„Eine ganz eigentümliche Kälte“

Der Topos der Kälte in Thomas Manns Goethebild

Von Albert CoersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Albert Coers

„Das Gefühl, das warme, herzliche Gefühl ist immer banal und unbrauchbar, und künstlerisch sind bloß die Gereiztheiten und kalten Ekstasen unseres verdorbenen, unseres artistischen Nervensystems.“ So führt Thomas Mann in „Tonio Kröger“ ein antithetisches System ein, das sich Ende des 19. Jahrhunderts zu einem eigenen Diskurs ausgebildet hat: der Gegensatz „Leben“ und „Kunst“, der sich in „Gefühl/Wärme – Kälte“ und „Gesundheit – Krankheit“ in psychothermischer beziehungsweise medizinischer Analogie niederschlägt. Weitere Polaritäten lassen sich hinzufügen, wie die geschichtsphilosophische von „Natur“ und „Geist“ oder die geografische von „Süden“ und „Norden“. Theodor Lessing hat treffend vom „Polaritätsdenken“ gesprochen, das sich besonders in Deutschland in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg verstärkt. Die „Kälte“ impliziert neben einer poetologischen Dimension auch eine soziologische, gleichsam im physikalischen Modell: Sie steht für Distanz, für Vereinzelung gegenüber einer Gemeinschaft, die bei gegenseitiger Nähe und Interaktion am Wärmepol anzusiedeln wäre.

Die Empfehlung von Kälte, von Distanzierung, Verwandlung, Maske, als Schutzmechanismen setzt Helmut Lethen in „Verhaltenslehren der Kälte“ in Beziehung zu Ästhetik der Jahrhundertwende und fragt beispielsweise in Bezug auf Helmuth Plessners „Grenzen der Gemeinschaft“ „in welchem Ausmaß ein Hauptwerk der philosophischen Anthropologie der zwanziger Jahre unbewußt vom Ästhetizismus des Fin de siècle gesteuert wird.“ Eine solche, allerdings wertfrei zu verstehende Anbindung des Kältetopos liegt auch bei Thomas Mann nahe. Im Folgenden soll dies aber nicht in den fiktiven Künstlerfiguren wie Tonio Kröger oder Adrian Leverkühn versucht werden, sondern in der Gestalt Johann Wolfgang Goethes, vor allem anhand Manns Rede „Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters“ von 1932 und des Romans „Lotte in Weimar“ (erschienen 1939).

Mit Goethe ist eine Figur gewählt, die für Mann hohes Identifikationspotential besitzt und anhand derer das Zusammenspiel von nicht-fiktionalen und fiktionalen Texten besonders gut verfolgt werden kann –, und das sich als erstaunlich eng erweist. Außerdem lassen sich so auch politische Konnotationen des Kälte-Topos einbeziehen. Gezeigt werden soll, dass diese mit den poetologischen in enger Beziehung stehen und an Konzepte anschließen, die Mann bereits um die Jahrhundertwende rezipiert und weiterentwickelt hatte.

Goethe gehört nicht zu den Schriftstellern, die Mann von Anfang an als Leitfiguren dienen. In „Schwere Stunde“ (1906) ist es der problematische Friedrich Schiller, in dem er sich wiederfindet, nicht sein glückhafter Gegensatz Goethe. Und Schiller, wie er dort gezeigt wird, ist ein zwischen Extremen schwankender, jedenfalls kein ausschließlich „kalter“ Künstler, weder im Sinne eines ruhigen, von Ökonomie und Ratio bestimmten Produktionsprozesses – er befindet sich in einer aufwühlenden Krise – noch im konkreten physiologischen beziehungsweise motorischen Sinn: im Gegenteil, er hat Fieber und bewegt sich gehetzt durch den Raum. Gleichzeitig verlangt ihn nach Wärme: er klammert sich an den erkalteten Kachelofen und hängt sich Vorhänge auf „von einem warmen, sonoren Rot“. Als Antipode zu Schiller als Vertreter des „Geistes“ erscheint „der dort, in Weimar“, als der „Göttlich-Unbewußte“, der Sinnlichkeit, Gesundheit, Naturhaftigkeit verkörpert.

