Space is back.

Jörg Döring und Tristan Thielmann gehen dem „Spatial turn“ nach

Von Christine HermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Hermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Räumeln ist in!“ So umschreibt der Geograf Marc Redepenning das neue Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Der spatial turn – die Hinwendung zum Raum – zeigt in den verschiedensten Disziplinen Auswirkungen. Auf „interdisziplinärer, transdisziplinärer, ja, wenn man so will: pandisziplinärer Ebene“ (Edward Soja) haben Wissenschaftler begonnen, über Raum neu nachzudenken. Nicht nur in den traditionell mit Raum befassten Disziplinen (Geografie, Architektur, Städtebau) ist Raum ein Thema – auch Medien- und Kommunikationswissenschaft, Filmwissenschaft, Wirtschaftswissenschaften und Anthropologie entdecken raumbezogenes Denken; Soziologen widmen sich den Auswirkungen von cyberspace und virtual spaces, in der Geschichtswissenschaft lesen wir mit Karl Schlögel „die Zeit im Raum“, Medienwissenschaftler untersuchen Räume als Wissensspeicher, und in der Literaturwissenschaft befasst man sich mit dem Lesen und der Bedeutung von Karten.

Der Raumbegriff hat also Konjunktur im wissenschaftlichen Diskurs der verschiedensten Disziplinen. Jedoch leide der spatial turn dabei an einer mangelhaften Klärung des ontologischen Status von Raum, wie der Geograf Benno Werlen kritisiert. Raum erweise sich immer mehr als ein Homonym. Für das 20. Jahrhundert gelte, so meint Gerhard Hard (ebenfalls Geograf), dass der Raum „von irreduzibler Polysemie“ befallen sei. Alle reden vom Raum – doch meinen sie alle dasselbe? Wie wird und wurde Raum in den verschiedenen Einzelwissenschaften gesehen? Gibt es überhaupt einen spatial turn? Diesen Fragen geht der vorliegende Band nach.

Die vom Literatur- und Medienwissenschaftler Jörg Döring gemeinsam mit Tristan Thielmann (beide Universität Siegen) redigierte, fächerübergreifende Anthologie bündelt Beiträge aus verschiedenen Fachrichtungen zu neuen Formen des Raumdenkens, und dies (im Unterschied zu anderen Sammelbänden) unter Einbezug von Geografen. Entgegen dem Untertitel „Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften“, gibt dieser Band den Geografen gleich viel Raum wie den Kultur- und Sozialwissenschaften: neun Beiträgen auf rund 200 Seiten aus der Feder von Literaturwissenschaftlern, Filmwissenschaftlern, Historikern, Soziologen, Medienwissenschaftlern und Kulturanthropologen stehen im zweiten Teil auf ebenfalls rund 200 Seiten sieben Beiträge von Humangeografen gegenüber – Vertretern einer Fachrichtung, die dem spatial turn zu einem großen Teil kritisch gegenüber steht. Dass die Ansätze dementsprechend heterogen sind, liegt dabei in der Intention der Herausgeber.

In einer ausführlichen Einleitung mit einer umfassenden Literaturliste, die einen guten Überblick über den aktuellen Forschungsstand gibt, gehen die Herausgeber auf verschiedene Facetten des spatial turn ein. Der Begriff geht auf den amerikanischen Humangeografen Edward W. Soja zurück, der sich wiederum auf den französischen Soziologen Henri Lefebvre bezieht. Er wird unterschiedlich verstanden: als neues Paradigma oder als (transitorische) Verschiebung der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Immer wieder wird aber betont, dass es nicht um den Raum an sich geht, sondern um Raumkonzepte und Raumvorstellungen, also darum, wie man den Raum denken kann.

Auch der Gegensatz zwischen der Vorstellung von Raum als Behälter und relationalen Raumkonzepten wird in den Beiträgen wiederholt thematisiert. Im Containerraum haben Dinge und Menschen ihren festen Platz, der Raum wirkt auf die darin befindlichen Objekte ein, ohne dass diese eine Rückwirkung auf ihn ausüben. Das relationale Raummodell hingegen versteht Raum als eine relationale Ordnung, die auf Wechselbeziehungen beruht.

Diese Wechselbeziehungen treten in vielen der soziologisch-kulturwissenschaftlich orientierten Beiträge in den Vordergrund. So untersucht Jörg Dünne in seinem Beitrag die Bedeutung der Kartografie im aktuellen Raumdenken in den Kulturwissenschaften, wobei er den Fokus auf die medialen Bedingungen von Raumkonstitution legt. Karten bilden nicht nur Territorien und soziale Relationen ab, sondern konstituieren sie mit und ermöglichen darüber hinaus dem Leser, sich fremde Regionen vorzustellen und „mit dem Finger auf der Landkarte zu reisen“.

