„Schmelzkäse ging immer“

Rainer Moritz blickt in „Ich Wirtschaftswunderkind“ verschmitzt auf seine Jugend in Heilbronn zurück

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wir waren eine richtige Familie. Damals, als es fast nur richtige Familien gab“, leitet Rainer Moritz, ehemaliger Programmchef bei den Verlagen Reclam und Hoffmann und Campe, derzeit Leiter des Hamburger Literaturhauses, seine Autobiografie „Ich Wirtschaftswunderkind“ mit dem augenzwinkernden Untertitel „Mein famoses Leben mit Peggy March, Petar Radenkovic und Schmelzkäseecken“ ein.

Mit der ihm eigenen Leichtigkeit, einem Ton voller Ironie und Witz, schildert Moritz, Jahrgang 1958, seine Kindheit und Jugend in den 1960er- und 1970er-Jahren in Heilbronn, der „alten Reichsstadt“ und „jungen Großstadt“. In vielen Episoden liefert er dabei das Kaleidoskop einer Generation zwischen Konsumverhalten der Wirtschaftswunderjahre und beginnender Politisierung. Dazu gehören die unvermeidlichen Ausflugs- und Urlaubsfahrten mit dem Familienauto, einem VW-Käfer, ebenso wie die Spielfilm- und Sportabende vor dem heimischen Fernseher, häusliche Rituale bei den Bescherungen an Heiligabend, politische Diskussionen zuhause, natürlich auch die ersten erotischen Erfahrungen und vieles mehr.

Mit sich abwechselnden Themenkreisen wie Sport, Familie, Erotik, Politik und Gesellschaft, Film und Fernsehen, Schule, Bücher, Orte sowie Essen und Trinken gelingt es Moritz in zahlreichen kleinen Kapiteln mit einer Vielzahl einzelner Erinnerungssequenzen, ein stimmiges Lebens- und Zeitgefühl der frühen 1960er- und 1970er-Jahre aufleben zu lassen: „Wurst war einfacher als Käse“, heißt es zu Beginn des Kapitels „Schmelzkäse ging immer“. „Wurst konnte man fast immer essen, auch ohne Brot. Lyoner, Leberkäse, Jagdwurst, Bierschinken. Paprikawurst, die Vater nicht mochte, weil eine Wurst seiner Meinung nach keine Gemüsezugabe benötige und Paprika ohnehin schwer bekömmlich sein. Nicht zu vergessen: Fleischwurst, Knackwürste, Regensburger, die es selten gab, genau wie die Nürnberger Stadtwurst, an die, Vater zufolge, keine andere Wurst herankam. (…) Noch besser als Gouda war Schmelzkäse, den es in verschiedenen Formen gab, als Scheibletten oder Scheiblis zum Beispiel.“ Und am Ende dieses Kapitels resümiert Moritz: „Schmelzkäse gab es auch in kleinen Dreiecksformen, die noch mühsamer zu öffnen waren, was aber nicht schlimm war, weil man ihren Inhalt meistens in einem Schwung aufaß. Mit Kräutern gab es die und mit Schinkengeschmack, da hatte man beides, Wurst und Käse. Und gar nicht teuer.“

Moritz erinnert ebenso an die populäre Musik der Zeit, an eine enttäuschende Autogrammstunde der Schlagersängerin Peggy March, an elterliche Volksmusikvorlieben, die von den Oberkrainern, den Egerländern bis zum „aufdringlichen“ Heino reichen, wie auch an unvergessliche Sportmomente, sei es mit den Münchner Löwen, mit ihrem längst legendären Fußballtorhüter Petar Radenkovic, der sich, wie auch später noch bei manchen Fußballstars üblich, als Sänger versuchte („Bin i Radi, bin i König, alles andere stört mi wenig“), an Boxkämpfe von Cassius Clay – alias Muhammad Ali – oder an die Olympischen Spiele von München 1972, an Tanzstunden-, Schul- und Filmerlebnisse wie auch an einschneidende Lektüren.

Entstanden ist so ein schillerndes, gleichwohl stimmiges Bild jener Wirtschaftswunderjahre in einem Milieu, das letztlich über die individuelle Geschichte des kleinen Rainer Moritz in Heilbronn am Neckar hinausweist, eine Tendenz, die der Autor augenzwinkernd durch das Motto von Robert Menasse dennoch auch wieder zurücknimmt: „Ist das nicht ein Kleinbürgersyndrom, zu glauben“, heißt es bei Menasse, „dass alles irgendwie exemplarisch ist, was man ist und wie man ist und warum man so ist?“

Moritz, gefragter Kritiker, Autor und Herausgeber mehrerer Sachbücher, hat zwischenzeitlich mit „Madame Cottard und eine Ahnung von Liebe“ nicht nur ein erfolgreiches Debüt als Romanautor gegeben, sondern mit „Ich Wirtschaftswunderkind“ auch ein heiteres und in der Tat famoses Buch vorgelegt, zu dem man in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise gerne greift.

Titelbild

Rainer Moritz: Ich Wirtschaftswunderkind. Mein famoses Leben mit Peggy March, Petar Radenkovic und Schmelzkäseecken.
Piper Verlag, München 2008.
300 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783492047654

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