Fluch dem Krieg!

Zum 150. Geburtstag der noch immer weithin als schlichte Heimatdichterin verkannten Schriftstellerin Clara Viebig

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Frauen, sofern man sie überhaupt als Schriftstellerinnen gelten lässt, werden gerne weniger angesehenen literarischen Genres zugeordnet. Autobiografisch gefärbten Erzählungen beispielsweise, auch gerne Kinder- und Jugendbüchern, dem Liebesroman selbstverständlich und dem scheinbar wenig anspruchsvollen Briefroman. Bei einer der erfolgreichsten Schriftstellerinnen des beginnenden 20. Jahrhunderts war und ist es das Genre des ebenfalls gering geschätzten Heimatromans, mit dem sie vornehmlich assoziiert wird. Die Rede ist von Clara Viebig. Und tatsächlich hat die aus der Eifel stammende Autorin eine Reihe Romane und Erzählungen mit dörflichem Lokalkolorit geschrieben.

Dennoch wird ihr das Label der bloßen Heimatliteratin zu Unrecht aufgeklebt. Denn sie hat beileibe nicht nur Werke dieses Genres verfasst. Ihr umfangreiches Œuvre umfasst ebensowohl Großstadt-, genauer gesagt Berlin-Romane, historische Romane sowie einen Künstlerroman und ein eindrückliches literarisches Friedensplädoyer, das mitten im Ersten Weltkrieg erschien. Außerdem zählt ein Dramenzyklus mit dem Titel „Der Kampf um den Mann“ zu ihrem vielfältigen Werk. Und dass selbst die Novellen und Romane, die sie in ihrer ursprünglichen Heimat, der Eifel, angesiedelt hat, die Konventionen des Genres Heimatroman ohne weiteres sprengen können, zeigt wohl kaum ein Werk besser als ihr „Weiberdorf“ (1900), das in einer zeitgenössischen Besprechung als „Frauenliteratur“ gefeiert wurde, wie sie „in gleicher Wucht noch nicht geschrieben worden“ sei.

Wie wenig es jedoch schon zu diesem frühen Zeitpunkt gerechtfertigt war, Viebig als Heimatdichterin abzutun, lässt sich ohne weiteres zeigen, wenn man einen Blick in ihre Werke wirft. Schon ihr erster großer Roman, der 1897 als „Rheinlandstöchter“ erschien, ist ganz anders gelagert. Wie sein Titel kund tut, stehen junge rheinländische Frauen und deren Mütter, die natürlich ebenso Töchter des Rheinlandes sind, im Zentrum der Handlung. Ort des Geschehens ist zunächst das damals 40.000 Einwohner zählende Städtchen Koblenz, gegen Ende Berlin und zwischendurch tatsächlich auch die ländliche Eifel. Die größten Sympathien bringt die Autorin zweifellos der Eifel entgegen, ohne sie darum zu idealisieren, die geringsten Koblenz, ohne die „Kleinstadt“ übermäßig negativ zu zeichnen.

Nun spricht der Titel zwar durchaus nicht zu Unrecht im Plural von Rheinlandstöchtern. Eigentlich handelt das Buch aber vor allem von einer ganz bestimmten Rheinlandstochter. Nelda Dallmer heißt sie und man darf sich wohl die Frage stellen, ob es ein bloßer Zufall sein mag, dass ihr Nachname ganz wie derjenige der Titelfigur von Hedwig Dohms im Jahr zuvor erschienenem Roman „Sibilla Dalmar“ klingt.

Nelda, aus deren Leben sieben Jahre erzählt werden, ist jedenfalls die eigentliche Heldin von Viebigs Roman, zu dessen Beginn sie zwar schon aufs 21. Lebensjahr zugeht, aber durchaus nicht gern auf diese „verflixte[n] Bälle“, die ihre Mutter dazu nutzen möchte, das für damalige Verhältnisse schon langsam alternde Mädchen endlich unter die Haube zu bringen. Den möglichen Heiratskandidaten gilt sie als „weder schlechtweg schön, noch liebenswürdig“, vor allem aber als „[s]chwieriger Charakter“, was sich etwa darin äußert, dass sie sich statt nach Bällen und einem (Ehe)-Mann vielmehr danach sehnt, in dem Örtchen, dem ihr Onkel als Bürgermeister vorsteht, sich mal wieder „ordentlich aus[zu]rennen“ und den „Eifelwind“ durchs Haar fahren zu lassen.