Vom neu erwachten Interesse der Soziologie an Fragen des Raumes gibt die „Raumsoziologie“ von Martina Löw (2001) beredtes Zeugnis, die auf das „soziale Gemacht-sein von Räumen“, also den gesellschaftlich produzierten Raum, fokussiert. Doch soll dieses Raumverständnis auch nicht verabsolutiert werden, wie Markus Schroer in seinem Beitrag darlegt, denn Raum werde nicht nur sozial hergestellt, sondern wir würden auch in (Macht-)Räume hineingestellt. Gesellschaftliche Prozesse bilden also ebenso räumliche Formen aus, wie der Raum die gesellschaftlichen Prozesse erst verursacht. In der empirischen Forschung wird Raum hingegen häufig vorausgesetzt und kaum nach der Herstellung der Räume durch die Akteure gefragt, etwa wenn sich Stadtplanung und soziologische Forschungen auf ‚benachteiligte Wohngebiete‘, ‚Problembezirke‘, ‚Ghettos‘ und deren Verortung konzentrieren, ohne nach den „Aneignungsweisen der jeweiligen Bewohner“ zu fragen, und diese lediglich als Opfer des Raumes, in dem sie leben, sehen.

Die Filmwissenschaftlerin Guiliana Bruno setzt die Rezeption von Kinogängern parallel mit dem Wahrnehmen eines architektonischen Gebildes – sowohl Film als auch Architektur würden „durchquert“ und erst in dieser räumlichen Bewegung lesbar. Während sich der Beitrag von Eric Piltz der zentralen Frage widmet, wie der Raum in der Geschichtswissenschaft „gedacht, konzeptualisiert und metaphorisiert“ wird, zeigt Markus Schroer in seinem Artikel die Relevanz des Raumes als soziologische Kategorie auf. Er konfrontiert die These vom „Verschwinden des Raumes“ mit derjenigen der „Wiederkehr des Raumes“, die auf unterschiedliche Raumkonzepte zurückgehen: Wenn vom Verschwinden des Raumes die Rede ist, so meint man den physischen Raum (Nationalstaat als Containerraum), spricht man hingegen von der Wiederkehr des Raumes, ist der soziale (virtuelle, transnationale) Raum gemeint.

Der Medienwissenschaftler Stefan Günzel erläutert in seinem Beitrag die Begriffe spatial turn, topographical turn und topological turn. Beim topographical turn, der auf die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel (2002) zurückgeht, wird Raum als eine Art Text betrachtet (ähnlich einer Landkarte), dessen Zeichen in der kulturwissenschaftlichen Analyse zu entziffern sind. Günzel plädiert jedoch eher für den Begriff topological turn: Diese ‚topologische Wende‘ wende sich nicht dem Raum zu, sondern vielmehr vom Raum ab, um stattdessen die Räumlichkeit in den Blick zu nehmen.

Im zweiten Teil des Bandes kommen dann die Geografen zu Wort. Interessanterweise stehen gerade diese dem fächerübergreifenden spatial turn vielfach skeptisch gegenüber. Konnte doch, wie Werlen anmerkt, in der Geografie, der ‚Raumwissenschaft‘ schlechthin, „natürlich kein spatial turn stattfinden.“

Die geographischen Positionen gegenüber dem spatial turn lassen sich in drei Gruppen unterteilen: Autoren wie Ed Soja halten ihn euphorisch für ein neues transdisziplinäres Großparadigma, andere, wie Nigel Thrift und Mike Crang, vertreten eine neutrale Position und suchen im Diskurs der Nichtgeografen nach Anschlussmöglichkeiten für ihre Disziplin, während eine dritte Gruppe den außergeografischen spatial turn vehement zurückweist und die Geografie als die Raumwissenschaft zu rehabilitieren sucht, deren Erkenntnisse von den Sozial- und Kulturwissenschaften zuerst nicht beachtet und danach „neu erfunden“ worden seien. So beklagt etwa Redepenning, dass geografische Arbeiten zum Raum (und auch zum dortigen Wandel der Perspektive vom Naturraum zum gesellschaftlich veränderten Raum) in der Diskussion über den spatial turn außer Acht gelassen wurden, und Gerhard Hard fasst in seinem ebenfalls kritischen Beitrag die Geschichte der geografischen Raumparadigmen und Raumkonzepte zusammen, die zugleich eine Geschichte ihrer Kritik, Verschiebung und Zersetzung ist. Seine Betrachtung des spatial turn von der Paradigmengeschichte der Geografie her lässt die Geografiegeschichte ihrerseits als eine Abfolge von spatial turns erscheinen.

Im aktuellen Diskurs über Raum werden also sehr verschiedene und zum Teil kontroverse Positionen bezogen. Wie schwierig es ist, einen ‚common ground‘ für dieses neue Paradigma in den verschiedenen Disziplinen auszumachen, wird im vorliegenden Band mit Beiträgen von maßgeblichen Wissenschaftlern deutlich, wobei es kein Nachteil ist, dass sich die einzelnen Beiträge teilweise widersprechen. Das Nebeneinander von Perspektiven aus verschiedenen Disziplinen macht die Kontroversen deutlich – dass sich daraus aber auch neue Zusammenhänge ergeben, liegt in der Natur der Sache. Nicht zuletzt bildet auch das abschließende Sachregister ein Netzwerk von Verweisen und lädt dazu ein, die verschiedenen Zugänge zu denselben Schlagworten nochmals zu vergleichen, wodurch unvermutete Relationen und Parallelen zwischen den verschiedenen Beiträgen deutlich werden. Dieser Sammelband ist allen, die sich für den Raumdiskurs interessieren, wärmstens zu empfehlen.

Titelbild

Jörg Döring / Tristan Thielmann (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften.
Transcript Verlag, Bielefeld 2008.
460 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783899426830

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