Erinnerungsschleifen

Der von Monika Boll und Raphael Gross herausgegebene Band „Frankfurter Schule und Frankfurt – Eine Rückkehr nach Deutschland“ hebt den Einfluss des Instituts für Sozialforschung auf die Geistesgeschichte deutscher Nachkriegszeit hervor

Von Sigrid GaisreiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sigrid Gaisreiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Ausstellung im Jüdischen Museum in Frankfurt am Main (17. September 2009 – 10. Januar 2010) widmet sich einer der wirkungsmächstigsten Intellektuellengruppen in Deutschland, die als Institut für Sozialforschung (IfS) beziehungsweise Frankfurter Schule bekannt wurde. Zeitlich umfasst die Ausstellung die Jahre des US-amerikanischen Exils und die unmittelbare Nachkriegszeit bis Mitte der 1960er-Jahre, als sich das IfS als öffentliche Instanz etabliert hatte. Die Ausstellung ist Teil eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung getragenen Verbundprojekts „Kommunikationsräume des Europäischen. Jüdische Wissenskulturen jenseits des Nationalen.“ An diesem Projekt beteiligt sind das Leipziger Zentrum für Lehrerbildung und Schulforschung, das Jena Center zur Geschichte des 20. Jahrhunderts und das Leipziger Simon-Dubnow-Institut, dessen Direktor, Dan Diner, das Vorhaben leitet. Zur Ausstellung erschien ein von Monika Boll und Raphael Gross herausgegebener Katalog, der im Verlag Wallstein erschien.

Wie allen überlebenden Emigranten stellte sich auch den Mitgliedern des Instituts für Sozialforschung (IfS) nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Frage, ob sie nach Deutschland zurückkehren sollten. Leo Löwenthal, Herbert Marcuse, Franz L. Neumann und Otto Kirchheimer entschieden sich, aus unterschiedlichen Gründen, dagegen, Max Horkheimer dagegen begann 1948 bei einem Besuch in Deutschland das Terrain zu sondieren, und Theodor W. Adorno folgte ihm alsbald. Mit dem eher unwahrscheinlichen Fall, dass, so Raphael Gross im Vorwort, „wir heute von der ‚Frankfurter Schule‘ sprechen können, hätte in den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren wohl kaum jemand“ gerechnet. Über die Anfänge der Frankfurter Schule hinausgehend rekonstruiert die Ausstellung auch den Beginn jüdischen und intellektuellen Lebens in Frankfurt nach 1945.

Die Ausstellungsmacher konzipierten Ausstellung und Katalog als eine Recherche nationaler und internationaler Kontexterkundungen auch zu eher unbekannten Aspekten, etwa zu den Frauen am Institut. Der Fokus liegt auf der Präsentation des spezifisch jüdischen Anteils in den theoretischen Ansätzen einiger Mitglieder des IfS. Sechs Stationen fahren die Herausgeber an und konnten dafür aus dem Umfeld der Frankfurter Schule namhafte Beiträger wie etwa Alfons Söllner, Detlev Claussen, Alexander Kluge, Ludwig von Friedeburg, Alfred Schmidt, Micha Brumlik, Hans-Martin Lohmann ebenso gewinnen wie Axel Honneth, der dem Institut heute vorsteht. Die beiden Geschichtsschreiber der Frankfurter Schule, Rolf Wiggershaus und Martin Jay, komplettieren das Ensemble zusammen mit einer Schar nationaler und internationaler Beiträger, die hierzulande weniger bekannt sind.

Weder chronologisch noch systematisch, sondern als Kaleidoskop haben die Herausgeber den Katalog aufgebaut. Stehen im ersten Kapitel in drei Beiträgen zunächst die Rückkehr nach Frankfurt und der Neuanfang auf dem Programm, so widmen sich die nächsten vier der Fortentwicklung der empirischen Sozialwissenschaft in der frühen Bundesrepublik. Als Zwischenspiel angelegt ist das zweite Kapitel, das Porträts von Theodor Adorno und Max Horkheimer beinhaltet. Das Hauptstück folgt als siebenteiliger Aufzug. Skizziert wird darin der Beginn jüdischen Lebens im Frankfurt der Nachkriegsjahre und der Einfluss des Judentums auf die Theoriebildung der Protagonisten im IfS. Mit dem Hinweis auf die Loeb-Lectures, Vorlesungen zu Geschichte, Philosophie und Religion des Judentums an der Universität Frankfurt in den Jahren 1956 bis 1967 wird der nationale Rahmen verlassen. In den Blick geraten internationale Beziehungen ebenso wie strittige Nachbarschaften, etwa zu Hannah Arendt oder Gershom Scholem, ehe dann Honneth in seinem Schlusswort vom schwierigen Geschäft der Wahrung der Tradition und der Zukunft des Instituts spricht. Formal unterscheiden sich die Beiträge: Das Spektrum reicht von zeithistorisch-dokumentierenden oder philosophisch reflektierenden Abhandlungen bis zu narrativen Texten bei Kluge und Dagobert Lindlau.

