Der dritte Mann

Jürgen Große zeigt Friedrich Nietzsche als agent provocateur beider deutschen Staaten

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass intellektuelle ‚Ernstfälle‘ eintreten können, akademische Zwistigkeiten politische Brisanz entwickeln, war in den 1980er-Jahren, als allerorten die ‚Postmoderne‘ um sich griff, ein durchaus exotischer Gedanke. Für die 1990er-Jahre – man sprach vom ‚Ende der Geschichte‘ – gilt dies noch mehr. Deutsche Kassandrarufer nach Art Wolfgang Harichs und Karl Heinz Bohrers, die gleichsam im permanenten Alarmzustand lebten, mussten Befremden auslösen. Heute könnten sie auf größeres Verständnis rechnen. So hat es Jürgen Große unternommen, eine intellektuelle ‚Doppelbiografie’ der beiden zu schreiben. Als tertium comparationis firmiert Friedrich Nietzsche, der Harich wie Bohrer auf sehr unterschiedliche Weise wichtig war.

In ostdeutschen Zeitschriften trat Harich Mitte der 1980er-Jahre mit wilder Polemik gegen Nietzsche als bourgeoisen Proto-Faschisten hervor, der ewig mit Lukács’ sozialistischem Bannstrahl zu belegen sei. Die zögerliche Nietzsche-Renaissance der DDR-Philosophie musste aus Harichs Sicht mit zunehmender weltanschaulicher Indifferenz und heimlichem Verrat an sozialistischen Glaubenssätzen verbunden sein: Indem sie sich Nietzsche, ihrem Antipoden, zuwandte – und sei es durch verdruckste Duldung –, begann die DDR sich selbst als vulgär-nietzscheanisches, machtpositivistisches Staatswesen zu decouvrieren, dem Ideale, auch die eigenen, herzlich gleichgültig blieben. Die DDR schien ihm, wenn sie Nietzsche tolerierte, um keinen Deut besser zu sein als der dekadente, post-faschistische Westen. Daher der monomane Furor des ehemaligen, gewiss nicht staatsfrommen Dissidenten.

Zur gleichen Zeit gab Bohrer den „Merkur“ heraus, die „Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“, der Bohrer ein anglomanes Gepräge verlieh, das sozialistische, selbst sozialdemokratische Haltungen souverän ausschloss. Anglomanie und Nietzscheanismus gehen bei Bohrer, wie Große zeigt, trefflich zusammen: „Die Abwesenheit transzendenten Sinns, d. h. die pure Immanenz bürgerlichen Daseins aushalten zu können, sei vorbildlich den westlichen Siegernationen England und Amerika gegeben. Den Gegensatz dazu bilde die deutsche Weinerlichkeit aus metaphysischen Restbedürfnissen, vor allem nach Weltharmonie, Weltfrieden und dergleichen […].“ Harichs ‚ökosozialistische‘ Ambitionen würden durch Bohrer als „metaphysisches Restbedürfnis“ verbucht. Der Gegensatz zwischen rabiatem, ausdrücklich „anti-utopischem“ Liberalismus und hartnäckigem Revolutionsdenken von links könnte schärfer nicht sein, und Nietzsche taugt bestens als Prüfstein, der beiden Antipoden Gelegenheit gibt, zum klarsten Ausdruck ihrer selbst zu gelangen: Nietzsche ist Bohrer unübertroffenes Exempel modernen, konsequent aufklärenden Denkens, dem anderen, Wolfgang Harich, Muster des Konterrevolutionärs, Meister der Gegenaufklärung und Nemesis des Sozialismus.

