Fiktive und faktische Buchführung

Über Evelyn Polt-Heinzls „Einstürzende Finanzwelten“

Von Alexander PreisingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Preisinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Konnten Jochen Hörisch in seinem 2003 erschienen „Kopf oder Zahl“ und Sandra Pott in ihrem viel zitierten Aufsatz „Wirtschaft in Literatur“ 2004 noch zu Recht konstatieren, dass sich die neuere deutsche Literaturwissenschaft um Wirtschaft nicht viel kümmere, so trifft diese Einschätzung der Dinge auf den jüngsten Forschungsstand nicht mehr zu. Fraglos dürfte die Wirtschaftskrise daran nicht ganz unschuldig sein, wie der vorliegende Band beweist: Mit ihrem Werk „Einstürzende Finanzwelten“ veröffentlicht die österreichische Literaturwissenschaftlerin Evelyn Polt-Heinzl einen materialreichen und von Thomas Kussin illustrierten Essayband rund um die Themen „Markt, Gesellschaft & Literatur“, wie es im Untertitel heißt.

Realwirtschaft und Fiktion verhalten sich offensichtlich umgekehrt proportional zueinander: Je stärker die Krise, desto mehr Themen und Motive bieten sich der Schönen Literatur. Polt-Heinzls Werk ist ein Streifzug quer durch die ökonomisch-literarische Darstellung von 1900 bis in die Gegenwart, liegt aber schwerpunktmäßig in der österreichischen Zwischenkriegszeit. Neben den „Klassikern“ des monetären Erzählens – Hugo Bettauer, Wilhelm Genazino, Peter Handke – finden sich auch so unbekannte Namen wie Otto Soyka, Gina Kaus und Georg Fröschl darunter. Inhaltlich schlägt die Autorin aus unterschiedlichen Diskussionen der letzten Jahre Kapital: Sie diskutiert die Gestaltung der Theaterspielpläne in Zeiten der Krise, beklagt die „kollektive Amnesie“ am Buchmarkt durch mediale und kommerzielle Beschleunigung oder sieht Life-Style und Literaturszene in der Inszenierung rund um die Person von Robert Schneider sukzessive verschwimmen, während Skandale die Verkaufszahlen beflügeln – wäre der Essayband später erschienen, so wäre Helene Hegemanns „Axolotl Roadkill“ wohl ein Platz garantiert gewesen. Die Dichte an zitierten Texten ist jedenfalls beachtlich, nicht nur in Romanen stöbert Polt-Heinzl wirtschaftliche Bezüge auf, sondern auch in Glossen, Feuilleton und Kommentaren der Schriftsteller, etwa Roths lesenswerter Beitrag „Hausse und Baisse“ (1919).

Das verbindende Glied der Darstellung ist Polt-Heinzls These, wonach die 1920er-Jahre „mentalitätsmäßig zum aktuellen Geschehen doch viele Parallelen“ haben, und so stellt sie die zuweilen selbst schon romaneske Welt der Manager und Banker und die mediale Krisenrhetorik von 2009 der Literatur rund um und nach 1900 gegenüber. Auffallend, so die Autorin, sei der mit der Krise verbundene Mentalitätswandel und der Erfolg einiger bestimmter Sozialcharaktere, etwa des jungen, charismatischen und dynamischen Erfolgsmenschen, der sich mitunter als Hochstapler entpuppt. Literatur ist dabei freilich ein Medium subjektiver Darstellung und weniger der systemischen bzw. makroökonomischen Zusammenhänge, wie Wolfgang Polt im Nachwort darlegt, was die wirtschaftlichen Krisenerscheinungen oftmals zum Ausdruck moralischen Verfalls macht. Literatur interessiert sich eben für das Dysfunktionale, das es in Zeiten der Krisen geradezu im Überfluss gibt. Wer jedenfalls nach dem gegenwärtig vielfach beforschten Wissen der Literatur sucht, wird in den zitierten Romanen rasch fündig: Die „Einstürzenden Finanzwelten“ sind mehr als alles andere vornehmlich ein literarischer Gang durch die Techniken des Betrügens, Schiebens und Spekulierens mit zuweilen überraschend detaillierten Beschreibungen.

