500855

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