‚Wahre Bilder‘ in Wissenschaft und Kunst

Anja Zimmermann untersucht die Geschichte der Objektivität als Stilphänomen

Von Katja HettichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hettich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Vorstellungen von ‚Objektivität‘ selbst nicht ‚objektiv‘ im Sinne einer überindividuellen, überzeitlichen, überkulturellen Wahrheit sind, ist eine wissenschaftsgeschichtliche Binsenweisheit. Sie sind im Gegenteil eng verbunden mit bestimmten Wissensordnungen, Wissenschaftskulturen und deren Wahrheitsbegriffen – und damit, wie unter anderem die renommierten Wissenschaftshistoriker Lorraine Daston und Peter Galison in ihrer viel beachteten Studie Objektivität (2007) gezeigt haben, historisch wandelbar. Daston und Galison haben auch herausgestellt, dass die Geschichte der Objektivität vor allem eine der wissenschaftlichen Bildproduktion und -rezeption ist. Während zuvor gerade das subjektive Urteil, die fachkundige Auswahl des Typischen die ‚Naturwahrheit‘ einer wissenschaftlichen Abbildung sicherte, wurde dieses Ideal im 19. Jahrhundert abgelöst: Sie weicht dem Ethos einer aperspektivischen und mechanischen Objektivität, in der die Dinge unter weitgehender Ausschaltung menschlicher Intervention für sich zu sprechen haben.

Ein Aspekt, den Daston und Galison vernachlässigen, ist die Reichweite des Objektivitätskonzepts, das das moderne Denken nicht nur als naturwissenschaftliche Erkenntniskategorie prägt, sondern über Disziplingrenzen hinweg verhandelt wird. In diese Lücke fügt sich die Habilitationsschrift der Kunsthistorikerin Anja Zimmermann ein, die untersucht, wie Diskurse der Medizin, der Kunst und der ästhetischen Theorie seit dem 18. Jahrhundert bei der Entwicklung einer „Ästhetik der Objektivität“ ineinander greifen. Die Autorin begreift Objektivität als einen Denkstil im Sinne Ludwig Flecks, der sich in der Verschränkung verschiedener Diskursfelder entwickelt hat. Dabei habe sich der Begriff, der im 19. Jahrhundert vor allem als Ideal naturwissenschaftlicher Erkenntnis seinen Aufstieg erlebte, als ein bildtheoretisches Konzept automatisch an Fragen der Ästhetik abarbeiten müssen, die zur gleichen Zeit in künstlerischen und kunsttheoretischen Werken um Begriffe wie ‚Wahrheit‘, ‚Sichtbarkeit‘ und ‚Realismus‘ kreisten.

Als zentrales Moment bei der Entwicklung des Objektivitätsparadigmas stellt Zimmermann den Wandel der epistemologischen Rolle des Wissenschaftlers beziehungsweise des Künstlers heraus, die sich in ihrer Selbstpositionierung wechselseitig aufeinander und auf die dem anderen jeweils zugeschriebenen Kompetenzen und Unzulänglichkeiten bei der Erzeugung des ‚wahren Bildes‘ beziehen. Besonders ausführlich wird dies am Beispiel der Arbeiten des Nervenarztes Duchenne de Boulogne veranschaulicht, der Mitte des 19. Jahrhunderts die experimentelle Reizung der Gesichtsmuskeln seiner Probanden fotografisch festhielt und sich dabei selbst zugleich als einen für die Wahrheit des Abgebildeten garantierenden Bildproduzenten inszenierte. Bei seinen Illustrationen griff der Mediziner traditionell auf Körperdarstellungen der antiken Kunst zurück, deren idealisierte Ästhetik ihm als negativer Bezugspunkt für die Darstellung pathologischer Abweichungen diente. Zugleich forderte er in seinen Schriften jedoch eine Korrektur der altgriechischen Laokoon-Skulptur gemäß seiner eigenen Beobachtung der menschlichen Gesichtsmuskulatur und proklamierte damit die Überlegenheit des naturwissenschaftlichen Blicks gegenüber dem des Künstlers.