Nun ist Große mehrfach als Autor, auch im fachphilosophischen Feld, hervorgetreten. Verschiedentlich wurde ein dunkler, überkomplexer Duktus moniert. Auch „Ernstfall Nietzsche“ macht es dem Leser nicht leicht. Von absichtsvoller Verdunkelung oder sprachlichem Unvermögen kann dennoch keine Rede sein, eher neigt Große zu eigensinnigen, idiosynkratischen Formulierungen. Dem Phrasensalat schnöden Wissenschaftsjargons ist sein persönlicher Stil jedenfalls vorzuziehen. Manchmal trifft Große ins Schwarze, bringt komplexe Zusammenhänge – intelligent unterkomplex, meisterlich simplifizierend – auf den Punkt, ganz wie es Nietzsche, Harich und Bohrer vermögen. So führt sein „Epilog“ die Einsichten von 140 Seiten in mutiger zeitdiagnostischer Verkürzung anhand zweier Nietzsche-Begriffe zusammen: „letzter Mensch“ (Dekadenz, metaphysisches Desinteresse, mit Nietzsche: ‚Engländertum‘) und „Übermensch“ (Held, Krieger, Überwindung): „Die geschichtliche Beunruhigung, die in den Nietzsche-Debatten […] einen Augenblick lang aufblitzte, war gewesen, daß die Alternative von Übermenschen und letztem Menschen für jede moderne, industrielle, auf wachstumsökonomisch erzeugbaren Sinn setzende Welt Gültigkeit haben könnte. […] Die kapitalistische Moderne […] ist auf sich selbst, in alternativlose Sinnimmanenz, zurückgeworfen. Die Existenz gewordene Ironie des restlos freigesetzten Wachstumsprinzips ist ein übermenschlicher Wille im Dienste letztmenschlicher Wünsche. […] Aufrufe zum Heroismus und Kriege zur Sicherung des kleinen Glücks der Industriezivilisation: Kann man das ästhetisch Erhabene, das der wohlstandsdemokratischen Weltprovinz versagt ist, durch ihre gewaltsame Affirmation erlangen? Kann man sich, wie von Harich befürchtet und von Bohrer gewünscht, Weltläufigkeit herbeibomben? Die heutige Unanstößigkeit von Nietzsches Texten könnte darin begründet sein, daß in einem globalen Konsumentenkapitalismus zwischen Über- und Letztmenschen kaum mehr zu unterscheiden wäre.“

Nun braucht man Großes Thesen nicht zu teilen. (Nicht wenige Leser werden geschichtsphilosophische Reflexion als solche für anachronistisch erachten, mithin den Ansatz selbst verwerfen.) Dennoch kann die Lektüre sich lohnen und das in mehrerlei Hinsicht: Als Psychogramm eines der zuverlässig provozierendsten – und brillantesten – deutschen Intellektuellen unserer Zeit, Karl Heinz Bohrers, und eines Feuerkopfs der DDR, vielleicht ihres einzigen: Wolfgang Harich. Weiterhin als ‚Epitaph in Prosa‘ für Harich, der fünfzehn Jahre nach seinem Tode beinahe vergessen ist. Schließlich als kompromisslose, manches Mal ätzende Darlegung des Habitus und der rhetorischen Techniken zweier Weltbeobachter mit scharftrichterlicher Ambition. Nicht zuletzt interessiert „Ernstfall Nietzsche“ als mentalitätsgeschichtliche Abhandlung über Gesprächszusammenhänge, die zeitlich nah sein mögen, doch zwanzig Jahre nach dem Ende des sozialistischen Deutschlands seltsam entrückt erscheinen.

Germano Wallmann hat die Umschlagabbildung „nach einer Idee des Autors“ gestaltet. Sie zeigt Nietzsches Profil, janusköpfig verdoppelt: Der Meister blickt nach Ost und West, links und rechts, in die Vergangenheit und die Zukunft. Es bleibt zu hoffen, dass sich auch künftig Streit an Nietzsche entzündet. Dann wäre Große, wie er selbst wohl hofft, widerlegt: Der „letzte“ und „Übermensch“ – ein Monster aus Haltlosigkeit und Gewalt – muss nicht als letztes Wort der Geschichte gelten.

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Jürgen Große: Ernstfall Nietzsche. Debatten vor und nach 1989.
Aisthesis Essay Band 31.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2010.
147 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783895287718

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