„… auf alle Lebenden und Toten“

Über Georg Kleins „Roman unserer Kindheit“

Von Stephan KraftRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Kraft

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Georg Klein hat ein wenig Pech gehabt. Als er im März für seinen neuen „Roman unserer Kindheit“ den Preis der Leipziger Buchmesse verliehen bekam, stand dieser Teil der Nachricht im Feuilleton nur in zweiter Reihe. Die Hauptmeldung war der Umstand, dass diese Auszeichnung dann eben doch nicht an die gleichfalls nominierte Helene Hegemann ging, die zuvor aus sattsam bekannten Gründen soviel von sich reden gemacht hatte.

Mittlerweile hat sich der Pulverdampf dieser Schlacht weitgehend verzogen, so dass ein freierer Blick – sofern es so etwas hier überhaupt gibt – auf den fünften und erneut höchst erstaunlichen Roman dieses Autors möglich ist. Möbliert ist er wieder einmal mit den bei Klein üblichen Elementen: labyrinthischen Gängen, finsteren Kammern, doppelten Böden und natürlich einem den Informationsfluss wohl dosierenden Icherzähler – und zwar wieder einmal einem ganz besonderen. Gleich zu Beginn heißt es ja, dass Kinder „noch allesamt mit starken Augen geschlagen [seien], so lange, bis ihnen die aufstrebenden Götter, bis ihnen der kleine Schrecken des Sex und das Schwarzweiß des Fernsehens den Blick lindern werden“. Was wäre da folgerichtiger, als ein noch ungeborenes, vor gerade einmal ein paar Wochen gezeugtes Mädchen zu seiner Berichterstatterin zu machen. Von ihrer Position aus ist schließlich der durchdringendste und damit eben auch der schmerzhafteste Blick auf das Geschehen möglich: eingeschlossen in den mütterlichen Uterus und doch überall mit dabei, ihren scharfem Blick nicht nur auf die Schrecken der Vergangenheit, sondern vor allem auch auf die der Zukunft richtend – Verwundung und herannahenden Tod wenn nicht immer breit ausmalend, so aber doch stets genau registrierend.

Die Geschichte, die dieses im Wortsinne exzentrische Wesen uns zu erzählen hat, ist – wie eigentlich alle Geschichten Kleins – eine deutsche Nachkriegsgeschichte. Der Ältere Bruder, die Witzigen Zwillinge, die Schicke Sybille und ihre kleine nervtötende Schwester, der Ami-Michi, der Wolfskopf und der Schniefer bilden in den frühen 1960er-Jahren eine Vorstadtkinderbande. Sekundiert werden sie von den übrigen Bewohnern einer dieser schnell hochgezogenen Nachkriegsneubausiedlungen mit ihren Reihen von Mehrfamilienhäusern, die gleichsam ein Relais bilden zwischen den beschwiegenen Gewalt- und Zerstörungserfahrungen des zurückliegenden Krieges und der Aufstiegs- und beginnenden Konsumseligkeit der noch jungen Bundesrepublik.

Die Kinder bewegen sich – jedes auf seine Art – in den wenigen Wochen, in denen das Geschehen spielt, über diverse Schwellen: Der Ältere Bruder soll ab dem Herbst als erster aus der Siedlung überhaupt ein Gymnasium in der Stadt besuchen, der Schicken Sibylle regen sich die Brustknospen unter dem mit züngelnden Drachen bedruckten Kleid, und den Witzigen Zwillingen steht das Ende einer bislang gelebten vollkommenen Kindersymbiose ins Haus. Doch bevor all diese Unvermeidlichkeiten eintreten, erleben wir einen Start in den kindlichen Inbegriff der temporalen Unendlichkeit: die großen Schulferien. Klein – und das unterscheidet seinen neuen Roman vor allem von dessen Vorgängern – scheint von diesem Gefühl gleichsam angesteckt. Er nimmt sich Zeit. Der Leser darf länger denn je bei ihm in einer gewiss angerauten, aber doch immer noch recht vertraut wirkenden Ausgangswelt verharren.

Dieses stärkere Eigengewicht dessen, was man als Wirklichkeit empfinden mag, das sicher nicht zuletzt auch dem autobiografischen Substrat der Erzählung zu verdanken ist, trägt entscheidend dazu bei, das Kleinbürgerleben der bundesdeutschen 1960er-Jahre bis in die Gerüche und haptischen Eindrücke hinein zu verlebendigen. Dem Klein’schen Erzählen insgesamt tut diese ‚Erdung‘ erkennbar wohl. Natürlich bekommt man auch hier, je tiefer man in das Romanlabyrinth eindringt, desto mehr Wendungen, Drehungen und Fantasiegestalten geboten. Auch hier wird natürlich irgendwann zielsicher in verborgene Nebengemächer abgebogen, in denen sich ebenso gewiss all die Albträume manifestieren, die in der ‚Realität‘ hinter zugenagelten Fenstern und vermauerten Türen verborgen gehalten werden sollen. Doch bevor die Achterbahnfahrt in diesen Untergrund losgeht, erfährt man ausführlicher und intensiver als je zuvor von all dem, was denn nun in ihn verdrängt werden sollte.