Dass sie sich nicht „so leicht“ verheiraten werde, wird also selbst unter den jungen Männern getuschelt. Angesichts der damaligen patriarchalischen Verhältnisse wundert es wenig, dass dem Vater „bang“ ist um seine Tochter mit dem eigenen Kopf, weiß er doch sehr wohl, dass es „für eine Frau noch zehnmal schwerer [ist] als für einen Mann“, „[d]en eignen Weg zu gehen.“ Allerdings fällt der mit dieser Einsicht verbundene väterliche Ratschlag nicht eben sonderlich emanzipatorisch aus: „[S]chick du dich in die Welt, dann wird sie dir gefallen, und du wirst ihr auch gefallen. Es geht nicht anders.“

Statt dem Rat zu folgen verliebt sich Nelda unglücklich in den durch Spielschulden seines Vaters ‚entehrten‘ Offizier Xylander. Zwar sind dem die „alten Ammenmärchen“ vom männlich-soldatischen Ehrenkodex „nichts als Faxen“, doch kann selbst er sich schwerlich einem Duell entziehen. Nelda ihrerseits verliert durch verleumderische Gerüchte ihre ‚Mädchenehre‘. Viebig fasst das Unglück der jungen Frau in ein wunderbares Bild: „Langsam fallen die Schneeflocken. Wie sie wirbeln, wie sie sinken! Weiß und duftig kommen sie herab, ahnungslos ihres Geschicks; dann liegen sie unten im Kot. Sie sind vergangen.“

Befreundet ist Nelda mit der gut zwei Jahre jüngeren Agnes Röder. Auch sie hat so ihre Probleme mit dem Heiraten; allerdings nur mit dem damals üblichen Anliegen, „die beste Partie zu machen“ und „sich zu versorgen“. Das sei „eklig“, findet Agnes, die aus Liebe heiraten möchte. So wird das hübsche Mädchen „schon bald“ – und das heißt viel zu jung und viel zu naiv – heiraten. Zu Beginn ihrer Ehe vergöttert sie ihren Mann, der sie vom ersten Tag an betrügt. Nelda versucht die unglückliche Ehe ihrer Freundin dennoch zu retten. „Nein, so habe ich mir’s nicht gedacht!“ gesteht die Betrogene ihr. „Lieber Gott, was macht man sich für Illusionen über das verheiratet sein, wenn man so dumm und unerfahren ist, wie ich vor sechs Jahren!“

Zuletzt wird die Ehe durch die schöne Anselma von Koch bedroht. Auch sie eine Rheinlandstochter, die es wie Nelda und Agnes nach Berlin verschlagen hat. Im Gegensatz zu Agnes hat sie nicht aus Liebe geheiratet, sondern um des Geldes Willen einen älteren Mann geehelicht. Schließlich zeigt sie sich aber doch nicht so kaltherzig, wie die Lesenden lange Zeit befürchten müssen. Agnes wächst ihrerseits geradezu über sich hinaus, als ihr Mann die Scheidung verlangt. Und Ähnliches lässt sich selbst von Anselma sagen. „Wir Frauen sind doch die stärkeren“, gibt Nelda Agnes zum Abschied mit auf den Weg. Und zumindest für sie selbst trifft das zu. Am Ende des Romans findet man sie auf einem Eifelberg „frei und befreiend, mutig und ermutigend, Weib und Heldin!“

Als der Roman Ende des 19. Jahrhunderts erschien, lebte seine Autorin bereits in Berlin, wo sie zu Beginn ihrer Laufbahn nicht nur von keinem geringeren als Theodor Fontane protegiert wurde, der ihr eine erste Publikation im Verlag seines Sohnes vermittelte. Dort lernte sie den Mitinhaber des Verlags Friedrich Theodor Cohn kennen, verliebte sich in ihn und heiratete ihn entgegen der antisemitischen Einsprüche ihrer Eltern. Carola Stern hat unlängst unter dem einem Fontanewort entliehenen Titel „Kommen Sie, Cohn“ ein lesenswertes Buch über das Paar veröffentlicht. In der Folgezeit siedelte Viebig die Handlung ihrer Werke wiederholt in der deutschen Hauptstadt an. Einige von ihnen wurden Anfang der 1950er-Jahre in der DDR unter dem Titel „Berliner Novellen“ neu aufgelegt.