Schon mit der Wahl des Ausstellungsortes wird der Versuch gemacht, die Frankfurter Schule als zur Geschichte des Judentums gehörend zu positionieren. Die Frage nach dem Judentum stellte sich, so der Katalog, den Frankfurtern, im Exil wie von selbst doppelt: als Juden und linke Intellektuelle. Den Anteil jüdischer Tradition an der ideellen Formung der Frankfurter veranschlagt zumindest Leo Löwenthal anfangs gering, ehe er 1979 seine Haltung revidiert: „So sehr ich doch Martin Jay auszureden versucht habe, dass jüdische Motive bei uns am Institut überhaupt vorhanden gewesen seien – jetzt nach reifer Überlegung im höheren Alter muss ich doch zugeben, dass der untergründige Einfluss der jüdischen Tradition mitbestimmend gewesen sei.“

In mehreren Anläufen umkreisen verschiedene Beiträge diesen Aspekt. Im Beitrag von Amalia Barboza etwa ist die Rede davon, dass Horkheimer die „Kraft zur Empörung aus dem Judentum zugewachsen“ sei und Zvi Rosen erläutert, dass Horkheimer aus zwei Quellen, der jüdischen Religionsphilosophie und der durch „Kant, Hegel, Schopenhauer und Marx“ geprägten Philosophie geschöpft habe. Wiederum auf Horkheimer bezogen, geht es im Beitrag von Tobias Freimüller um dessen Beziehungen zur jüdischen Gemeinde in Frankfurt nach 1945. Aber auch bereits im ersten Kapitel, das die Rückkehr der Protagonisten behandelt, stellen Heike Drummer und Jutta Zwilling heraus, dass die Rückkehr des Instituts sich auch deshalb relativ rasch vollzog, da die politisch Verantwortlichen in Frankfurt eine moralische Verpflichtung gegenüber Juden verspürten. Außerdem waren eigene Interessen im Spiel, da man von dem in Weimarer Zeiten erworbenen Renommee des Instituts profitieren wollte, um das eigene Image aufzupolieren. Auch bildungspolitische Gründe kamen hinzu, und so stand der Wiedereröffnung des Instituts nichts im Wege. Im Katalog wird zwar von der Rückkehr des Instituts gesprochen, aber es kamen zunächst nur Adorno, Horkheimer und Friedrich Pollock in den Westteil Deutschlands zurück. Hans Mayer, Ernst Engelberg und Henryk Grossmann siedelten sich aus politischen Gründen, um am Wiederaufbau unter sozialistischen Vorzeichen beteiligt zu sein, in der Sowjetischen Besatzungszone an. Der Fall Marcuse, den Peter-Erwin Jansen behandelt, ist bemerkenswert, da Marcuse zwar zum inneren Kreis des Instituts gehörte, aber insbesondere von Adorno mit Skepsis betrachtet wurde. Adorno war es denn auch, der Marcuse, der sich ursprünglich bei Martin Heidegger habilitieren wollte, mit dem Titel eines „durch das Judentum verhinderten Faschisten“ belegte. Marcuse wiederum forderte Heidegger in mehreren Briefen auf, sein Verhalten während des Nationalsozialismus zu erklären. Heideggers Reaktion ist bekannt und Marcuse, der dessen Argumentation absurd fand, stellte ihn „außerhalb des Logos“.

Als öffentliche Intellektuelle konnten sich in Westdeutschland insbesondere Adorno und Horkheimer etablieren. Dass beide auch autoritär sein können, wird am Fall von Grossmann deutlich, dem das Institut die für eine Remigration notwendigen Geldmittel aus politischen Gründen zunächst verweigerte. Dass die „SBZ“ für Adorno und Horkheimer nicht das „bessere Deutschland“ verkörperte, stellte Wiggershaus bereits 1986 in seiner „Geschichte der Frankfurter Schule“ heraus. Zu diesem Aspekt erfährt man im Katalog nichts Neues, wohl aber über das Innenleben des Instituts und zur besonders engen Beziehung zwischen Horkheimer und Pollock. Beide, auch das wird herausgestellt, sahen sich, im Unterschied zur Mehrheit der Ausgewanderten, durch das Institut finanziell stets gut abgesichert. Als Beleg wird Pollocks Brief an Horkheimer angeführt.

Aus der Präsentation vieler Dokumente beziehen die Beiträge des Katalogs ihre Stärke. Im zweiten Drittel, als Insert angelegt, sind Auszüge aus einem Fotoalbum von Maidon Horkheimer abgedruckt. Auf einer diesen Fotocollagen prangt das Wort „Danger“. In Gefahr waren sie zwar alle, aber einem prominenten Mitglied, Walter Benjamin, der im Katalog nicht präsent ist, erschien sie so groß, dass er sich ein Überleben des Exils nicht vorstellen konnte. Ihm setzte der israelische Künstler Dani Karavan in Port Bou ein Denkmal. Für alle anderen Protagonisten übernahm der vorliegende, sehr schön gestaltete Katalog diese Aufgabe.

Das „Jüdische“ der Protagonisten allerdings wurde bereits 1999 in der Studie von Clemens Albrecht, Günter C. Behrmann und Michael Bock „Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule“ detailliert dargestellt. Gleichwohl blieben damals einige Fragen offen und bleiben es weiter. So wird im Beitrag von Barboza entschieden zu knapp auf die „Jüdische Identität der Frankfurter Schule“ und deren Beitrag zur Nachkriegssoziologie eingegangen. Der Hauptteil ihres Beitrags befasst sich vor allem mit unterschiedlichen Formen der Identitätskonstruktion in Soziologie und Judentum. Plausibel wird aber selbst Horkheimers Anspruch, dass sich der jüdische Aspekt in der Solidarität mit Minderheiten und Schwachen manifestiere, nicht unbedingt, da auch andere Religionen diese Haltung für sich beanspruchen.

Der Katalog überzeugt trotzdem, weil er deutlich macht, dass die Überwindung der intellektuellen Krise der deutschen Nachkriegsgesellschaft nicht zuletzt dem politischen Engagement der Frankfurter Schule zu verdanken ist.

Titelbild

Monika Boll / Raphael Gross (Hg.): Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland.
Wallstein Verlag, Göttingen 2009.
297 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835305663

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