„Himmlische Gefühle von Leviation“

Siri Hustvedts überzeugende literarische und psychologische Selbstdiagnose

Von Winfried StanzickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Winfried Stanzick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 2003 starb der Vater von Siri Hustvedt, der Autorin des vorliegenden Buches. Lloyd Hustvedt, aus Norwegen stammend, war in Minnesota Universitätsprofessor gewesen, wo Siri Hustvedt auch aufwuchs, bevor sie zum Studium nach New York ging, wo sie den Schriftsteller Paul Auster kennenlernte, mit dem sie seither verheiratet ist. In ihrem letzten Buch „Die Leiden eines Amerikaners“ hat dieser Vater eine wichtige Rolle gespielt. Damals ahnte Siri nicht, dass die Erinnerung an ihn sie auch in ihrem nächsten Buch beschäftigen würde.

Zwei Jahre nach seinem Tod wollen seine ehemaligen Kollegen an der Universität zu seinem Gedenken eine nordische Fichte pflanzen, und Siri Hustvedt soll ihrem Vater zu Ehren die Rede halten. Während dieser Rede befällt sie plötzlich vom Hals abwärts ein seltsamer Zitteranfall. Ihre Stimme ist nicht tangiert, und so kann sie, völlig verkrampft, ihr Rede zu Ende halten. Sie fühlt sich von einer unbekannten Macht in Besitz genommen, ein Gefühl, das sie kennt, hatte sie doch ein ähnliches Erlebnis schon 20 Jahre davor. Migräne, Schwindelanfälle, Schwarzwerden vor den Augen, „himmlische Gefühle von Leviation“, wie sie das nennt, sind seit ihrer Kindheit vertraute Begleiter. Deshalb hat sie früh begonnen, zunächst aus rein persönlichem Interesse, dann auch immer mehr in ihre wunderbaren Romane einfließend, sich mit Neurologie, Psychiatrie und Psychologie zu beschäftigen.

Nun, nach diesem Vorfall, der sich bei viele weiteren öffentlichen Auftritten in der einen oder anderen Form wiederholen sollte, betreibt sie Nachforschungen in Sachen Zitteranfälle mit einer disziplinierten medizinischen und wissenschaftlichen Akribie. Wer die Bücher von Oliver Sacks kennt, dessen Quellen auch Hustvedt ständig zitiert, kennt sich in der Materie schon etwas aus, andere werden mit vielen Spezialbegriffen vielleicht eher abgeschreckt. Zunächst. Denn wie Siri Hustvedt hier ein detailliertes psychologisches Schaubild ihres Selbst entwirft, ohne dabei indiskret aus dem privaten Leben zu erzählen, das ist große Literatur. Indem sie Thesen und wissenschaftliche Erkenntnisse auch auf sich selbst bezieht, zieht sie den faszinierten Leser mit hinein in eine auch sprachlich gelungene Introspektion, bei der sie sich nie „auf die Couch“ legt, sondern immer wieder Fragen stellt, eindeutige Antworten eher scheut, um in geradezu essayistischer Form ihr eigenes Problem schreibend und lesend einzukreisen.

Neben der Beobachtung ihre eigenen Geschichte hat Siri Hustvedt wie vor ihr vielleicht nur Oliver Sacks für die Neurologie und Psychologie etwas ganz Bedeutendes geleistet: Sie hat den medizinischen Diskurs, der ausschließlich in Fachzeitschriften geführt wird, geöffnet für die Kulturtheorie. Was und wie sie schreibt, könnte für Neurologen unendlich wichtig sein, so wie auch die ganze Perspektive der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler auf die Phänomene der menschlichen Psyche. Ein Beispiel könnten die Schreibkurse für Psychiatriepatienten sein, die Siri Hustvedt schon seit langem anbietet und von denen sie in ihrem Buch auch immer wieder berichtet.

Eine überzeugende literarische und psychologische Selbstdiagnose liegt hier vor, mit der sie sich selbst einreiht in die Reihe anderen Schriftsteller: „Zu den vielen Dichtern und Schriftstellern, die wahrscheinlich unter dem gelitten haben, was heute bipolare Störung genannt wird, gehören Paul Celan, Anne Sexton, Robert Lowell […] und Virginia Woolf. Mein eigener Eindruck von dem, was manische, oder besser gesagt, psychotische Patienten im Allgemeinen schreiben, ist, dass beides, Prosa wie Gedichte, sehr viel lebhafter, musikalischer, witziger und origineller ausfällt als bei sogenannten normalen Patienten.“

Damit bewegt sich die Autorin allerdings gefährlich am Rand des Genie-Wahnsinn-Diskurses, der selten weit geführt hat.

Ihr nächster Roman wird zeigen, ob sie tatsächlich in die Reihe der großen Schriftsteller gehört. Ihre bisherigen Werkle deuten darauf hin.

Titelbild

Siri Hustvedt: Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven.
Übersetzt aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2010.
235 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783498030025

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