Religion als Brandbeschleuniger

Die Ursachen religiöser Gewalt sind komplex, so heißt es in Hans G. Kippenbergs Studie „Gewalt als Gottesdienst“

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Darf man religiöse Gewalt überhaupt verstehen wollen? lautet die eingangs von dem Soziologen und Fellow am Erfurter Max-Weber-Kolleg, Hans Kippenberg, gestellte, provokante Frage. Tatsächlich dürfte angesichts der weltweiten Zunahme von Gewalttaten im Namen Gottes oder Allahs ein erkenntnismäßiger Attentismus kaum noch zu vertreten sein. Gerade die drei so genannten abrahamitischen Religionen erscheinen trotz ihrer Friedens- und Heilsbotschaften in ihren Aussagen zur Gewalt mindestens ambivalent und werden in der säkularen westlichen Öffentlichkeit auch zunehmend kritisch bewertet.

Kippenberg weist jedoch von Anfang an darauf hin, dass die Ursachen des betrachteten Problems keineswegs in der religiösen Gewaltrhetorik allein zu finden sind. Gerade die Geschichte des antiken Judentums zeige, dass die im Alten Testament geschilderten Massaker und Kriegsverbrechen nicht nur literarische Fiktionen sind, sondern tatsächlich auch nie die politische Praxis der jüdischen Glaubensgemeinschaft bestimmt haben. Man könnte, so der Verfasser plakativ, die Religion eher als Brandbeschleuniger auffassen, die tatsächliche Brandursache liege jedoch woanders.

Religiöse Gewalt habe, so seine Kernaussage, nicht allein ideologische Gründe, sondern lasse sich eher regelmäßig auf die besondere isolierte oder marginalisierte Situation einer Glaubensgemeinschaft zurückführen. Als klassische Beispiele nennt Kippenberg den Massensuizid der „People’s Temple“ von Johnstown (1978) oder das von den überforderten Behörden zu verantwortende Massaker an den Mitgliedern der „Mt. Carmel“ im texanischen Waco (1993).

In allen vom Verfasser untersuchten Fällen sind moderne Religionsgemeinschaften, gleich welcher Konfession und nationaler Herkunft, zunächst und in erster Linie soziale Gemeinschaften, die häufig auf einer stark ausgeprägten Ethik der Brüderlichkeit beruhen. Jenseits aller theologischen Heilsrhetorik sind diese weltweit rasch zunehmenden Gruppierungen, die meist unabhängig von traditionellen religiösen Autoritäten oder staatlicher Unterstützung agieren, vor allem Überlebensgemeinschaften, in denen der eine für den anderen einsteht. Diese enge Bindung wird noch umso mehr gestärkt, je weniger die sie umgebenden Gesellschaften oder der Staat ihren sozialen Verpflichtungen nachkommen können oder wollen.

„Unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaften, die dem Einzelnen alle Risiken aufbürdete, ohne dass er sich noch auf traditionelle Loyalitäten von Familie, Verwandtschaft oder Nachbarschaft verlassen konnte, entfaltete“, so Kippenberg, „die religiöse Brüderlichkeitsethik eine mächtige Anziehungskraft.“

Der Verfasser macht in seinen acht detaillierten Fallstudien klar, dass die evangelikalen Gruppen in den Vereinigten Staaten, die militanten religiösen Zionisten in Israel und auch die muslimischen Gemeinschaften des Nahen Ostens, das heißt Muslembruderschaft, Hamas oder Hisbollah fast immer nach dieser Logik funktionieren: Der Schlüssel zur Erklärung religiöser Gewalt liege also in der Ethik territorial gebundener Religionsgemeinschaften, die sich angesichts eines scheinbar übermächtigen Feindes vor die chiliastische Wahl gestellt sähen, entweder zu kapitulieren oder für die eigene Wahrheit zu sterben. Häufig sehen sich ihre Angehörigen dabei in einem apokalyptischen Kampf verwickelt, der die eigene Zeit transzendiert und vorgibt, die Schlachten einer mythischen Vergangenheit zu wiederholen. Auch den Anschlag der Al-Qaida auf die New Yorker Twin Towers rechnet Kippenberg zu diesen chiliastischen Verzweiflungstaten, die angeblich aus einer asymmetrischen Situation der Marginalisierung und der Bedrohung des eigenen Glaubens durch eine umfassende ideologische Gegenwelt (westlicher Kapitalismus) hervorgehen.

Die besondere Spannung liege daher, so der Verfasser, in der Situation: „Weder kann man Kulte, Fundamentalismus, Terrorismus zu den Hauptschuldigen erklären noch politische Unterdrückung oder Entrechtung. Weder ist allein eine religiöse Gemeinschaft noch ein sozialer Konflikt der Verursacher von Gewalt. Gewalthandlungen gehen vielmehr aus den Wechselwirkungen zwischen beiden Seiten hervor.“

Wie sehen nun nach Kippenbergs Ansicht die noch vorhandenen Lösungsmöglichkeiten aus? Da in absehbarer Zeit kaum damit zu rechnen sei, dass der weltweite Vormarsch von Religionsgemeinschaften außerhalb der klassischen Religionsorganisationen zum Stillstand kommt oder gar ein freiwilliger Rückzug aus der Politik stattfindet, müssen staatliche Autoritäten nach geeigneten Wegen suchen, zukünftige Konflikte gewaltfrei zu regeln.

Tatsächlich finden sich nach Kippenbergs Überzeugung auch in der chiliastischen Logik der betrachteten Religionsgemeinschaften außer der ultimativen Konfrontation andere Handlungsoptionen, die friedliche Auswege offen lassen.

Gerade die Vertreter des säkularen Staates sollten darauf verzichten, bei ihrem Werben um Wählerstimmen in den Religionsgemeinschaften deren politische Deutungsmuster zu übernehmen und damit die eigene politische Sprache chiliastisch zu transformieren, wie es zuletzt von den Neokonservativen in den Vereinigten Staaten massiv betrieben wurde.

Erst dann würde es auch wieder möglich sein, von einer pauschalisierenden Verteufelung des Feindes als Fundamentalisten oder pathologische Gewalttäter abzusehen und sogar auf bereits angebotene Waffenstillstände einzugehen. Gerade im Falle der palästinensischen Hamas oder der libanesischen Hisbollah besteht nach Ansicht Kippenbergs durchaus die Möglichkeit, diese Gruppierungen langfristig als soziale Bewegung oder als Partei in den politischen Prozess einzubeziehen.

Ob allerdings auf diese Weise auch hoch individualisierte Terrornetzwerke wie Al-Qaida entschärft werden können, erscheint mehr als zweifelhaft. Gleichwohl hat Kippenbergs Studie einen plausiblen Zusammenhang zwischen einer auf den ersten Blick doch bizarr erscheinenden Renaissance religiöser Bewegungen und dem Prozess der Globalisierung aufzeigen können, die sich auch mit den Befunden anderer Untersuchungen deckt.

Titelbild

Hans G. Kippenberg: Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung.
Verlag C.H.Beck, München 2008.
272 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783406494666

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