Die missglückte Wiederkehr des Verdrängten

Denis Forasaccos Studie über Girolamo Savonarola in der deutschen Literatur um 1900 orientiert sich am Kanon und schreibt damit die Geschichte der Verdrängung weiter

Von Julia IlgnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Ilgner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Girolamo Savonarola, wortgewaltiger Dominikanerfrater des Klosters San Marco zu Florenz, besitzt als Zentralgestalt der italienischen Renaissance viele Gesichter. Bereits zu Lebzeiten im ausgehenden 15. Jahrhundert von seinen Anhängern als Bußprediger, visionärer Reformer und neuer Messias verehrt, wurde er von den Gegnern als blinder Eiferer, gefährlicher Häretiker und Wüterer gegen Kunst und Schönheit verunglimpft. Der Antipode Lorenzos de’ Medici sowie des Borgia-Papsts Alexander VI. war bereits in zeitgenössischen Quellen und der historiografischen Überlieferung ein strittiger Fall und mit wechselnden politischen Implikationen beladen, die nicht zuletzt als Stimmungsbarometer für das Verhältnis Deutschland-Italien fungierten. Als eine solcherart polare Projektionsfigur war Savonarola seit jeher auch für die Dichtung attraktiv.

Die Bearbeitungen des Stoffes kulminieren in einer ästhetisch-kulturellen Bewegung, die als Renaissancismus den europäischen Zeitgeist prägte und über die engen Grenzen der Literatur hinausreichte. In diesem Kontext ist der Savonarola-Stoff weniger ein rara avis in terris als eine Modeerscheinung der Literatur, vergleichbar mit dem Michelangelo- und Raffaelkult der Décadence oder der Borgia-Konjunktur um 1920.

Dass sich nun mit Denis Forasacco ein Philologe dem Phänomen widmet, der in beiden Nationalsprachen, dem Deutschen wie dem Italienischen, beheimatet ist, mutet wie ein seltener Glücksfall an. Gerade mit einem komparatistischen, interkulturellen Ansatz ließe sich nicht nur ein Beitrag zur Literatur-, sondern zugleich zur Kulturgeschichte des Fin de siècle leisten. Dafür wäre allerdings der Schritt zum Perspektivwechsel erforderlich, den der Autor nicht wagt.

Zunächst bietet die Monografie Forasaccos, als Dissertationsschrift konzipiert, was man ihr auch anmerkt (in ihrer kleinteiligen Strukturierung, dem analytisch-deduktiven Stil, dem Verzicht auf Übersetzungen von italienischen und lateinischen Zitaten sowie dem selten erläuterten Fachvokabular richtet sie sich eindeutig an den philologisch geschulten Leser), viel mehr als der Titel vermuten lässt. Auf rund 400 Seiten wird der Leser mit allen Stationen der An- und Abwesenheit Savonarolas in der europäischen Geistesgeschichte vertraut gemacht und lernt rasch: Savonarola-Dichtung über die vermeintlich ferne Epoche der Renaissance ist immer auch Dichtung über die eigene Zeit. Da wird selektiert, kombiniert, fort- und umgeschrieben – bis aus dem charismatischen Volksführer und Kirchenerneuerer am Ende ein eifernder Jüngling hervorgeht, der seine Stimme zum Protest gegen den Triumph des Lebens (oder dessen Schönheitsdünkel) erhebt.

Zunächst folgt der Verfasser jedoch nach einer auch für Historiker lesenswerten Zusammenstellung der Interpretationen der Quellen sowie der deutschen und italienischen Geschichtsschreibung, den Spuren des Fraters bis in die Kunstepoche hinein. So gewinnbringend es ist, zu erfahren, wann und inwiefern Savonarola einer Mythisierung und Heroisierung, wann sein Werk einer Dekonstruktion und Diabolisierung unterzogen wurde, so erfreulich wäre eine basale Skizzierung des historischen Kontexts, der politischen Situation im mediceischen Florenz des Quattrocento und des römischen Renaissancepapsttums, zumindest jedoch ein Abriss der Lebensstationen des Paters gewesen. Ausgehend von der Verdrängung beziehungsweise der ausgebliebenen Rezeption in der Weimarer Klassik (allein Herder äußert sich umfassender), zeichnet Forasacco sodann die Genese des Stoffes von der Romantik bis zur Moderne nach, bis er zur herodianischen Aneignung durch die Autoren der Décadence gelangt, deren Texte ein ganzes Panorama savonarolesker Figuren bevölkert. Stellvertretend für diese Vielzahl der Deutungsangebote um 1900 werden gleichwohl lediglich zwei Autoren, Christian Morgenstern und – unvermeidlich – Thomas Mann eingehender gewürdigt.

