Theoretisches über eine dubiose Mode

Mit dem „Handbuch Biographie“ bietet Christian Klein eine umfassende wissenschaftliche Einführung zum Thema

Von Thomas MeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Meyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das von Christian Klein herausgegebene „Handbuch Biographie“, das ausweislich seines Untertitels „Methoden, Traditionen, Theorien“ darstellen möchte, stellt sich einer schwierigen Aufgabe. Denn selbst der vermeintlich sichere Rückgang auf die Begriffs- und Bedeutungsgeschichte der Biografie bringt keine Klarheit in die verwirrende Vielfalt der biografischen Praxis. Mehr als die Tatsache, dass es sich um ein zusammengesetztes Kunstwort handelt, das immer schon ein ausufernder Funktionsbegriff war, wird sich nicht ausmachen lassen.

Heutzutage wird unter dem großen Dach „Biografie“ so ziemlich alles versammelt, was irgendwie mit der Darstellung eines Lebens oder mehrerer Leben von der Wiege bis zur Bahre zu tun hat. Das Genre oder die Gattung ist streng genommen ein hoffnungsloser Fall. Jede nur denkbare Form der Biografie existiert bereits, und das schier ungehemmte Bedürfnis sein eigenes Leben zwischen zwei Buchdeckel zu fassen, gibt dem Ganzen einen weiteren Schub. Diese Feststellung hat ihr Pendant in einer auf allen Niveauebnen anzutreffende Begeisterung für Biografien. „Da lese ich mal die Biografie“, ist die quasi natürlich Reaktion geworden, egal ob ein Star stirbt oder im Proseminar ein bislang unbekannter Autor vorgestellt wird. Sich in ein Leben versenken, endlich einmal eine Hitler- oder Goethe-Biografie lesen, ein schreckliches oder glückliches, in jedem Fall jedoch ein anderes Leben mit vollziehen zu können, übt einen ungebrochenen Reiz auf sämtliche Leserschichten aus.

Die als Reaktion auf die Bedürfnisse entstandene Artenvielfalt hat eine weitere Veränderung nach sich gezogen, die notiert werden muss: Biografen fühlen sich von der Reflexion auf die Darstellungsform und die sich daraus ergebenden Konsequenzen zunehmend befreit. Gelegentlich wird die Person in einen zeithistorischen Rahmen gestellt, mal wird mit Pierre Bourdieus tausendfach zitierten, aber nur selten gelesenen Aufsatz „L’illusion biographique“ von 1986 hantiert, doch zumeist verlässt man sich auf den Helden und seine Zeit. Der liefert die Story, weil sein Leben genug Reize bietet.

Schwerer tun sich diejenigen, die „Leben und Werk“ darstellen wollen, weil sie zahllosen hermeneutischen Fallen ausgesetzt sind. Die Abgründe, die einen etwa erwarten, sobald man einen Gedankengang in einem Kontext stellt, sind nur schwer zu überbrücken. Doch weder die Problematik selbst noch etwaige Lösungsansätze dazu finden sich in modernen Biografien ausgebreitet. Manchmal trifft einen der Schlag, wenn man 700 Seiten vor sich hat, die mit der unausgesprochenen Aufforderung als Leser selbst die Ordnung zu schaffen verbunden sind, die der Biograf nicht schaffen wollte. Die Nachahmung der Chaotik des dargestellten Lebens ist gerade in intellektuellen Biografien – ärgerlicherweise fehlt im Handbuch das Stichwort und damit auch die Auseinandersetzung um Ernst Gombrichs Aby Warburg-Biografie – zu einer dubiosen Mode geworden. Gleichwohl wäre es heute völlig undenkbar, dass man mit dem Ernst Walter Benjamins auf Biografien reagiert, wie sie seinerzeit Friedrich Gundolf oder Max Kommerell vorlegten. Um dann die erste Reaktion auch noch erneut zu reflektieren, wie es Benjamin im Falle des Jean Paul-Buches von Kommerell tat.

Bedenkt einer mal fortlaufend sein handwerkliches Tun als Biograf, dann braucht er Platz, sogar sehr viel Platz, und das wiederum erfordert Geduld beim Leser: Zwei Faktoren, die immer seltener werden. Andererseits schätzt man noch immer den dicken „Schinken“, allerdings muss er saftig sein. Man kann diesen Widerspruch an den verhaltenen Reaktionen zu Hugh Barr Nisbets Lessing-Buch ebenso ablesen, wie an der weitgehend ausgebliebenen, jedoch sehr gut möglich gewesenen Kontroverse zwischen den Kafka-Biografen Peter-Andre Alt, Bernd Neumann und Rainer Stach, die drei sehr verschiedene Herangehensweisen gewählt haben.

Entscheidend verändert haben die visuellen Medien das Feld der Biografie. Sie können durch Schnitte und dramatische Bildfolgen Zusammenhänge schaffen, für die der seriöse Biograf Jahre brauchen würde, um sie dann doch mit einem Archivfund zu widerlegen. Der Popularisierungsdruck ist durch Fernsehen und Internet gewaltig.

Die über 40 Wissenschaftler, die das hier Gesagte im „Handbuch Biographie“ vielfach reflektiert und es in Bahnen zu lenken versucht haben, muss man zunächst einmal dankbar sein. Es entsteht bei der Lektüre tatsächlich der Eindruck, als ließen sich die bloß angedeuteten Schwierigkeiten und Tendenzen in den wissenschaftlichen Griff bekommen. Dass dieser Eindruck entstehen kann, verdankt man der klugen Konzeption der Publikation. Es setzt der Vielfalt eine überlegte Perspektivität entgegen: chronologische, systematische, typen- und topoizentrierte Zugänge, fächerspezifische, wie nach Medien geordnete Reflexionen verhelfen zu einem Überblick über die Möglichkeiten, Biografen zu schreiben. Da Kritik an einzelnen Beiträgen immer angebracht werden kann und angesichts der Biografien-Vielfalt eine Leichtigkeit darstellt, sei aber ein Lob angestimmt: Klein hat sich klugerweise dazu entschieden, die sehr verschiedenen Ansätze der Autoren stehen zu lassen. Eine Theorie der Biografie hingegen steht weiter aus. Aber vielleicht ist ein solches Ansinnen eine „biografische Illusion“, gleich der Hoffnung, dass man nach der Lektüre des Handbuchs gleich an den Computer eilen könnte und in der Lage wäre, eine Biografie zu schreiben.

Titelbild

Christian Klein (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2009.
485 Seiten, 64,95 EUR.
ISBN-13: 9783476022639

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