Ambivalenzen auf beiden Seiten

Peter Sprengel über Gerhart Hauptmann im „Dritten Reich“

Von Gunther NickelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunther Nickel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Carl Zuckmayer im Dezember 1943 von Mitarbeitern des ersten US-amerikanischen Auslandsgeheimdienstes „Office of Strategic Services“ (OSS) eine Liste mit Namen von Schriftstellern, Journalisten, Verlegern und anderen Exponenten des kulturellen Lebens im „Dritten Reich“ mit der Bitte vorgelegt wurde, sie zu porträtieren, befand sich auf ihr auch der Name Gerhart Hauptmann. Zuckmayer arbeitete diese Liste zwar getreulich ab und äußerte sich dabei auch über Menschen, die er nur vom Hörensagen kannte. Über Gerhart Hauptmann aber, mit dessen Werk er bestens vertraut war, den er persönlich kennengelernt und über den er aus Anlass des 60. und 70. Geburtstags 1922 und 1932 Reden gehalten hatte, verlor er kein Wort, obwohl sein Name auf der überreichten Liste stand. Auch in dem 1957 entstandenen Porträt für die vierbändige, von Hermann Heimpel, Theodor Heuss und Benno Reifenberg herausgegebene biografische Enzyklopädie „Die großen Deutschen“ und in seiner Festrede „Ein voller Erdentag“ zum 100. Geburtstag Hauptmanns 1962 sparte er dessen Verhältnis zum NS-Staat aus.

Zumindest Zuckmayers Zurückhaltung nach 1945 bei diesem Thema lässt sich erklären. Nach der Annexion Österreichs durch das Deutsche Reich hat Hauptmann im Beisein seines Verlegers Gottfried Bermann Fischer angeblich gesagt: „Der Traum von Heinrich Heine ist in Erfüllung gegangen“ (so kolportiert es Bermann Fischer in seiner Autobiografie „Bedroht – Bewahrt“). Da Hauptmann sich über den „Anschluss“ entsprechend begeistert auch in Presseverlautbarungen äußerte, war er für Bermann Fischer fortan persona non grata. Zuckmayer, dessen Werk von 1934 an bei S. Fischer seine verlegerische Heimat hatte, wollte nach dem Zweiten Weltkrieg zweifellos nicht an dieser Wunde rühren, zumal es schon 1946 zu einem Konflikt mit Bermann Fischer gekommen war, weil Zuckmayer sich geweigert hatte, sich in seinem Nachruf auf Hauptmann für die „Neue Rundschau“ tadelnd über dessen Haltung in der NS-Zeit zu äußern.

Aber warum legte er sich diese Zurückhaltung auch 1943/44 bei seiner Arbeit für das OSS auf? Wahrscheinlich, so steht zu vermuten, war Hauptmanns Haltung und Auftreten für ihn derart schwer zu taxieren, dass Zuckmayer den Versuch gar nicht erst wagte. Seine Nähe zum Autor der „Weber“ war zu groß, um im Zweifelsfall auch ein Fehlurteil zu riskieren, aber sie war wohl – auch des Altersunterschiedes wegen – nicht groß genug, damit Zuckmayer sich in seinem Urteil so sicher hätte sein können wie bei seinen Freunden Heinz Hilpert, Emil Jannings, Peter Suhrkamp oder Werner Krauß. Auch die letzte Begegnung der beiden Dramatiker im Jahr 1937 hat daran offenbar nichts ändern können.

Hauptmanns Verhalten nach 1933 musste für jeden Außenstehenden wie eine Anbiederung an die neuen Machthaber wirken. Für den amerikanischen Publizisten William L. Shirer, der bis 1940 als Korrespondent für amerikanische Presseagenturen in Berlin arbeitete, war er zu nichts weniger als „zum Nazi geworden“. Dass diese Einschätzung ohne jeden Zweifel falsch ist, lässt sich heute feststellen – anhand von Quellen, die weder Shirer noch Zuckmayer erreichbar gewesen sind (erst 1969 erwarb die Stiftung Preußischer Kulturbesitz Hauptmanns Nachlass für die Staatsbibliothek zu Berlin). So weiß man heute, dass Hauptmann für die Machthaber im NS-Staat immer ein Repräsentant der ihnen verhassten „Systemzeit“ geblieben ist. Allerdings wollten sie sein Renommee als Literaturnobelpreisträger für die eigenen Zwecke nutzen, und daher fehlte es nicht an Versuchen, ihn zu vereinnahmen. Hauptmann wiederum war von den innen- und außenpolitischen Erfolgen Hitlers nach 1933 mehr als nur angetan. Dessen „Rassenpolitik“ billigte er indes gar nicht, unterschätzte freilich zunächst die Ernsthaftigkeit, mit der sie betrieben wurde.

Jan-Pieter Barbian hat diesen Ambivalenzen auf beiden Seiten 1996 einen Für und Wider abwägenden Aufsatz gewidmet, in dem er schon Hauptmanns Rückkehr nach Deutschland aus einem Auslandsaufenthalt im Mai 1933 missbilligt, vor allem aber „seine gemeinsamen Auftritte mit NS-Größen in der Öffentlichkeit, die Vielzahl seiner ‚bedauerlichen Erklärungen‘ für das deutsche Vaterland und die Bereitschaft seine Dramen zugunsten des Regimes im In- und Ausland aufführen zu lassen“ (Jan-Pieter Barbian: „Fehlbesetzung“. Zur Rolle Gerhart Hauptmanns im Dritten Reich. In: Ders.: Die vollendete Ohnmacht? Schriftsteller, Verleger und Buchhändler im NS-Staat. Essen 2008).

