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Region, Gesellschaft und Macht als Gegenstand in der jüngeren sozialwissenschaftlichen und politischen Literatur

Von Patrick EserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Eser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der „spacial turn“ der Sozialwissenschaften ist mittlerweile schon zu einem Topos geworden. Angesichts der gehetzten Atmosphäre des Wettbewerbs und der Innovationsgier in der Universitätslandschaft der „Leuchttürme“ und „Exzellenzinitiativen“, in der immer wieder gut und als neu verkauft werden muss, was hergestellt wird, wirft die Proklamation des jüngsten „turns“ doch zunächst einmal Skepsis auf: nach dem linguistic, cultural, ionic auch noch ein „spatial turn“? Eine Skepsis, der sich sofort die Tatsache gegenüberstellen ließe, dass in den letzten Jahren verstärkt Raummetaphern zur Beschreibung sozialer Realitäten und Entwicklungen („Globalisierung“; „Globales Dorf“; „world wide web“) verwendet werden. Der Frage nachgehend, was denn nun hinter diesem „spatial turn“ steckt, bleibt der Antwort-Suchende im Angebot des „Westfälischen Dampfboots“ hängen. Dort gibt es seit kurzem eine Buchreihe, die sich systematisch der „kritischen Raumforschung“ aus der Perspektive „kritischer Gesellschaftstheorie“ widmet: „Raumproduktionen: Theorie und gesellschaftliche Praxis“, so der Titel der Buchreihe, in der bislang sechs Titel erschienen sind.

Im ersten Band, mit dem Titel „Raumproduktionen. Beiträge der radical geography“, wird das Ziel verfolgt, zentrale Texte aus der kritischen, angloamerikanischen Geografie für die deutschsprachige Rezeption zugänglich zu machen. Dies ist den Herausgebern zufolge allein deshalb schon notwendig, da die internationalen Debatten aus der Perspektive kritisch-materialistischer Raumforschung im deutschsprachigen Kontext bisher noch nicht ausreichend zur Kenntnis genommen worden seien. Um diese „beklagenswerte Leerstelle“ zu überwinden, wird eine Auswahl an theoretisch wie auch empirisch ausgerichteten Aufsätzen aus diesem Ansatz präsentiert.

Dieser spezifische Strang des raumwissenschaftlichen Denkens ist unter dem Einfluß des Klassikers La Production de l’Espace von Henri Lefebvre (1974), aber auch angeregt von Überwachen und Strafen von Michel Foucault und Limits to Capital des frühen David Harvey hervorgegangen und hat sich als kritischer Ansatz der Sozialwissenschaften unter dem Label „radical geography“ etablieren können. Die „radical geography“ steht nunmehr für einen kritischen Ansatz innerhalb der Geografie, der räumliche Verhältnisse in ihrer Entstehung analysiert und hierbei den Einfluss von gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen ins Blickfeld nimmt. „Raumproduktionen“ umfasst Schlüsseltexte von namhaften Vertretern dieser Schule, die hier zum ersten Mal auf deutsch veröffentlicht werden.

Unter den gesammelten Aufsätzen sticht der Beitrag von Edward Soja hervor, der eine gelungene Rekonstruktion der „intellektuellen Vorfahren“ der radical geography bietet. Nicht zuletzt die Darstellung der grundlegenden Ideen des Gründungsvaters Henri Lefebvre – dessen Namen im akademischen Namedropping zwar immer wieder fällt, aber selten thematisiert wird, was das eigentlich Bahnbrechende seines Werkes war und ist – macht deutlich, wie wichtig dieser Sammelband für die weitere Rezeption der radical geography ist und für künftige zu inspirierende Forschungsarbeiten sein könnte.

