„Oh, das glänzte, quoll und sproß so überschwenglich“

Johannes Sabel leitet die deutsch-jüdische Literatur aus dem Geist der Aggada her

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heinrich Heine verfasste 1851 ein „Romanze“ über den mittelalterlichen sephardischen Dichter Jehuda ben Halevy und thematisierte dort auch das Spannungsverhältnis zwischen Halacha und Aggada (auch „Haggada“ oder „Agada“): Die Halacha, der gesetzliche Teil der rabbinischen Schrifttradition in Talmud und Midrasch, gleiche einer

„Fechterschule, wo die besten
Dialektischen Athleten
Babylons und Pumpedithas
Ihre Kämpferspiele trieben.“

Die Aggada dagegen, der nichtgesetzliche, erzählerische, ausschmückende, die Halacha-Vorschriften umrankende Teil der jüdischen Überlieferung, stellt sich dar als der bunte Garten „jener großen Offenbarung, die wir nennen Poesie“. So empfand es auch der junge Jehuda ben Halevy:

„Und der junge Talmudschüler,
Wenn sein Herze war bestäubet

Und betäubet vom Gezänke
Der Halacha, vom Dispute
Über das fatale Ei,
Das ein Huhn gelegt am Festtag,

Oder über eine Frage
Gleicher Importanz – der Knabe
Floh alsdann sich zu erfrischen
In die blühende Hagada,

Wo die schönen alten Sagen,
Engelmärchen und Legenden,
Stille Märtyrerhistorien,
Festgesänge, Weisheitssprüche,

Auch Hyperbeln, gar possierlich,
Alles aber glaubenskräftig,
Glaubensglühend – Oh, das glänzte,
Quoll und sproß so überschwenglich –“

Spätere Forschungen zur Polarität von Halacha in ihrer exklusiven, dem Außenstehenden mitunter fremd erscheinenden hermetischen Strenge einerseits und der freieren Aggada-Dichtung andererseits attestieren dem Dichter des „Romanzero“, die Verhältnisse mit geradezu genialem Blick erfasst zu haben.

Tatsächlich sind die Dinge dann aber doch – wie immer – komplizierter, als man denkt. Johannes Sabel entfaltet diese Komplikationen in seiner Tübinger Dissertation (Neuphilologische Fakultät) auf bewunderswertem kenntnis- und anforderungsreichem Abstraktionsniveau. Hier will jede Seite studiert sein; und ein Lexikon zu Geschichte und Theologie des Judentums ist dem fachexternen Rezipienten als lektürebegleitendes Hilfsmittel unbedingt anzuraten, zumal ein Glossar schmerzlich vermisst wird.

Ein in der Sache selbst begründetes Problem liegt in der Schwierigkeit, dass sich die aggadischen Elemente der rabbinischen Schriften kaum anders als ex negativo – eben als nicht-halachisch – bestimmen lassen. Nach Form, Inhalt und Funktion ist die Aggada nun einmal ein vielgestaltiges Gebilde, dessen Wert sich doch wohl erst demjenigen wirklich erschließt, dem auch die Halacha kein Buch mit sieben Siegeln ist.

Dennoch: Ein Charakteristikum der Aggadot (= Plural von „Aggada“) ist es, den hermetischen Kreis des theologischen Experten- und Elitediskurses überschreiten zu wollen. Sabel nennt dies „das transgressive Moment“ der Aggada und gibt das folgende Beispiel: Im Talmud findet sich die – halachische – Anweisung: „Selbst wenn einen der König grüßt, erwidere man ihm nicht“.

Die zugehörige Aggada „überführt“ nun, so Johannes Sabel, „diesen Satz in eine Erzählung, in der ein Jude im Gebet vertieft einem ‚Hegemon‘, das heißt einem Befehlshaber eines heidnischen Volkes, nicht den Gruß erwidert.“ Weiter berichet die Aggada, wie der heidnische Herrscher dem frommen Juden angesichts der vermeintlichen Insubordination den Tod androht und die folgende Antwort erhält: „Wenn du vor einem König von Fleisch und Blut stündest und dein Freund käme und dich grüßte, würdest du ihm erwidern? Dieser [der Hegemon] erwiderte: Nein. – Und wenn du ihm erwidern würdest, was würde man dir tun? Dieser erwiderte: Man würde mir mein Haupt mit einem Schwerte abschlagen. Jener sprach dann zu ihm: Ist es nicht etwas, das man vom Leichteren aufs Schwerere folgern kann!? Wenn du vor einem König aus Fleisch und Blut stündest, der heute hier und morgen im Grabe ist, würdest du so verfahren, um wieviel mehr ich, der ich vor dem König aller Könige, vor dem Heiligen, gepriesen sei er, der ja in alle Ewigkeit lebend und bestehend ist, gestanden habe. Der Hegemon ließ sich darauf besänftigen, und der Fromme verabschiedete sich in Frieden nach seinem Hause.“

In zwei Hauptabschnitten untersucht Sabel die Geschichte der Aggada im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Der erste ist mit „Aggada und Halacha in der Wissenschaft des Judentums“ überschrieben. Diese Bewegung, die Wissenschaft des Judentums – mit dem „Culturverein“ als geistigem Zentrum –, wurde 1819 in Berlin auf Initiative von Leopold Zunz mit dem Ziel gegründet, in einer krisenhaften Zeit des Umbruchs, die auch in der Wahrnehmung jüdischer Intellektueller „aus den Fugen“ war, eine Neubestimmung der Tradition mit dezidiert aufklärerisch-emanzipatorischer Ausrichtung zu unternehmen.