In den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ erscheint Goethe eher am Rande als Beispiel für unpolitisch-antidemokratische Haltung. Die Verbindung bürgerlich-deutsch-unpolitisch, und, psychothermisch weitergedacht „kalt“, die auch in den Goethereden eine zentrale Rolle spielt, ist aber schon dort entwickelt. Eine immer intensiver werdende Auseinandersetzung mit Goethe auch im Zuge einer Neubestimmung seines weltanschaulichen Standpunktes schlägt sich nieder in „Goethe und Tolstoi“ wo Goethe/Tolstoi gegenüber Schiller/Dostojewski die alte Antithese zwischen „Natur“ und „Geist“ verkörpern. Auch in den „Zauberberg“ fließen die Gedanken dieser Essays ein.

1929 wird Mann der „bürgerliche Adelstitel“, der Nobelpreis, verliehen, was sein Selbstgefühl steigert und den Weg ebnet für den Vergleich mit der Gestalt Goethes. Manns großes Projekt der 1930er-Jahre ist der „Joseph“-Roman und damit die Beschäftigung mit dem Komplex des Mythos. Ende 1930 berichtet er in einem Brief an Ernst Bertram von einer Anfrage des Verlages, für das Goethejahr 1932 ein Buch zu schreiben und kommentiert: „[…] der Bildungsvoraussetzungen für ein solches Werk in argem Grad ermangelnd, wird mir nichts anderes übrigbleiben, als aus Erfahrung zu reden, – über Goethe aus Erfahrung: eine mythische Identifikations-Hochstapelei, mit der vielleicht die Brücke vom ‚Joseph‘ zum ‚Goethe‘ geschlagen wäre.“ Das Goethebuch wurde erst später mit „Lotte in Weimar“ realisiert, das Material dafür aber verwendete Mann – in Sachen der Mehrfachverwertung sehr geschickt – für die Goethereden von 1932.

„naturkindliche Indifferenz“

Mann liefert in seinen Goethereden, die deutlich identifikatorischen Charakter tragen, keineswegs die erwartete Panegyrik eines Dichterfürsten, und hebt, für damalige Rezipienten durchaus befremdlich und auch für heutige noch erstaunlich, unter den Eigenschaften Goethes auch die der „Kälte“ und der damit verbundenen negativ konnotierten Idiosynkrasien heraus: „Es sind in Goethe, […] Züge eines tiefen Grames und Mißmuts, einer stockenden Unfreude, die ohne jeden Zweifel mit seiner ideellen Ungläubigkeit, seiner naturkindlichen Indifferenz, mit dem, was er sein Liebhabertum, seinen moralischen Dilettantismus nennt, tief und unheimlich zusammenhängt. Es gibt da eine eigentümliche Kälte, Bosheit, Médisance […]“. Bei der Formulierung vom ‚moralischen Dilettantismus‘ handelt es sich um eines der paraphrasierten Goethezitate Manns. Sehr wahrscheinlich bezieht er sich damit Goethes „Xenion“ „,Was willst du, daß von deiner Gesinnung / Man dir nach ins Ewige sende?‘/ Er gehörte zu keiner Innung, / blieb Liebhaber bis ans Ende.“ Der ursprünglich auf berufständisches Feld beschränkte Gegensatz zwischen Mitglied einer Innung und dem Liebhaberbeziehungsweise Dilettanten, der sich außerhalb des professionell definierten Feldes hält, ist von Goethe ins Ethisch-Politische übertragen. Setzt man für „Innung“ „Partei“, kommt man dieser Bedeutung recht nahe. Interessant ist, dass der Begriff des Dilettantismus aus dem engeren Rahmen der Kunstliebhaberei bzw. des Amateurhaften in ein weiteres Bezugsfeld gestellt wird. Von der Etymologie ausgehend wäre ohne „Profession“ ohne „öffentliche Angabe, ohne Bekenntnis“.