Das Urteil über die Rolle Hauptmanns im „Dritten Reich“ fällt in Peter Sprengels Buch „Der Dichter stand auf hoher Küste“ nicht gravierend anders aus, nur weitaus differenzierter und damit auch deutlich gedämpfter. Natürlich ist dieses Ergebnis auch der Länge der Darstellung geschuldet, aber nicht nur. Dass die ultima ratio des Regierungswechsels im Januar 1933 für einen Mann wie Gerhart Hauptmann die Emigration aus Deutschland beim besten Willen nicht sein konnte, versteht sich für Sprengel zum Beispiel ganz von selbst. Und er zeigt immer wieder, wie genau man die Quellen studieren muss, wenn man nicht zu Fehlurteilen gelangen will.

So streicht sich Hauptmann bei der Lektüre von Hitlers „Mein Kampf“ eine kritische Bemerkung über die liberale Presse der Weimarer Zeit an, die lautet: „Ihre verklärt geschriebenen Theaterkritiken galten immer dem jüdischen Verfasser, und nie traf ihre Ablehnung jemand anderen als den Deutschen.“ Hauptmann notierte dazu: „Kerr: Werfel Hofmannsthal u viele andre.“ Diese Randnotiz wurde 1976 in einer Studie von Hans von Brescius als Zustimmung gedeutet, tatsächlich ist sie, wie Sprengel durch das Heranziehen von Hauptmanns Tagebüchern zeigen kann, eindeutig als Kritik an dem gemeint gewesen, was Hitler behauptet hat.

Die Annahme eines von Hauptmann mündlich gegenüber Gottfried von Bismarck vorgetragen Aufnahmegesuchs in die NSDAP weist Sprengel ebenfalls als abwegig zurück: „Ein derartiger Besuch beim ,Tyrannen von Rügen‘ kann aufgrund der lückenlosen Kalendereinträge Margarete Hauptmanns ausgeschlossen werden.“ Am Beispiel einer 1935 erfolgten Inszenierung von Hauptmanns „Die Jungfern vom Bischofsberg“ vermag er auch exemplarisch zu demonstrieren, mit welcher Vorsicht man das beliebte Genre der autobiografischen Lebensrückblicke konsultieren muss: „Marcel Reich-Ranickis Erinnerungen machen aus der zur Bühne gerichteten Hand einen Hitlergruß – nicht der einzige Fehler, der diesem Geschichtszeugen unterläuft.“ Passagen wie diese sind Lehrbeispiele für die Vor- und Umsicht, die man generell bei hermeneutischen Untersuchungen walten sollte, ganz besonders aber in Studien zur Literatur im „Dritten Reich“, wo man sie nicht selten vermisst.

Die Korrektur von Forschungsirrtümern und der Hinweis auf Verschiebungen im Erinnerungsbild von Zeitzeugen nimmt Sprengel indes mehr en passant vor. Sein Interesse gilt auch nicht ausschließlich der politischen Hermeneutik von Leben und Werk. Beleuchtet werden etwa Hauptmanns Verhältnis zum Film, die Umstände der Archivierung dessen, was einst sein Nachlass werden sollte, der familiäre Kontext und vor allem die Genese des Spätwerks. Hier, im Nachzeichnen von Hauptmanns Auseinandersetzung mit Goethe bei der Niederschrift seiner „Atriden-Tetralogie“ und des „Märchens“, drängt sich Politisches und Zeitgeschichtliches zwangsläufig wieder auf, ist beiden Werken eine Kritik der nationalsozialistischen Gegenwart doch unverkennbar eingeschrieben. Nicht nur deshalb wächst der Respekt vor Hauptmann, der oft – so von Thomas Mann – lächerlich gemacht oder kurzerhand – so von Klaus Mann – als dumm abgefertigt wurde. Hatte Hauptmann als Künstler auch seinen Zenit längst überschritten – naiv oder gar indiskutabel muten seine Überlegungen wahrlich nicht an. Der Versuch einer Spiegelung und Deutung des Zeitgeschehens mit Hilfe mythisch-allegorischer Muster ist vielmehr überaus typisch für die 1940er-Jahre und findet sich allenthalben, und zwar sowohl bei Exilanten als auch bei Inneren Emigranten.

Eine naheliegende Gegenüberstellung etwa der „Atriden-Tetralogie“ und Thomas Manns „Doktor Faustus“ nimmt Sprengel jedoch nicht vor. Er lädt am Ende seines Buchs aber gleichsam dazu ein, indem er demonstriert, dass eine ernsthafte und vorurteilsfreie Beschäftigung mit Hauptmanns Spätwerk aller verfestigten Vorurteile über diesen Autor zum Trotz tatsächlich lohnend ist. Sprengel sagt das nicht ausdrücklich, aber er zeigt es genauso eindrucksvoll wie er Seite um Seite beweist, dass akribisches Quellenstudium ungemein ertragreich sein kann.

Titelbild

Peter Sprengel: Der Dichter stand auf hoher Küste. Gerhart Hauptmann im Dritten Reich.
Propyläen Verlag, Berlin 2009.
381 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783549073117

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