Die Anmut der Gedärme

Über Christoph Poschenrieders Schopenhauer-Roman „Die Welt ist im Kopf“

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Schopenhauer war wütend.“ Damit greift Christoph Poschenrieders Roman „Die Welt ist im Kopf“ zwar gleich im ersten Satz ein Klischee auf – das des zu Zornesausbrüchen neigenden Meisterpessimisten –, doch belässt er es keineswegs bei solch verbreiteten Banalitäten über seinen zur Handlungszeit noch jungen, gerade mal im 30. Jahr stehenden Helden.

Erzählt wird die größtenteils erdachte, zu geringen Teilen jedoch belegte Geschichte, wie der noch unbekannte Philosoph während einer Italienreise 1818 die Möglichkeit einer Begegnung mit dem von der Frauenwelt angehimmelten Dichter Lord Byron nicht nur verstreichen ließ, sondern einem Zusammentreffen geradezu auswich und es dabei doch auf eine Kollision ankommen ließ. Er befürchtete, der als Womanizer bekannte Mann könne ihm seine Teresa ausspannen, ein Kind aus dem italienischen Volke, das er kennengelernt hatte, als es gerade „einen Kübel Gedärme ausleerte“, was sie allerdings „anmutig“ zu tun verstand.

Immer wieder begibt sich die allwissende Erzählstimme in die Tiefen und Untiefen des Innenlebens nicht nur Arthur Schopenhauers, sondern auch Johann Wolfgang Goethes, Byrons sowie etlicher anderer historischer und rein fiktiver Figuren. Der Autor scheut selbst das Wagnis eines kurzen inneren Monologs nicht, den er eine schwangere Frau führen lässt, die eine Abtreibung erwägt. Ob dies als gelungen gelten darf, mag dahingestellt sein. Jedenfalls wird er auf den ernsteren Seiten des Romans geführt.

Voller Humor wird hingegen Schopenhauers Begegnung mit einem Reisenden geschildert, dem dieser regelrecht androht, ihn mit den Winkelzügen seiner Philosophie bekannt zu machen. Ebenso humorvoll nimmt sich das Bemühen eines Spitzels Metternichs mit dem offiziellen Titel eines „Geheime[n] Kanzleirat[s] der Geheimen Intelligen-Abteilung“ aus, hinter Sinn, Gehalt und etwaigen aufrührerischen Inhalt eines von Schopenhauer mitgeführten Buches zu kommen. Geraume Zeit geistert er als Witzfigur durch die Seiten, der vom Autor alsbald bei dem Versuch, Schopenhauers Hauptwerk zu verstehen, über die Schulter geschaut wird. Er wird sich in den Jahren nach der Handlungszeit als der erste und auf einige Jahrzehnte hin einzige Schüler des großen Pessimisten erweisen.

Der Roman streift seinerseits kaum auch nur die Oberfläche von Schopenhauers Philosophie oder seines Welt- und Frauenverständnisses. So denkt sich der literarisierte Philosoph und Misogyn aus gegebenem Anlass zwar, was junge Frauen „an den alten Säcken finden“, könne er ohne weiteres „aus meiner Philosophie erklären“, doch schickt ihn der Autor stattdessen nur in Erinnerungen an das Verhältnis zwischen seiner jungen Mutter und dem wesentlich älteren Vater.

Nicht nur im Leben und Werk des realen Schopenhauer, auch im Roman kommen die Frauen nicht immer gut weg. So lässt der Autor etwa diverse Prinzessinnen eine Gesellschaft nicht nur in „seidig raschelnde[r]“ Kleidung, sondern auch „quiekend“ betreten. Johanna Schopenhauer, die Mutter des Protagonisten, wird als geistig etwas minderbemittelte Person dargestellt, die nicht einmal dazu in der Lage ist, den für sie „unaussprechlichen Titel“ der „Doktordissertation“ ihres Sohnes richtig zusammenzubekommen, und sich nur daran erinnert, dass er „irgendwas von einer vierfachen Wurzel verhieß.“

Anders als die Mutter wird die Schwester Adele Schopenhauer als „gewandt, empfindsam und klug“ vorgestellt, „nur hübsch“ sei sie nicht. Das lässt sich eigentlich ganz gut an, wird doch das Aussehen, das Literaten beim Auftritt ihrer Frauenfiguren gerne als erstes ansprechen, erst an letzter Stelle genannt. Und die typisch ‚weibliche‘ Eigenschaft der Empfindsamkeit umrahmt der Autor mit zwei männlich konnotierten Charakteristika. Doch erweist sich die Freude darüber als voreilig. Denn schon unmittelbar anschließend wird erst einmal in einer ausführlichen Wendung darüber räsoniert, dass Schopenhauers Schwester nicht nur nicht hübsch, sondern richtig „hässlich“ gewesen sei. Und im weiteren Verlauf des Romans darf sie dann vor allem ihre Empfindsamkeit unter Beweis stellen sowie ihre ebenfalls ‚weibliche‘ Fürsorglichkeit; etwa, wenn es darum geht, eine von ihrem Bruder geschwängerte Frau aus den ‚niederen‘ Gesellschaftsschichten zu unterstützen. Nur von ihrer Klugheit und Gewandtheit lässt der Autor nicht mehr allzuviel erkennen. Im Gegenteil. Wenn Goethe ihr von Georg Wilhelm Friedrich Hegel erzählt „lächelt“ sie nur „und nickt, ganz mechanisch“.

Abgesehen davon, dass man sich wünschte, der Autor hätte seinen Frauenfiguren, wenigstens den historischen, mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen, gibt es noch die eine oder andere stilistische Unebenheit zu monieren, deren unglücklichste „alle paar Sekunden“ lautet, doch lassen sich diese sicher an den Fingern einer Hand abzählen. Sieht man von diesen beiden Misslichkeiten ab, ist Poschenrieders Erstling zwar immer noch kein sonderlich bedeutendes Werk, doch liest er sich ganz unterhaltsam.

Titelbild

Christoph Poschenrieder: Die Welt ist im Kopf. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2010.
342 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783257067415

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