Manns Konzentration auf die indifferente, problematische Seite Goethes dient auch der Rechtfertigung gegenüber Versuchen, ihn selbst als demokratischen Wendehals zu verunglimpfen. Gesinnungs- und Haltungslosigkeit wurde Mann seit seiner Parteinahme für die Republik wiederholt vorgeworfen. So lässt sich die Betonung von Goethes „Kälte“ vor dem Hintergrund der Sprechsituation auch als zeitgenössisch politisch motiviert lesen. Indem Mann an Goethe „jenes in einem hohen und vollkommen ironischen Sinn gesinnungs- und wertungslos-objektive Dichtertum“ herausstellt, macht er klar, dass er selbst sich darin wiederfindet. Die Gedenkwoche zum 100. Todestag Goethes liegt mitten im Wahlkampf um das Amt des Reichspräsidenten, in dem Hindenburg als Vertreter eines Mitte-Links-Bündnisses gegen Adolf Hitler und Ernst Thälmann als Vertreter der Radikalen antrat. Im Juli sollen die Reichstagswahlen folgen, und die Goethe-Feier ist ebenfalls ein Politikum: Goethe als nationale Symbolfigur für ein im Aufbruch begriffenes, geeintes Volk in Anspruch zu nehmen bemüht sich die völkisch-nationale Rechte, als Repräsentanten der gemäßigten Kräfte innerhalb der Republik das liberal-konservative Bürgertum. Im Verweis auf Goethes reservierte Stellung zur Französischen Revolution und zur Idee eines deutschen Nationalstaates legitimiert Mann die eigene ambivalente Haltung zu Revolution und Republik, wie sie in den „Betrachtungen“, in „Von deutscher Republik“ und weiteren Essays erscheint: Immer lässt er durchblicken, dass eine betrachtende Haltung ihm mehr liegt als eine aktive. Mann schlägt die Brücke vom Psychologischen zum Politischen: „Gewiß ist, daß aller Haß, den Goethe zu tragen gehabt hat, alle Vorwürfe und Klagen […] auf diese Kälte gegen den ideellen, den politischen Enthusiasmus, handle es sich nun um seine nationalistisch-kriegerische oder revolutionär-menschliche Schattierung, zurückzuführen sind, darauf also, daß er eigensinnig gegen die Hauptrichtung seines Jahrhunderts, die demokratische und nationale Idee lebte.“ Mann appelliert in der Rede an die bürgerliche Tugend der Nüchternheit gegenüber dem nationalen Rausch: „Aber was heute nottut, ist die große Ernüchterung einer Welt, die an verdumpften und das Leben hindernden Seelentümern zugrunde geht. Wer war es, der gesagt hat, man müßte den Deutschen verbieten, in fünfzig Jahren das Wort Gemüt auszusprechen? Es war Deutschlands größter Dichter.“

Die Kälte und Indifferenz gegenüber politischer Parteinahme vermischt sich mit einer poetologischen, den künstlerischen Prozess beschreibende Dimension in das Herausstellen von Rezeption und Kontinuität gegenüber expressiven oder romantischen Konzepten der Kunstproduktion. Wenige Jahre zuvor hatte Mann in seiner „Rede über Lessing“ kritische Analyse und das Schaffen begrifflicher Ordnung als schriftstellerische Leistung gewürdigt und aus dem „Nathan“ zitiert: „ich bin nicht kalt. Ich sehe wahrlich / nicht minder gern, was ich in Ruhe sehe“. Dem „Akt kältender Versachlichung“ weist er dort eine legitime Stelle im Produktionsprozess zu. In den Goethereden gibt es ähnliche Passagen, in denen Ratio, Ökonomie und Nüchternheit in der Sprache – Mann spricht vom „vernünftigen Zauber“ – und im schriftstellerischen Prozes hervorgehoben werden. Nicht zuletzt geht es auch um einen von Überhöhungen befreiten Kunstbegriff: „Ich vergesse nie den Eindruck, den es mir machte, als ich zum erstenmal die Antwort las, die er einem jungen Menschen erteilte, der ihm begeistert erklärt hatte, für die Kunst wolle er leben und sich mühen und leiden. Goethe versetzte kühl: ‚Vom Leiden kann ja bei der Kunst nicht die Rede sein.‘ Er hat für Schwärmer, für poetische Enthusiasten jederzeit kalte Duschen bereit.“ Dass Mann diese Passage zitiert, scheint seinen eigenen kunstreligiösen Parametern zu widersprechen: das Leiden an und für die Kunst bildet eine Konstante von Manns Künstlerfiguren, häufig mit dem Decadence-Topos der Zusammengehörigkeit von Kunst und Krankheit verknüpft.