Die am Projekt beteiligten Wissenschaftler, in der Regel zugleich Rabbiner, debattierten mit besonderer philologisch-hermeneutischer Distinktionskunst auch über den Wesenskern der Aggada in ihrem Kontrast zur Halacha, wobei sich hauptsächlich die folgenden Bestimmungen herauskristallisierten:

– Die Aggada und die Wissenschaft sind miteinander verwandt.

– Die Aggada ist ein Musterfall der „Weltliteratur“.

– Die Aggada ist wesentlich „Volksliteratur“.

– Die Aggada ist – als nicht-wörtlich zu nehmender Text – symbolisch zu verstehen.

– Die Aggada repräsentiert Kontingenz im Gegensatz zur Konstanz verbürgenden Halacha.

So widersprüchlich und von innerjüdischen Parteiungen (so Orthodoxe versus Liberale) bestimmt die Wissenschaft des Judentums die Spezifik der Aggada auch diskutierte – am Ende ergibt sich doch ein Resultat: Ab Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich das Konzept der „Literarizität“ der Aggada als eines privilegierten Exempels „jüdischer Literatur“, also als eines genuinen Gegenstandes moderner, säkularer Philologie, zunehmend durch. Und es ist dieses Untersuchungsergebnis, das vom Buchtitel „Die Geburt der Literatur aus der Aggada“ auf eine griffige und elegante Formel gebracht wird.

Der zweite Hauptabschnitt trägt die Überschrift „Anthologien“ und widmet sich ausführlich Aggada-Sammlungen wie etwa den „Sagen aus dem Oriente“ von Meir Letteris (1847), den „Legends of the Jews“ von Louis Ginzberg (1909) oder den im deutschen Sprachraum prominent gewordenen Anthologien „Die Sagen der Juden“ und „Der Born Judas“ (1913-1927) von Bin Gorion (eigentlich Micha Josef Berdyczewski).

Die Gemeinsamkeit des Projekts „Wissenschaft des Judentums“ und der „Anthologien“ lässt sich mit Sabel so formulieren: „Was die philologische und anthologische Arbeit verbindet, ist […] die programmatische Absicht, die rabbinische Literatur aus dem Netz der Vorurteile gegen den Talmud zu lösen. Dafür wird der Beweis angetreten, dass es eine literarische Tradition des Judentums gibt.“

Sabels Geschichte der unterschiedlichen Konzeptualisierungen der Aggada beziehungsweise des Widerspiels von Aggada und Halacha endet mit einer knappen Nachzeichnung der Diskussion, die Walter Benjamin und Gershom Scholem in den 1930ern über Kafka führten: „Die Aggada als die Gattung der rabbinischen Tradition, die als nichtgesetzlicher Strang ambivalentes Relikt der rabbinischen Tradition ist, indem es […] den Verlust einer Ordnung oder ‚Wahrheit‘ markiert, ist eine Lesart, die Benjamin mit Gershom Scholems Rekonstruktion der Tradition verbindet.“

Es ist allerdings schwer zu beurteilen, ob und inwieweit die jüdische Aggada-Hermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts Ursache, Folge oder bloß Parallelphänomen der Destabilisierung und Dynamisierung vormoderner Ordnungs- und Wahrheitswelten war. Strittig ist ebenfalls, ob und inwieweit genau postmoderne Theoreme wie Indeterminiertheit und Intertextualität mit der Transgressivität und der Polysemie der Aggada konvergieren, wie der Autor am Ende fragt.

Wie gesagt, Johannes Sabels Buch ist nicht zum Gelesen-, sondern zum Studiertwerden geschrieben. Der Laie sollte nicht verzagen, wenn er sich mitunter im Labyrinth des Argumentationsganges verliert. Manche Passage will eben zwei- oder dreimal durchschritten sein; doch auch Abkürzungen in Form des Überfliegens sind nicht prinzipiell verboten. Dankbar ist man auf jeden Fall für das sehr gute Sach- und Personenregister, das – von „Abeles“ bis „Zunz“ – dem Gebrauchswert des in jeder Hinsicht hochwertigen Bandes zugute kommt.

Titelbild

Johannes Sabel: Die Geburt der Literatur aus der Aggada. Formationen eines deutsch-jüdischen Literaturparadigmas.
Mohr Siebeck, Tübingen 2010.
296 Seiten, 69,00 EUR.
ISBN-13: 9783161502095

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