Steht in den „Rheinlandstöchter[n]“ die titelstiftende Töchtergeneration im Mittelpunkt, so ist es in „Einer Mutter Sohn“ (1906) der männliche Nachwuchs ebenso wie die Mutter. Überhaupt sind es die Mütter und vielleicht mehr noch die Mutterschaft, die eines der immer wieder verhandelten Themen in Viebigs literarischem Œuvre bilden. Dass sich ihre literarischen Ambitionen allerdings weder in Heimatromanen noch in der Problematisierung von Mutterschaft und Töchterlos erschöpfen, stellte sie bereits 1899 mit dem Roman „Es lebe die Kunst!“ unter Beweis, der eine wunderbaren Persiflage auf die vermeintliche „Elite des Geistes“ bietet. Der seit 1928 unter dem weniger glücklichen Titel „Elisabeth Reinharz’ Ehe“ erschienene Roman nimmt ein Spießbürgertum aufs Korn, das sich für kunstsinnig hält und durch seine Hochrufe verrät: „Es lebe die Kunst! Hoch! Hoch unsere Wirte!“

Die wirklichen Künstler des Romans sind die „jungen Literaten“ der Boheme. Sie publizieren in der Zeitschrift „Jugend“ und gelten dem etablierten Kulturbetrieb als „verrückt“. Es sind dies der bodenständige und zugleich sensible Lyriker Heider sowie sein ganz und gar erfolgloser Wohngenosse Erdmann, der sozialkritische Arbeiten voller gerechtem Zorn verfasst, ohne jedoch einen Verleger für sie gewinnen zu können. Erst nach seinem Tode ändert sich das schlagartig. Wer wirklich „von der Kunst aufs Herz geküßt“ wurde, der wahre Künstler also, stirbt, jung, arm, krank und verkannt. Und wird nach dem Tode, für eine Weile zumindest, berühmt. Elisabeth Reinharz, die Heldin des Buches, fühlt sich von diesem echten Künstlerpaar angezogen. Sie selbst schreibt ebenfalls. Allerdings nicht, wie die ErfolgsliteratInnen, um zu brillieren und „den Instinkten des Publikums [zu] schmeicheln“, sondern ganz ähnlich wie Heider und Erdmann, weil sie sich dazu getrieben fühlt. Die Hoffnung auf eine Karriere gibt sie dabei jedoch nicht auf.

Zwar wendet sich der Roman gegen die von Spießbürgertum und ‚Kunstelite‘ geteilte bigotte Moral, die ledige Mutterschaft verachtet. Die Frauenbewegung wird jedoch – vor allem in der Figur Mia Widmann – gleich mit aufs Korn genommen. Und da erliegt Viebig den konservativen Klischees der, wie man heute sagen würde, ‚Emanze‘ und ihrer vermeintlichen Widersprüche. Gleich zu Beginn des Buches wird Widmann als „energische Vorkämpferin der Frauenemanzipation“ charakterisiert, die „mit männlicher Kraft […] ins Feld“ zieht. Außerdem „schwärmt“ ihr „Madonnenköpfchen“ von „freie[r] Liebe“, obwohl sie doch, wie hämisch angemerkt wird, „selbst Mann und drei Kinder“ hat. Auch die Kritik an der gesellschaftlichen Situation der Frauen wird in Gestalt Widmanns verulkt. „Mädchen, die arbeiten mussten, nannte Mia Widmann ‚Märtyrerinnen‘ und Mädchen, die nichts taten, ‚Opfer der Familie‘.“ Der männliche Sympathieträger des Romans, Heider, meint denn auch, „wenn ein Weib ehrlich sein Herz gibt, den Mut seiner Meinung hat und doch nicht vergisst, daß es einen Unterrock anhat, dann – Hut ab!“ Doch Frauen wie Widmann, „[d]ie ihre Weiblichkeit in Hosen verstecken“ und fordern „‚Laßt uns den Männer gleich sein!‘ – die verdienen Prügel.“ Das ist (und war auch damals schon) schlicht reaktionär.