Obschon der Blick von außen, den der studierte Romanist Forasacco auf die Savonarola-Rezeption in der deutschen Nationalliteratur wirft, vorderhand erfrischend anmutet – so wird die Aneignung zu Recht in die Traditionslinien der romanischen Literatur gestellt und die Einflüsse etwa des französischen Neo-Katholizismus oder einzelner Schlüsselwerke wie Arthur de Gobineaus „La Renaissance“ (1877) berücksichtigt. Wird er doch der selbst gestellten Aufgabe, die stoffgeschichtliche Verdichtung in ihrem Variantenreichtum innerhalb einer Hochphase der deutschen Literatur nachzuzeichnen, nicht gerecht.

Dies ist vorrangig der Makrostruktur der Arbeit geschuldet, die rein chronologisch und zeitlich umfassend der eigentlichen Epoche, der literarischen Jahrhundertwende, zu wenig Raum bemisst. So nimmt das zweifellos aufschlussreiche Kapitel über die Rezeption Savonarolas von der Romantik bis zur Moderne rund ein Viertel der Gesamtstudie ein, ohne dass allerdings spätere Rückverweise die Gewichtung legitimieren. Konkrete Belege, die etwa die Relevanz Lenaus für die Wiederbelebung der Décadence aufzeigen , fehlen oder beschränken sich auf diejenigen Autoren der Hochliteratur, die ohnehin längst Gemeingut der Forschung sind.

Zwar kann eine Stoffgeschichte der Savonarola-Figur kaum auf die idiosynkratischen Transformationen eines Morgenstern oder Mann verzichten, sie jedoch erstmals in einen Dialog mit all jenen Savonarola-Repräsentationen der Trivial- und Schemaliteratur zu stellen, wäre die eigentliche Chance dieser Studie gewesen. Dass Forasacco den allzu stabilen Kanon der deutschen Literatur fokussiert und heute längst vergessene Autoren wie Karl Frenzel, Wilhelm Fischer oder Isolde Kurz nur am Rande streift, andere wie Gregor Samarow und die viel gelesene M. Herbert (das ist Therese Keiter) gänzlich unbeachtet lässt, erzeugt letztlich auch eine sachliche Indifferenz.

So unumgänglich eine Begrenzung des Untersuchungszeitraums sein mag, den hier Manns „Fiorenza“ (1906) markiert, bleibt die Entscheidung seltsam unmotiviert. Dass mit Expressionismus und Neuer Sachlichkeit eine weitere Hochphase der Savonarola-Dichtung (Klabund, Ernst Schreiner, Kurt Delbrück wären zu nennen) außer Acht gelassen wird, bedarf der Erklärung – zumal Nachwehen intensivierter Rezeption den bisherigen stoffgeschichtlichen Entwicklungsgang in Frage stellen. Für den Fall Savonarolas mag ein Phasenmodell die Konjunktur um 1900 adäquater beschreiben als die Annahme einer punktuellen Verdichtung.

Mit Ausnahme von Nikolaus Lenau, Morgenstern und Mann, deren Beiträge zur Stoffgeschichte mit analytischer Präzision und Akribie im Auffinden von Belegen, untersucht werden, fallen die übrigen Wertungen zu wenig differenziert aus. So mündet das Ergebnis immer wieder in die im Untertitel der Studie propagierte Dichotomie vom „fiktivem Archetypus“ und der „Projektionsfigur der Krise“. Da häufig auf eine Explikation am Text verzichtet wird, fragt sich selbst der literaturwissenschaftlich geübte Leser, was genau sich hinter diesem Diktum verbergen mag. Die Aussparung all jener Texte, die gemeinhin nicht zur Hochliteratur gerechnet werden, führt letztlich auch dazu, dass Gegenüberstellungen der einzelnen Interpretationen ausbleiben. Dabei hätte gerade ein Vergleich der verschiedenen Savonarola-Figurationen einen hohen Aussagewert hinsichtlich der Dominanz eines etwaigen „Prototyps“ und dem Grad der Abweichungen von demselben. Paraphrasen der wesentlichen Ergebnisse in Form von Zwischenergebnissen kommen größtenteils zu kurz, eine abschließende Synthese fehlt ganz. Der Mangel an solchen synoptischen Passagen ist insofern tragisch, da er dem zweifellos lohenden Thema ein breiteres Publikum erschlossen hätte; so wird es weitgehend in germanistischen Leserkreisen verbleiben, denen es wenig Neues bietet.

Titelbild

Denis Forasacco: Girolamo Savonarola in der deutschen Dichtung um 1900. Zwischen fiktivem Archetypus und Projektionsfigur der Krise.
Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2008.
422 Seiten, 88,00 EUR.
ISBN-13: 9783830034667

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