Ein Exkurs sei erlaubt zur Verwendung derselben Topoi in Essays und fiktionalen Texten und zur Auflösung von Polaritäten in Synthesen. Goethes „Neigung zum Negieren und seine ungläubige Neutralität“ werden als Gaben der Naturkinder gegenüber den Geisteskindern begründet, damit der Gegensatz Natur-Geist angedeutet. „Sie [Die Natur] erlaubt kein scheidendes Urteil, sie ist neutral.“ Eine Parallele hat der Topos der Gleichgültigkeit und Kälte in der Beschreibung der „kalten“, das heißt indifferenten unbelebten Natur: sie ist im „Zauberberg“ als das „Gleichgültig-Bedrohliche“ geschildert, ihre Bedrohlichkeit scheint sie aus Indifferenz und Absichtslosigkeit zu beziehen: „der Schneesturm […] war da, der lange gedroht hatte, wenn man von „Drohung“ sprechen kann in Hinsicht auf blinde und unwissende Elemente, die es nicht darauf abgesehen haben, uns zu vernichten, was vergleichsweise anheimelnd wäre, sondern denen es auf die ungeheuerlichste Weise gleichgültig ist, wenn das nebenbei mit unterläuft.“ Die „Indifferenz“ der Natur wird deutlich in der Aufhebung von Konturen und Kontrasten im Schnee. Das Nichtunterschiedene, das Nichts breitet sich aus. „Es war überall gar nichts und nirgends etwas zu sehen, außer einzelnen ganz kleinen Schneeflocken, die aus dem Weiß der Höhe kommend auf das Weiß des Grundes niedersanken, und die Stille ringsherum war gewaltig nichtssagend.“ Das Weiß als die „Nichtfarbe“ des Schnees steht hier für Neutralität, die Temperatur ist natürlich – kalt und hinter allem steht, man weiß es, der Tod. Weiß ist zugleich die Farbe mit der höchsten Potentialität, aus der Alles entstehen kann. Im „Zauberberg“ wird Hans Castorp aus der bedrohlichen Neutralität und Kälte des Schnees durch den Einbruch von blutvollen, farbsatten, hitzigen Träumen zurück ins Leben gerissen – nicht ohne sich über die Fragwürdigkeit von Polaritäten und Gegensatzpaaren insgesamt Gedanken zu machen, „Tod und Leben – Krankheit, Gesundheit – Geist und Natur. Sind das wohl Widersprüche? Ich frage: sind das Fragen?“ und zu Synthesen zu gelangen, die Extreme jeder Art ablehnen. In den Goethereden werden die die negativen, lebensverneinenden Züge Goethes aufgefangen durch ein Konstrukt aus Gedanken Arthur Schopenhauers und Friedrich Nietzsches, das Mann, dem Motto der Rede entsprechend, „Lebensbürgerlichkeit“ beziehungsweise „Lebensfreundlichkeit“ nennt. Die Kontinuität der Gedanken aus dem „Tonio Kröger“ mit dem dort verwendeten Begriff – und aus dem „Zauberberg“ ist bemerkenswert. Und wenn Mann die Rede mit dem Goethezitat „Entzieht euch dem verstorbnen Zeug / Lebend’ges laßt uns lieben“ abschließt, so erinnert dies an die Wiederkehr Castorps aus der Kälte – die ironisch nicht ungebrochen ist.

Dilettantismus – „die kalte Grausamkeit“

Eine Wiederaufnahme des Kältetopos bei der Beschreibung Goethes findet sich in „Lotte in Weimar“. Hier ist, worauf auch Friedhelm Marx hingewiesen hat, die in „Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters“ eingangs eröffnete, aber nicht zuletzt aus politischem Kalkül zugunsten einer „mittleren“ Perspektive zurückgestellten Möglichkeit ausgeführt, von Goethe als „gottähnlichem Künstler“ zu sprechen. Doch zeichnet Mann auch hier ein ambivalentes Bild von Goethe, ins Theologisch-Spekulative erweitert.