Als wichtigstes Scharnier zwischen wissenschaftlichen und künstlerischen Körperrepräsentationen im 19. Jahrhundert stellt Zimmermann das Konzept des Hässlichen heraus, dessen Darstellung einerseits im Zentrum des an naturwissenschaftlichen Menschenbildern orientierten künstlerischen ‚Realismus‘ stand, und das andererseits die medizinische Diagnostik, die Abweichungen vom Schönheitsideal als Zeichen der Krankheit liest, ästhetisch fundierte.

Auch die neuen Sehmodelle, die Michel Foucault als konstitutiv für das Selbstverständnis der modernen Medizin herausgearbeitet hat, sieht Zimmermann in struktureller Verbindung mit der Konzeption des künstlerischen Blicks im 19. Jahrhundert: Hier wie da offenbare sich die Wahrheit wie von selbst dem souveränen Blick des professionellen Betrachters. Dass dieses Dispositiv an geschlechtsspezifische Zuschreibungen gekoppelt gewesen sei, versinnbildliche der damals geläufige Topos einer sich vor dem objektiv registrierenden Auge des (selbstverständlich männlich gedachten) Wissenschaftlers oder Künstlers entschleiernden (selbstverständlich weiblich allegorisierten) Natur.

Zimmermanns Studie stützt sich auf umfangreiches Quellenmaterial. Dazu zählen neben wissenschafts-, kunst- und literaturtheoretischen Texten (unter anderem von Duchenne de Boulogne, Claude Bernard, Konrad Fiedler, August Rauber, Heinrich Wölfflin und Emile Zola) medizinische und künstlerische Abbildungen. Die Visualisierungsstrategien, die den objektivierenden Blick des Arztes und des Künstlers auf den menschlichen – und insbesondere auf den weiblichen – Körper übersetzen, illustrieren Bildbeispiele, die vom anatomischen Schwangerschaftsatlas des schottischen Arztes William Hunter aus dem Jahr 1874 über unveröffentlichtes Archivmaterial von unbekannten Ärzten und Krankenhäusern und die berühmten Hysterikerinnen-Fotografien des Psychiaters Charcot bis hin zu Edouard Manets Olympia reichen. Die Breite des Untersuchungsmaterials und der multiperspektivische Analyseansatz haben den Vorteil, die Vielfältigkeit der Wechselwirkungen zwischen so verschiedenen Feldern wie Naturwissenschaft, medizinischer Praxis, Kunst und Literatur bei der Genese des objektiven Stils aufzuzeigen. Interessant ist zum Beispiel, dass sich die behandelten Theorietexte nicht nur auf objektivierende Bildpraktiken beziehen, sondern dass auch der Zusammenhang zwischen den Realismuskonzeptionen verschiedener Künste gesehen wird. Im Kontext von Zolas Entwurf des Experimentalromans hätte es sich jedoch angeboten, die Frage nach den Unterschieden in der Wirklichkeitsmodellierung in visuellen Medien und in der Literatur zumindest aufzuwerfen.

Das Neben- und Ineinander verschiedener Theoretisierungen und Praktiken der Objektivität macht deutlich, dass diese eine durchaus von Anfang an „von Widersprüchen und unterschiedlichen Einschätzungen geprägte Angelegenheit“ war, die bis in heutige Debatten über die Produktion und Präsentation von Wissen hineinreicht. Dem Leser fällt es allerdings nicht ganz leicht, in der Fülle der erwähnten Namen und Theoriebausteine eine Argumentationslinie zu verfolgen. Vielleicht hätten auch ein erweitertes Inhaltsverzeichnis, eine deutlichere typografische Unterscheidung verschiedener Gliederungsniveaus im Text und ein Personenregister die Orientierung etwas erleichtern können. Dennoch lohnt die Lektüre des Buches gerade deswegen, weil es keine geschlossene Geschichte des Objektivitätsbegriffs präsentiert, sondern eine Reihe von Zusammenhängen offen legt, die zum Weiterdenken anregen.

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Anja Zimmermann: Ästhetik der Objektivität. Genese und Funktion eines wissenschaftlichen und künstlerischen Stils im 19. Jahrhundert.
Transcript Verlag, Bielefeld 2009.
250 Seiten, 28,80 EUR.
ISBN-13: 9783899428605

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