Bedenklich auch die Rede von der „Unfähigkeit der Frau, das Glück allein zu tragen, mit dem Erfolg allein zu sein“, die eine der weiblichen Identifikationsfiguren im Mund führt. Immerhin jedoch wiederlegt sie sich sogleich insofern selbst, als sie ihr eigenes Glück nicht an den Mann bindet, sondern es in ihrem Töchterchen findet. „Mein Kind, mein süßes Kind!“ herzt sie es und „[e]ine Glücksfülle strömte aus jedem Wort. Es klang wie ein Triumph: ‚Mein Kind!‘“ Das Glück der Frau in die Mutterschaft zu verlegen, ist allerdings ebenfalls keine unbedenkliche Botschaft. In der Figur Elisabeth Reinharz scheint diese Ideologie zunächst relativiert zu werden. Denn sie empfindet ganz anders. „Da lag es so unschuldig, und hatte ihr doch so viele Schmerzen gemacht, sie gehindert, gehemmt; ihre Schwungkraft gelähmt vor der Geburt“, sinniert sie in Betrachtung ihres kleinen Sohnes „Und nach seiner Geburt…? Bereitete es ihr von seinem ersten Schrei an nicht jeden Tag neue Sorgen? Der kleine Körper wollte gepflegt sein, der kleine Geist auch schon. Es war ihre Pflicht, sich dem zu unterziehen, sie war moralisch dazu gezwungen. Und doch war noch anderes da, was sie mächtiger zwang, was sie zum Schreibtisch riß, ihr befahl, wie ein Herr seinem Leibeigenen, ihr die Feder in die Hand presste. ‚Schreibe!‘“ Da klingt keine noch so zaghafte Botschaft von ‚Mutterinstinkt‘ oder ‚natürlicher Mutterliebe‘ hervor. Dieser über die ‚Mutterpflichten‘ gestellte Wille zur AutorInnenschaft wird jedoch seinerseits wiederum negativ konnotiert, denn er verbindet sich bei der Figur nun nicht mehr mit dem Drang, Kunst zu schaffen, sondern mit dem Willen anerkannt zu werden: „[I]ch will Ruhm haben, Ruhm, ja Ruhm! Nur der genügt mir“. Von „der Naivität früheren Schaffens, von der befriedeten Heiterkeit, dem mitleidigen Ernst“ ist „[n]ichts mehr“ übrig. Über ihre Ruhmsucht korrumpiert Elisabeth Reinharz nicht nur ihre Kunst, sondern verliert auch beinahe ihr Neugeborenes.

Wiederum völlig anders als die bisher angesprochenen Werke stellt sich der Roman „Das schlafende Heer“ (1904) dar, in dem der rheinländische Bauer Peter Bräuer mit Frau und Kindern ins deutsch-polnische Grenzgebiet auswandert, dorthin, wo sich deutsche Kolonisten den „Polacken“ überlegen dünken. Umgekehrt verachten, ja hassen die wenigen Begüterten und die zahllosen armen polnischen Mägde, Stallburschen und WanderarbeiterInnen, deren Söhne und Töchter ihrerseits zahlreich nach Deutschland ausgewandert sind, um dort in den Fabriken zu arbeiten, die „weißen Eindringlinge mit den gelben Haaren“. Sie alle hoffen darauf, dass das titelstiftende „schlafende Heer“, jene „hunderttausend Ritter und noch viel mehr,“, die „tief im Lysa Góra“ schlafen, endlich erwacht und „aufsteh[t] zu Polens Befreiung“. Verständnis, Empathie gar gibt es in dem Roman wenig, zwischen den Völker ebenso wie zwischen den Menschen, seien sie nun arm oder reich, Gutsbesitzer oder Knechte, Männer oder Frauen, katholischen, protestantischen oder jüdischen Glaubens. Hass und Selbstsucht diktieren das Leben der Figuren und das Geschehen des Romans. Die einzige wenigstens nicht ganz unsympathische Figur, der deutsche Gutsbesitzer Doleschal, ist von einer derart haarsträubenden Naivität und Verständnislosigkeit, dass er sich nichtsahnend zum personifizierten Feindbild des polnischen Hasses auf die deutschen Kolonisatoren herauswächst.

Wagt sich Viebig mit dem „Schlafenden Heer“ in fremdländische Gefilde, so mit dem Spätwerk „Charlotte von Weiß“ (1929) in vergangene Jahrhunderte. Über alle Epochenströmungen der klassischen Moderne hinweg nimmt der in den letzten Jahrzehnten des 18. und den ersten den 19. Jahrhunderts angesiedelte Roman sich noch immer ebenso naturalistisch aus wie bereits ihre frühsten Werke. Erzählerische oder stilistische Experimente waren nicht eben Viebigs Sache. Zwar wird das Buch im Untertitel als „Roman einer schönen Frau“ ausgewiesen, doch ist es keineswegs die Schönheit, die seine Protagonistin auszeichnet. Vielmehr sind es ihr wacher Verstand, ihr scharfes Auge für ihre Mitmenschen, ihre leidenschaftliche Sehnsucht nach Liebe und Leben und nicht zuletzt eine wollüstige Neugierde für alles Grauenerregende, sei es für einen Verbrecher auf der Flucht oder die Hinrichtung einer Kindsmörderin. Ein vielschichtiger, komplexer Charakter also, diese Charlotte von Weiß, die die Weisheit des Silen zwar nicht erlernt, aber doch bald erfühlt.