Lotte hatte Goethes „Dichter-Begeisterung“ gegen die analytische Genauigkeit bei der Beurteilung durch dessen Privatsekretär Riemer verteidigt. Riemer bestreitet diese Begeisterung, indem er Goethe mit Gott vergleicht, den man sich ebensowenig begeistert denken könne. Das hieße Partei ergreifen – und für wen sollte Gott, als das „Ganze“, es tun? Die Umschreibungen Gottes als „Einerleiheit von All und Nichts, von Allumfassung und Nihilism, von Gott und Teufel“ zielen auf Goethe, Ironie und Indifferenz sind für Riemer Wesenszüge des gottähnlichen Künstlers Goethe und der „absoluten Kunst“. Die zunächst positiv erscheinende Eigenschaft der Concilianz laufe „auf eine ganz eigentümliche Kälte, einen vernichtenden Gleichmut hinaus, auf die Neutralität und Indifferenz der absoluten Kunst, […] die ihre eigene Partei ist und, wie es im Verschen heißt, ‚ihr Sach‘ auf nichts gestellt‘ hat, will sagen: auf umfassende Ironie.“ Deutlich ist hier die Kontinuität der Reflexionen aus „Tonio Kröger“ und der Goethereden zu erkennen. Die Rede von „Kälte“ und „Gleichgültigkeit“ Goethes lässt sich an den Dilettantismusbegriff des Fin de siècle und dessen Rezeption durch den jungen Thomas Mann zurückbinden: Die Züge Goethes entsprechen in erstaunlicher Weise der Beschreibung des ‚Dilettanten‘ beispielsweise bei Paul Bourget, der 1898 in einem Essay über Ernst Renan den Dilettantismus als Disposition beschreibt, „die uns nach und nach zu verschiedenen Lebensformen Neigung fassen läßt, ohne sich auf eine festzulegen“ und kritisch anmerkt: „Für den Dilettanten ist nichts wahr, nichts falsch, nichts moralisch, nichts unmoralisch. […] der schöne Name Dilettantismus, […], verdeckt nur die kalte Grausamkeit, die entsetzliche Dürre.“ Bourgets Begriffskreation besteht eigentlich in einer Begriffsverengung, er „isoliert eine Komponente der traditionellen Bedeutung des Wortes, nämlich die spielerisch-distanzierte Unverbindlichkeit der dilettantischen Haltung schlechthin“ und macht daraus einen psychologischen Typus. Interessant ist hier, welche Bedeutungswandlung damit der Begriff des Dilettanten durchgemacht hat: vom harmlosen Liebhaber, der „Liebe“, das heißt warmes Interesse an seinem Gegenstand zeigt, zum skeptisch-kalten Ästheten und intellektuellem Genussmenschen, der ein distanziertes Spiel mit wechselnden Identitäten und Rollen betreibt. Und Mann selbst verwendet den Begriff durchaus uneinheitlich-mehrdeutig: In „Tonio Kröger“ beispielsweise ist es eben der „Dilettant“, der sich der vollständigen Hingabe an die „kalte Kunst“ verweigert, und baut in ins System der Antithesen auf der Seite des „Lebens“ ein: „Wir Künstler verachten niemand gründlicher, als den Dilettanten, den Lebendigen, der glaubt, obendrein bei Gelegenheit einmal ein Künstler sein zu können.“ Gleichzeitig taucht dort die „Gleichgültigkeit und ironische Müdigkeit aller Wahrheit gegenüber“ auf, die als Symptome auf den beschriebenen Dilettantismusbegriff des Fin de siécle genau passen.