Trotz aller essayistischen Freiheit ist einiges an dem Band nicht ganz unproblematisch: Dazu gehört zunächst die symptomatische Lektüre der Literatur, deren Werke an „die aktuellen Defraudationen und Befindlichkeiten näher herankommen […], als das, was über mediale Berichte und Kommentare zu erfahren ist.“ Literatur bietet in dieser Interpretation einen „Erfahrungspool“, der, so die Autorin, „Einblick in die Motivations- und Charakterstruktur der Täter im grauen Anzug“ biete, der „aus den Berichten auf den Wirtschaftsseiten kaum zu gewinnen“ sei. Woher Autoren ihr Wissen beziehen sollten – gerade Kathrin Röggla legt in ihrer aktuellen Poetologie ihre Zweifel diesbezüglich dar – ist alles andere als eindeutig. Nicht zuletzt sei auf die vielen rechten Wirtschaftsromane der Zwischenkriegszeit verwiesen, etwa Egon Erwin Kolbenheyers Werk samt dazugehöriger wirtschaftstheoretischer Abhandlung, die sich wohl schwerlich als ernstzunehmendes Abbild der Wirklichkeit lesen lassen. Die vielen literarischen Anekdoten über Betrug und Schieberei sind kurzweilig und amüsant, aber der kultur- beziehungsweise kapitalismuskritische Grundton des Buches nutzt sich auf Dauer doch ab: „Tatsächlich werden mit der Deregulierung immer Quereinsteiger hinaufgespült, doch zu Grunde gehen meist nur einige wenige der großen „Krieger“ beziehungsweise „Zocker.“ Ähnliche allgemeine Sentenzen füllen das Buch und dienen zur „Reflexion“ literarischer Darstellung der Wirklichkeit. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn die Analyse ökonomischer Wirklichkeit aus dem Geiste der Literatur fast schon klischeehaft negativ ausfällt – und dabei den stilistisch, ästhetischen oder kompositorischen Witz mancher Romane völlig übersieht, etwa die Geld-Ästhetik von Martin Walsers „Angstblüte“ oder Paul Divjaks unglaubwürdigen Erzähler in „Kinsky“.

Nicht unproblematisch verwendet die Autorin auch den Begriff der Deregulierung. Was auf das Jahr 1929, wie Polt-Heinzl im Nachwort ausführt, und natürlich für die (neo)liberale Politik in Europa seit den 1980er-Jahren zutrifft, passt schwerlich für die wirtschaftliche Situation nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, die nicht umsonst als Restrukturierungskrise der Wirtschaft bezeichnet wird. Auch werden mehrfach Deregulierung mit wirtschaftlicher Kriminalität gleichgesetzt. Ein wenig zu konventionell betet das Buch literarisch untermalt jenen Kanon ökonomischer Themen herunter, die in die Neoliberalisierungskritik ihren festen Platz haben: Demokratiepolitisch problematisches Kultursponsoring, die Hegemonie einer ökonomischen Sprache, die vielen kleinen Leute als Verlierer und die wenigen großen als Gewinner oder Finanzprodukte, die sich „von jeder Bindung an ein reales Produkt emanzipiert haben“.

Man erwartet freilich von einem Essay über Literatur nicht, dass es sich differenziert mit der Funktion der Finanzmärkte auseinandersetzt, aber eine so breite Kritik, die den Finanzmarkt geradezu kriminalisiert, läuft Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten und andere Wahrnehmungswelten und ästhetische Konzepte des Wirtschaftlichen, abseits von Korruption und Hochstapelei, zu vernachlässigen. Polt-Heinzls Werk versichert dem Geistes- und Kulturwissenschaftler das, was er ohnehin schon immer wusste und erneut zu hören wünscht: Manager sind schlecht, die Weltmärkte korrupt, das Aktienspiel verwerflich – dies aber durchwegs unterhaltsam und von reichhaltiger literarischer Anschaulichkeit.

Titelbild

Evelyne Polt-Heinzl: Einstürzende Finanzwelten. Markt, Gesellschaft und Literatur.
Sonderzahl Verlag, Wien 2009.
237 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783854493228

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