„Da, wo ich herkomme, versinken die Häuser“

Moritz Rinkes erster Roman „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“ ist eine witzig-melancholische Künstler- und Jahrhundertgeschichte, die sich allerdings ein wenig zu viel vorgenommen hat

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Moritz Rinke ist bisher vor allem als Dramatiker bekannt. Mit seinen auf Aktualität getrimmten „Nibelungen“ traten 2002 die Wormser Nibelungenfestspiele – inzwischen zu einem festen Termin im jährlichen Open-Air-Kalender geworden – ins Leben. Nun also, mit einem guten Dutzend Theaterstücken im Rücken, der erste Roman. Und nicht irgendeiner. Nichts aus der Sparte „Selbst erlebt und leicht verfremdet“. Keine „Bekenntnisse eines umtriebigen Bühnenautors“. Sondern nichts weniger als ein Jahrhundertroman, dem hier gleich eingangs bescheinigt werden soll, dass er mehr verspricht, als er unter dem Strich halten kann, und trotzdem als Ganzes keineswegs enttäuscht.

Rinke wurde 1967 in Worpswede geboren – einem Ort, der vor allem durch seine 1889 gegründete Künstlerkolonie, die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft bedeutender deutscher Impressionisten und Expressionisten, bekannt wurde. Fritz Mackensen, Otto Modersohn und seine spätere Frau Paula Becker, Heinrich Vogeler und Fritz Overbeck suchten sich in der und um die kleine Ortschaft die Motive für ihre künstlerische Arbeit. Und genau hier, nördlich von Bremen, mitten im „Teufelsmoor“ gelegen, spielt auch der größte Teil von Rinkes Roman. Es ist eine Familiengeschichte, die bis vor und in die Zeit des deutschen Faschismus zurückreicht, und deren hauptsächliche Protagonisten in den Umkreis der zweiten Generation jener Kolonisten zählen, die die kleine Ortschaft so attraktiv für ihresgleichen machten und einen bis in unsere Tage nicht versiegenden Strom von Touristen anzogen.

Rinkes Held heißt Paul Wendland. Dieser ist der letzte Nachkomme einer Künstlerfamilie, die schon zu den Zeiten, da sie sich auf dem historischen Grund niederließ, nicht mehr ganz die Höhe halten konnte, auf der die Gründerväter der berühmten Kolonie einst schufen. Wendlands Großvater, Paul Kück – der „Rodin des Nordens“ –, machte sich einen Namen als Bildhauer. Überall im Garten seines Anwesens stehen sie nach seinem Tode noch herum: Otto von Bismarck und Willy Brandt, Martin Luther und Napoleon Bonaparte, Max Schmeling und Heinz Rühmann. Lebensgroß, bedeutsam und vor allem schwer kommt das daher – so schwer, dass die Skulpturen im morastigen Grund versinken würden, hätte nicht ein leicht verrückter Verwandter, der das Anwesen hütet, seitdem Pauls Eltern sich getrennt haben, der Vater samt neuer Partnerin in die USA ging und die Mutter beschloss, ihren Lebensabend auf Lanzarote ganz im Zeichen der Esoterik zu verbringen, das imposante Kulturgut mittels Seilen an einer alten Eiche vertäut.

Paul jedenfalls, der Enkel und Berliner Galerist ohne sonderlichen Erfolg, ist im Auftrag der Mutter in die norddeutsche Tiefebene gereist. Denn nicht nur die Bronzeskulpturen drohen zu versinken, das ganze Haus – Pauls Erbgut immerhin – ist in Schieflage geraten und könnte in absehbarer Zeit ein Opfer des Moorbodens werden, auf dem es steht. Da muss eine Lösung her. Und während eine örtliche Baufirma sich daranmacht, das 1937 in den Besitz der Familie übergegangene Anwesen neu in dem unsicheren Grund zu verankern, kümmert sich Paul um den Geist des Ortes, lüftet all jene Familiengeheimnisse, über die in der Vergangenheit stets der Mantel des Schweigens ausgebreitet wurde.