Die ganz praktische Grundlage für diese neuen Ton besteht nicht zuletzt darin, dass Georg Kleins „Roman unserer Kindheit“ schlicht und einfach deutlich länger ist als seine Vorgänger. Klein gönnt sich und uns rund das doppelte des Umfangs seiner älteren Texte. Dadurch werden aus geschlagenen Haken gezogene Kreise. Und aus engster, oft ans Kryptische grenzender Verdichtung der Aktion wird nun eine ganz andere Form der Konzentration in einem ausführlichen Auflebenlassen einer Welt. Auch hier manifestiert sich der Weg vom Ingeborg-Bachmann-Preis im Jahr 2000 zum Preis der Leipziger Buchmesse im Jahr 2010, der ja nicht zuletzt auch eine Empfehlung an eine größere Gruppe von Lesern darstellen soll.

Georg Klein hat sich zuerst vorsichtig mit seinem Roman „Sünde Güte Blitz“ im Jahr 2007 und jetzt noch deutlicher im „Roman unserer Kindheit“ daran gemacht, die Ecke zu verlassen, in der er sich so lange zusammen mit einer kleinen Schar von Freunden an seinen hochartifiziellen Spielen mit der Genreliteratur vergnügt hat. Diese alten Anhänger dürfen und sollen ihm auch weiterhin treu bleiben, denn die Klein’sche Prosa als eine unverwechselbare ist hier stets noch so präsent wie zuvor. Doch der „Roman unserer Kindheit“ hat darüber hinaus das Potential, auch wenn er in vielerlei Hinsicht natürlich ganz und gar unamerikanisch ist, auf die vor allem dort bekannte und gepflegte Weise seinen höchsten literarischen Anspruch mit Lesbarkeit zu versöhnen.

Eine Sache – vielleicht nur eine Kleinigkeit – sei aber gleichwohl noch zumindest als ein offener Zweifel angemeldet. Denn möglicherweise muss sich Klein irgendwann doch einmal entscheiden, wohin er mit seinen Genrespielen am Ende will. Diesmal ist es der Kinderbandenroman à la Enid Blyton, der das Muster abgibt – es gibt Anführer, Gefolgsleute, tapfere und zickige Mädchen et cetera. Und am Ende greift auch noch der unvermeidliche Hund ins Geschehen ein. Natürlich ist das hier kein Stoff für Zehn- bis Zwölfjährige, doch wer bei einem solchen Genre A sagt, kann zumindest nicht so tun, als gebe es kein B, das im Raum steht. Das war nun bei Klein bisher immer so, und er hat es natürlich auch verstanden, weshalb seine Romane auch immer dieselbe Kurve nehmen (mussten). Sie starten im Hier und Jetzt, beschleunigen, tragen den Leser aus der ein oder anderen Kurve, um schließlich in einem finale furioso einen Feuerwerksschluss zu inszenieren.

Was davon bleibt, ist zumeist ein kleiner mentaler Kater, der hier auch nur deshalb nicht ignoriert werden soll, weil der Rest eben so großartig ist. Die Genres, die Klein anzapft, schreien nach einer Lösung, die er aber so natürlich nicht mehr liefern kann. Bislang bestand sein Ausweg in einer nochmaligen Steigerung, bei der man am Ende mit einer Serie von gezogenen Trümpfen schwindelig gespielt wird. Wer etwa als Leser gewusst hat, welches nun das Kind sein wird, das der finsteren Ankündigung gemäß am Ende des Sommers sterben wird, hebe die Hand.

Die eigentliche Erkenntnis hingegen – dass sich nämlich hinter dem „dünnen Stimmchen“, das wir die ganze Zeit über vernehmen, noch ein anderes organisierendes Zentrum des Erzählens verbirgt – bedarf dieser ins Artistische verzogenen Plotmechanik nicht. Hier ist der Kern, der nun tatsächlich so etwas wie eine Botschaft vermittelt. Sie ist schlicht, aber keinesfalls banal. Die Lebenden und die Toten können nicht nur miteinander in Kontakt treten, sondern sie müssen es auch. Es geht darum, dass diese letzten zumindest einmal „gründlich bemerkt“ worden sind. Geschieht dies nicht, finden und geben sie keine Ruhe.

Titelbild

Georg Klein: Roman unserer Kindheit. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2010.
446 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783498035334

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