Ein halbes Jahrtausend im Überblick

Wolfgang Reinhard bearbeitet seine „Kleine Geschichte des Kolonialismus“ neu

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kolonialismus ist, in seinen Anfängen, ein Hinweis auf den fortgeschrittenen Stand der Gattung Mensch. Dass es Ressourcen für gezielte Eroberungen gibt, dass es statt ums nur Totschlagen und Beutemachen um die Organisation einer neuen Herrschaft geht, zeigt einen Entwicklungsstand, der die früheste Not des Von-der-Hand-in-den-Mund-Lebens bereits überwunden hat. Kolonialismus in diesem Sinne gibt es seit Jahrtausenden.

Wolfgang Reinhard beschäftigt sich in seiner „Kleinen Geschichte des Kolonialismus“ allerdings mit dem, was heute fast ausschließlich als Kolonialismus gilt: mit der weltweiten Dominanz einiger europäischer Staaten, die im 15. Jahrhundert ihren Ausgangspunkt hat. Außerdem werden Sekundärimperialismen von Staaten wie Japan, die von europäischen Vorbildern lernten, gestreift.

Reinhard informiert umfassend, das heißt über jede vom Kolonialismus betroffene Gegend in jeder Phase der europäischen Expansion. Ist auch die vorliegende Zweitauflage von 2008 um etwa vierzig Seiten umfangreicher als die Erstausgabe von 1996, so erweist sich angesichts der gedrängten Darstellung und einer Überfülle an Daten und Fakten eine durchgehende Lektüre immer noch als mühsam. Wer aber ein spezielles Interesse an bestimmten Ausschnitten der Kolonialismusgeschichte hat, wird sich darüber schnell und umfassend informieren können.

Auf vierhundert Seiten alles bringen zu wollen, verhindert die Schwerpunktsetzung, die für eine theoretische Durchdringung des Gegenstands nötig gewesen wäre. Reinhards diesbezügliche Ansätze bleiben undeutlich, weil er die Position seiner Gegner nur allzu knapp skizziert und auch seine eigene Meinung im vorgegebenen Rahmen nicht ausreichend begründen kann. Es bleibt bei einer Geschichte des Kolonialismus, die als solche ihren Wert hat. Eine Theorie des Kolonialismus, so notwendig für sie die Fakten sind, bräuchte einen völlig anderen Ansatz.

Gegenüber der Erstausgabe bringt die Neufassung neben einigen Erweiterungen auch eine zuweilen präzisere Sprache. Sah Reinhard früher in Lateinamerika metaphorisch die „Schatzhäuser der neuen Welt“, so ist der entsprechende Abschnitt nun als „Der iberische Atlantik“ bezeichnet, was die Handelsverhältnisse während einiger Jahrzehnte zutreffender wiedergibt. Freilich erstaunt, wie sorglos Reinhard immer noch einen lange schon als unwissenschaftlich erkannten Rassebegriff verwendet – so ist bei ihm das vorkoloniale Afrika nicht nur von „Negriden“ und „Europiden“ bevölkert, sondern auch den „Äthiopiden“, die „Merkmale der schwarzen und der weißen Rasse verbinden“. Reinhards Unentschlossenheit, ob letztere nun eine Rasse sind oder irgendwas zwischen den Rassen, zeigt unfreiwillig das Willkürliche jedweder Rassenkonstruktion.

Politisch unkorrekt kommt das Buch an mehreren Stellen daher, nur manchmal zu seinem Vorteil. Reinhard bekennt sich mehrfach zu einer eurozentrischen Sicht, denn der Kolonialismus sei ja der Sache nach eine europäische Angelegenheit gewesen. Eine Rolle spielt für den Historiker dabei sicher die Quellenlage: Schriftkulturen hinterlassen mehr Zeugnisse als mündliche Überlieferungen, Sieger mehr als Verlierer. Nur sollte dies zum Versuch führen, die schlechter repräsentierte Perspektive wenigstens zu rekonstruieren; schon aus dem historiografischen Interesse, Vorgänge möglichst umfassend wiederzugeben. Dies aber geschieht hier nur selten.