Deutsche Geschichte und deutsche Kunst des 20. Jahrhunderts, familiäre Tragödien und politische Verstrickungen, die Berliner Republik und das Bemühen hoch verschuldeter Gemeinden, sich mittels aller möglichen Kniffe – hier sind es touristische – zu salvieren, die 68er und die Wendegeneration, Moorleichen und deutschstämmige Umsiedler aus Russland – „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“ hat sich letzten Endes thematisch wohl ein wenig übernommen. Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen, heißt es so schön im Klassikerzitat. Hier wäre weniger wieder einmal mehr gewesen, zumal einige der Geschichten und Geschichtchen, aus denen das Buch besteht, lediglich an-, aber beileibe nicht auserzählt werden, etliche Figuren unausgeschöpfte Potenziale enthalten und der Romanschluss auch nicht recht überzeugen will, so offen er sich auch zu sein bemüht.

Allein das Inhaltsverzeichnis dürfte einige Leser schon gehörig frustrieren. Es erstreckt sich über sage und schreibe sechs volle Buchseiten und umfasst 50 Einzelkapitel – dass viele davon noch in nicht nummerierte Unterkapitel zerfallen, sei nur am Rande erwähnt –, die auf einen Prolog und vier Teile verteilt wurden. Und nachdem man sich noch relativ einfach in den Text hineinfindet, sich bei den Telefonaten mit der Mutter ein bisschen an „Herr[n] Lehmann“ und dessen Art der Lebensbewältigung erinnert fühlt, legt Rinke dann doch gehörig nach. Es geht in die Breite und in die Tiefe. Ersteres was das Figurenfeld betrifft, Letzteres in Bezug auf die Verstrickungen der einzelnen Protagonisten in Zeit, Geschichte sowie familiäre Kabalen.

Aber – und das soll keineswegs verschwiegen werden – das Ganze liest sich eminent vergnüglich, steckt voller Anekdoten und Witz im Detail. Und ergibt es auch nicht immer (erzählerisch-ökonomischen) Sinn – formuliert ist es meistens so, dass man den kleinen Ärger über etwas, dass sich nicht ins Gesamtbild fügen will, schnell vergisst. Rinke kann Dialoge schreiben. Er weiß, wie man Situationen zuspitzt, auf einen Höhepunkt hinschreibt und Pointen kreiert. Skurrile Gestalten wie der sympathisch-verwirrte Null-Kück oder der Bauunternehmer Brüning gewinnen unter seiner Feder Kontur und selbst wenn der nachträgliche Gründungsversuch des Eltern- und Großelternhauses nicht die frischeste Metapher darstellt – hier passt sie allemal.

Da schließlich die Leichen im Keller – hier ist der sinnbildliche Keller übrigens eine alte Scheune, die, nachdem sie ihre abscheulichen Geheimnisse aus der Zeit des „Dritten Reiches“ preisgegeben hat, von Paul rigoros aus dem Weg geräumt wird – sämtlich ausgegraben sind und auch der Sumpf herausgegeben hat, wovon viele hofften, es bliebe auf ewig in seinen Tiefen verborgen, steht der Leser endlich ebenso ratlos vor all dem Entwirrten wie Paul Wendland selbst. Der hat die Sicherheit seines Herkommens eingebüßt, ohne eine neue familiäre Perspektive gefunden zu haben. Dass es mit der Sanierung seines Geburtshauses schließlich auch kein gutes Ende nimmt – ein so genannter Grundbruch lässt das Fundament auseinanderbersten, Paul ist gezwungen, die Rettung des Gebäudes abzublasen – kann nur eines bedeuten: In dem Unternehmen Vergangenheitsbewältigung war von Anfang an der Wurm drin.

Titelbild

Moritz Rinke: Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010.
489 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783462041903

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