Dass auch die hiesige Sozialwissenschaft den Trend nicht verschlafen hat und schon längst, angeregt durch Impulse aus der radical geography, kritische Raumforschung betreibt, wird in einem weiteren Band aus der Reihe „Raumproduktionen“ deutlich. Der dritte Band aus der Reihe, mit dem Titel Politics of Scale, gibt einen Einblick in den potentiell breiten Phänomenbereich sozialgeografischer Forschungen. Von Markus Wissen und Bernd Röttger herausgegeben, enthält der Sammelband Analysen städtischer sozialer Bewegungen, des Prozesses der Europäischen Integration, der globalisierungsbedingten Veränderung von Politik und Staat, der aktuellsten Ökologieprobleme, der Geschlechterverhältnisse und nicht zuletzt gewerkschaftlicher Perspektiven. In separaten Aufsätzen werden diese Aspekte der sozialen Welt in ihren raumtheoretischen Belangen untersucht, wobei immer wieder der Aspekt der sozialen Umkämpftheit des gegenwärtigen „status quo“ betont wird. Dem programmatischen Ziel folgend, die räumlichen Dimensionen sozialer Konflikte zu analysieren, ohne den „herrschaftsförmigen“ Charakter des sozialen Handelns zu vergessen, wird versucht, den Begriff der „scale“ für sozialräumliche Analysen fruchtbar zu machen. Mittels dieses Begriffs lassen sich die Raumdimensionen der gesellschaftlichen Verhältnissen und des sozialen Handelns fokussieren und analysieren, wie sich die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse und Machttechnologien immer schon in die Ausgestaltung der gesellschaftlichen Raumverhältnisse einschreiben. Als relationales Konzept beschreibt der Begriff der „scale“ die unterschiedlichen Maßstabseinheiten des sozialen Handelns, die in Bezug in einem permanenten Wechselverhältnis zueinander stehen und als Arenen des Ringens um politische und soziale Macht fungieren.

Neil Brenner betont in seinem Beitrag, dass die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise auch den Verlauf einer „ungleichen räumlichen Entwicklung“ beschreibt. Die Geschichte des Kapitalismus geht einher mit der Produktion unterschiedlicher „scales“, die städtisch-regionale (Stadt/Stadtregionen), die nationale und die globale (Weltmarkt), die sich erweitern ließen um die Quartiersebene (als Aspekt der städtisch-regionalen Dimension) sowie um die supranationale. Die Herausbildung der nationalen „scale“ in Form des Territorialstaats, der seit dem 18. Jahrhundert entsteht und als institutionalisiertes Terrain für die Regulation des kapitalistischen Wettbewerbs fungiert, ist für die sozial-räumliche Differenzierung in der Geschichte des Kapitalismus von herausragender Bedeutung. Welche Ausmaße die jüngste Relativierung der „scales“, die mit der „Globalisierung“ der Wirtschaftsaktivitäten einhergeht, annimmt, ist in den zeitdiagnostischen Debatten umstritten. Brenner betont, dass die Ausgestaltung der einzelnen „scales“ und deren Beziehungen untereinander stets umkämpft sind und keine eindeutige Tendenz ausgemacht werden könne („Niedergang des Nationalstaats“, „Europäisierung“ etc.). Zudem sei nicht davon auszugehen, dass die nationale „scale“ ihre Bedeutung grundlegend einbüßt.

In den jüngst auflebenden Raumdebatten der Sozialwissenschaften wird nicht zuletzt immer wieder auf den Bedeutungswandel oder gar -anstieg der „Region“ verwiesen: nachdem der Nationalstaat als die zentrale Ebene sowohl des wirtschaftlichen wie auch politischen Handelns an Bedeutung verloren habe, sei nun, neben supranationalen Raumgefügen (etwa die EU), die Region als „scale“ von Bedeutung: dort werde produziert, akkumuliert und würden wichtige Entscheidungen, etwa in Form von Standortpolitik, getroffen. Managementexperten, Politikberater und sonstige Trendsetter propagieren die Heraufkunft des „regionalen Zeitalters“ und das Ende des Nationalstaats: Vergesst großräumige Strategien, bedeutend ist die Produktion und Kooperation vor Ort, lokal und in der Region.