Das Kind, von dem es zu Beginn heißt, dass es „gut sein kann, aber auch böse“, jedenfalls aber „kein zum Glück geborenes Mädchen“ ist, gelangt als Erwachsene zu der Überzeugung, dass „jeder Mann im Grunde tut, was seine Frau will – sofern sie eine kluge Frau ist.“ Doch ihr im Anliegen individualistischer und in der Ausführung letztlich mörderischer Emanzipationsversuch, „Jemand“, „eine Persönlichkeit“ zu werden, scheitert. Ins Herz gelegt hat Viebig ihrer Heldin diesen Wunsch im Übrigen wenige Jahre bevor Irmgard Keun das Publikum mit dem „Kunstseidenen Mädchen“ Doris bekannt machte, das sich, darin Frau von Weiß nicht ganz unverwandt, wünscht, ein „Glanz“ zu werden.

Abschließend sei noch ein Buch genannt, das wie kein anderes der Autorin aus seiner Zeit fiel und zwar gerade darum, weil es hochaktuell und äußerst notwenig war. Aus der Zeit gefallen aber war es, weil diese nicht nur in Österreich als eine große galt. Es war eine Zeit des Nationalismus und der Kriegsverherrlichung, der nur ganz wenige widerstanden. Auf Seiten der Linken etwa Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, bei den Feministinnen Anita Augspurg und ihre Lebensgefährtin Lida Gustava Heymann und unter den SchriftstellerInnen eben Clara Viebig. 1917 veröffentlichte sie ihren Roman „Töchter der Hekuba“, der sich wie eine unmittelbare Antwort auf Ida Boy-Eds furchtbaren, im Jahr zuvor erschienes Buch „Die Opferschale“ liest. Besingt diese in deutsch-nationaler Manier die Opfer, die der Krieg den Frauen abfordert, so beklagt Viebig sie. Geradezu frappierend sind dabei manche Parallelhandlungen. Ist es bei Boy-Ed ein Engländer, mit dem eine Deutsche liiert ist, so bei Viebig ein Italiener. Allerdings lassen die Autorinnen die jeweiligen weiblichen Figuren denkbar unterschiedlich fühlen, denken und handeln.

Viebigs Roman setzt mit einer vehementen Anklage gegen die Kriegsbegeisterung ein: „Sie waren eben alle nicht bei Sinnen gewesen, die Söhne nicht, die Lehrer nicht, die Väter nicht – alle nicht. Nur die Mütter sahen, wie es wirklich war; die ahnten, wie es kommen würde. Gekommen war.“ Nein, nicht nur die Mutter-Figuren des Romans sehen das, sondern bald auch die Schwestern, Bräute und Töchter. Trotz aller Standes-, Alters- und Temperamentsunterschiede, unter dem Krieg leiden sie alle. Und in diesem, ihrem Leid finden nicht wenige zusammen, ganz ohne Kriegs- oder Vaterlandsbegeisterung, aber voller Hoffnung, dass endlich Friede werde. Dabei verschweigt Viebig auch die Doppelmoral nicht, die von den zurückgebliebenen Frauen unbedingte Treue verlangt, während sich die Soldaten mit den Mädchen in den besetzten Länder vergnügen. All das schildert Viebig, ohne je Gefahr zu laufen, die Frauen zu idealisieren. Und darum soll auch Viebig selbst in dieser Würdigung ihres Œuvres nicht idealisiert werden. So sei nicht verschwiegen, dass sich die befremdliche Feier der Mutterschaft in diesem wie in anderen ihrer Werken auch schon mal zu mehr als bedenklichen Topoi steigert, wie etwa dem vom weiblichen „Trieb zum Kinde“. Außerdem spielt das Bibelwort und Eheversprechen „Wo Du hingehest, da will auch ich hingehen“, das schon in den „Reinlandtöchtern“ ein zentrales Motiv bildete, in diesem Roman keine geringe Rolle. Doch die zentrale Botschaft ist eine andere. Eindeutig und unüberhörbar klingt sie aus jeder Seite: „Fluch über den Krieg!“

Am 17. Juli 2010 wäre die im Alter von 92 Jahren verstorbene Pazifistin und Meisterin vielfältiger literarischer Genres 150 Jahre alt geworden. Ihre Bücher haben trotz des nationalsozialistischen Verbots von 1938 überlebt.