Reinhard akzentuiert zu Recht die Beteiligung nichteuropäischer Akteure an den Härten des letzten halben Jahrtausends. So war Afrika der letzte Kontinent, der in der Fläche erobert wurde, und profitierten afrikanische Zwischenhändler an der Küste lange Zeit vom Verkauf der im Hinterland gefangenen Sklaven nach Amerika. Europäer alleine hätten die Kette von Modernisierungen, die Kolonialismus auch bedeutet, nie zuwege gebracht. Fast überall waren Anpassungsbereitschaft und Gewinnstreben lokaler Gruppen unabdingbar, und häufig führte deren Handeln aus ihrer Sicht zum Erfolg. Aber leider ist dieser Aspekt (und damit das Potential außereuropäischer Gesellschaften, sich selbst zu modernisieren) nur in wenigen Stichworten angedeutet.

Ein ebenfalls allzu knappes Schlusskapitel soll die Frage nach den Auswirkungen des Kolonialismus beantworten. Je etwa fünf Seiten sind dabei der Seite der Kolonialisten und der der Kolonialisierten gewidmet. In diesem Rahmen kann Reinhard nur Skizzen geben; seine weitreichenden Thesen hätten eine erheblich bessere Begründung erfordert. So überzeugt zwar, dass die Kolonialwirtschaft immer nur einen kleinen Anteil an der europäischen Gesamtwirtschaft besaß und dass Gewinne meist von Privatinvestoren – und nicht vom Staat – einkassiert wurden. Doch folgt daraus nicht, dass der Kolonialismus ökonomisch unwichtig war. Auch ein geringer Zusatzgewinn kann sich über die Jahrhunderte durch Investition zum entscheidenden Vorteil akkumulieren, und unter kapitalistischen Bedingungen bedeuten kapitalkräftige Unternehmer die Stärke des Staats.

Was die Seite der Kolonialisierten angeht, so setzt sich Reinhard von kulturalistischen Vorstellungen über eine Rückkehr zu den Ursprüngen entschieden ab. Tatsächlich lässt sich, was eine original eigene Kultur sei, nur willkürlich definieren; und da die Beseitigung traditionaler Bestände auch einen emanzipatorischen Gehalt hat, wäre eine Wendung zu einer solch herbeifantasierten Vergangenheit auch gar nicht wünschenswert. Ideologien, die sich einer europäisch definierten Moderne verweigern, haben damit einen rein destruktiven Gehalt. Es hat sich zu viel verändert: Das Bessere liegt vielleicht in der Zukunft, doch nicht in der Vergangenheit.

Unter wirtschaftlichem Gesichtspunkt jedoch irritiert Reinhards These, es lasse sich nicht angeben, ob der Kolonialismus für bestimmte Teile der Welt gut oder schlecht gewesen sei. Eingeschränkt auf bestimmte Zeiten und Gebiete lässt sich dies durchaus untersuchen. In manchen Regionen sind alte Strukturen zerstört, ohne dass es bisher gelungen wäre, gute neue Strukturen aufzubauen. Reinhard lastet dies auch den nachkolonialen Eliten an, die ihre Länder nach der Entkolonialisierung schlecht verwaltet hätten. Das stimmt in vielen Fällen – doch liegt dies häufig an der Politik des Westens, der im Kalten Krieg fast durchweg die Rolle des Aggressors besetzte. Wo immer es möglich war, brachten die USA Kollaborateure an die Macht, deren Zweck allein die eigene Bereicherung war und die der international agierenden Konzerne. Der Kolonialismus mag auch zu Fortschritten geführt haben – die nachkoloniale Politik aber hat zielgerichtet dazu geführt, dass weite Gebiete der Welt heute jene Elendsregionen sind, in denen die von Reinhard beklagten Traditionalismen triumphieren.

Solche Widersprüche geraten nicht in den Blick dieser „Kleinen Geschichte des Kolonialismus“. Als Nachschlagewerk, was wann auf welchem Kontinent geschah, ist das Buch hingegen gut geeignet.

Titelbild

Wolfgang Reinhard: Kleine Geschichte des Kolonialismus.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2008.
416 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783520475022

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