„Eine intellektuelle und gefühlsmäßige Metamorphose“

Der hier angedeutete Dilettantismusbegriff hat außerhalb der zeitgenössischen Literatur kaum Spuren hinterlassen. Seine Lebensdauer ist gleich kurz wie die der Decadenceliteratur. Das Bedürfnis, sich an nationale, politische und weltanschauliche Systeme zu binden, und dessen Ausdruck die Dilettantismuskritik gewesen war, brachte den Typ des „Dilettanten“ zum Aussterben. Der Erste Weltkrieg stellt auch hier eine Zäsur dar, danach herrscht die allgemeinsprachliche, pejorative Verwendung des Begriffs für „Nichtkönner, Stümper“ vor. Bei Recherche in diversen Wörterbüchern stößt man aber auf Nachwirkungen: Man findet als Synonym für den „Dilettanten“ den „Skeptiker“ oder den „Pyrrhoniker“, den Anhänger jener antiken Skeptikerschule, die aus einem Gleichgewicht der Gründe und Gegengründe einen Verzicht auf jegliches Urteil ableitete. Thomas Mann hatte sowohl Bourget als auch Renan extensiv gelesen, und was er einmal rezipiert hatte, baute er in sein System ein. Bourget hatte den Dilettantismus umschrieben als eine „intellektuelle und gefühlsmäßige Metamorphose“ durch alle möglichen Lebensformen, ohne sich an eine bestimmte zu binden.

Mann charakterisiert Goethe in „Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters“ als eine „mehr ironische und bizarre als gemütliche, mehr negative als positive, mehr humoristische als heitere Proteusnatur, die sich in alle Formen verwandelt, mit allen spielen, die entgegengesetztesten Ansichten auffassen und gelten lassen konnte.“ Der antike Meergott Proteus mit seiner Fähigkeit zur grenzenlosen Verwandlung wird oft als Symbolfigur des nicht festzulegenden Dilettanten gebraucht. In „Lotte in Weimar“ fragt Riemer ganz ähnlich: „Halten sie Proteus, der sich in alle Formen verwandelt und in allen zu Hause ist, der zwar immer Proteus, aber immer ein anderer ist und recht eigentlich seine Sache auf nichts gestellt hat – halten sie ihn […] für ein glückliches Wesen?“ und kombiniert so Verwandlungsfähigkeit und Nihilismus.

Hinter der Figur des Privatsekretärs Riemer steht Mann selbst und trägt seine Goethekritik vor. Dieses Kritik wird ironisiert, aber nicht aufgehoben durch den Zustand Riemers nach seinem langen Monolog: „Der Mann schien völlig erschöpft, und das war nicht zu verwundern. Man redet nicht dermaßen lange und in einem Zuge und in so angespannter Wohlgesetztheit von solchen Dingen […].“ In der Setzung „Mann“ und „Man“ scheint Thomas Mann mit dem eigenen Namen zu spielen und auf die Übernahme der Rolle Riemers durch sich selbst hinzudeuten. Für den Gegenakzent des „Lebens“ zum Bild vom Artisten und Skeptiker Goethe sorgt Charlotte, die das Gespräch auf sich und ihre elf Kinder bringt. Für eine Korrektur sorgt nicht zuletzt das spätere Auftreten Goethes selbst, der sehr menschliche Züge trägt und Riemers Äußerungen konterkariert. „Was ist all Menschenwerk, Tat und Gedicht, ohne die Liebe, die ihm zu Hilfe kommt, und den parteiischen Enthusiasmus, ders zu was aufstutzt? Ein Dreck.“

Am Ende des Romans, bei der zweiten, traumhaft-unwirklichen Begegnung Goethes und Lottes kommt es zu einer abermaligen Korrektur aus Goethes Mund, die nach der vorhergehenden Rede von seiner Kälte, Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit sich wie eine Überkompensation anhört: „Nachgefühl-Vorgefühl – Gefühl ist alles.“ Doch bewusst hält Mann den Schluss in der Schwebe, und legt sich nicht fest, ob diese Worte als im Rahmen des Romans als „real“ zu begreifen sind oder als Fiktion, als Projektion und Wunsch. Mann fasst den vorher hinterfragten Trieb zur Verwandlung als Konstante der Persönlichkeit Goethes und lässt ihn sagen: „Metamorphose ist deines Freundes Liebstes, und Innerstes, seine große Hoffnung und tiefste Begierde, – Spiel der Verwandlungen, wechselnd Gesicht […]“ Damit resümiert er Goethes Gedanken der Metamorphose und ebenso das Dilettantismus-Konzept der Jahrhundertwende.