Diesen Thesen, die populär geworden sind in der Version des japanischen Managementexperten Kenichi Ohmae, wie auch weiteren Entwicklungstrends rund um die „Region“ widmet sich ein ebenfalls im Münsteraner DampfbootVerlag erschienener Band mit dem programmatischen Titel „Kritische Regionalwissenschaft“. Hier finden sich Aufsätze von WissenschaftlerInnen wie von ExpertInnen aus Politik und Praxis, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit raumsensiblen Fragestellungen dem Gegenstand der „Region“ widmen. Der Titel des Bandes verrät schon das systematische Erkenntnisinteresse, das auch die einzelnen Beiträge kennzeichnet. Der herausgebende „Arbeitskreis Kritische Regionalpolitik“ macht in der Einleitung die systematische wie auch kritische Stoßrichtung des Bandes deutlich. Es gehe vor allem auch darum, die Regionalpolitik im Hinblick auf ihre potentiell progressiven politischen Funktionen hin zu beleuchten. Diese habe sich nämlich im Zeichen der Hegemonie der neoliberalen Wettbewerbsideologie immer mehr darauf ausgerichtet, zwischen den Regionen Konkurrenzverhältnisse zu etablieren. Nicht mehr die Angleichung räumlicher Disparitäten zwischen den Regionen sei die regionalpolitische Leitlinie, sondern die Anspornung zur Mobilisierung der Potentiale und Ressourcen der Regionen für den allumfassenden Wettbewerb der Standorte und Regionen. Der Versuch, räumliche Disparitäten durch zentralstaatliche Politik zu bekämpfen, ist ein wichtiger Teil einer Politik, die marktförmigen Prozessen zumindest Grenzen setzen will und kann. „Der gegenwärtige Versuch, Regionalpolitik als Ausgleichspolitik zurückzudrängen, muss hingegen als Bestandteil restaurativer Klassenpolitik eingestuft werden.“ Die theoretische Unterfütterung des sich kritisch verstehenden Ansatzes der Regionalwissenschaft geschieht mit Rekurs auf Karl Marx und dessen Kapitalanalyse wie auch auf die jüngere angelsächsische Sozialgeografie. Neben theoretischen Absicherungen werden auch aktuelle Leitbilder der Politik der Region dargestellt, sei es auf bundesdeutscher oder auf europäischer Ebene.

Jenseits dieser akademischen Thematisierungsweise des regionalen Geschehens und eher mit dem rhetorischen Hammer der Radikalkritik argumentierend, kommt das Buch „Cluster“ von Detlef Hartmann und Gerhart Geppert daher. Formal gliedert sich der Band in zwei Teile. Im ersten wird die „Clusterlogik“ beschrieben und kritisiert als die Unterwerfung sämtlicher sozialer und humaner Ressourcen unter das oberste Ziel der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit der regionalen Wirtschaftsstrukturen. Im zweiten Teil werden am Beispiel der Volkswagen AG und der Region Südostniedersachsen die Auswirkungen der clusterorientierten Regionalisierung aufgezeigt.

In dem Buch, das dezidiert eine politische Kritik artikuliert, steht „Cluster“ paradigmatisch für ein neues Stadium in der Entwicklung des Kapitalismus, eines, das dadurch gekennzeichnet ist, dass sich vor allem auf kleinen sozialräumlichen Maßstabsebenen ökonomische Verwertungsstrategien neu und offensiv artikulieren. Eben dort realisiere sich die Unterwerfung nahezu aller sozialen Dimensionen unter die Imperative der Global Players und deren Verwertungsinteressen.

Im ersten Teil werden Akteure und deren Handlungslogiken in der Neuerfindung des Sozialen dargestellt, die im Paradigma der Region als der Wettbewerbsmaschinerie von statten gehen. Dabei werden die jüngsten Arbeitsmarktreformen („Hartz IV“) ebenso thematisiert wie die zunehmende Dominanz von Beratungsunternehmen (McKinsey als Paradebeispiel) in der Formulierung neuer innovativer Regierungsmechanismen und Führungsstile in Betrieb und Politik. Regionale Entwicklungsagenturen, lokale Arbeitsmärkte, Universitäten und die Führungsriegen der regionalen Wirtschaftsunternehmen bilden das Netz der sozialen Akteure, deren Strategie auf die standortpolitische Gestaltung der Region abzielt. Im zweiten Teil des Bandes wird die „neue Herrschaftslogik“ in ihrer konkreten Anwendung auf die Region Südostniedersachsen und dem dort angesiedelten Global Player der Volkswagen AG plastisch beschrieben. Es wird herausgearbeitet, wie in der strategischen Kooperation zwischen staatlichen Instanzen und der Großindustrie ein reibungsloses und effizientes System der regionalen Wertschöpfungskette konstruiert wird, das weltmarktgerechte Verwertungsbedingungen ermöglichen soll. Netzwerke der diversen sozialen Akteure etablieren sich, die an der clusterförmigen Regionalisierung beteiligen und den „regionalen Staat“ als solchen verändern. Dieser probiert neue netzwerkförmige Steuerungsformen aus („Public Privat Partnerships“) und arbeitet in enger Kooperation mit der regionalen Industrie an der regionalen Wettbewerbsfähigkeit. Im Rahmen „sozialer und humaner Reengineeringsprozesse“ kommt es zu einer neuartigen Mobilisierung der lokalen Arbeitskräfte. Neue Strategien der Verfügbarmachung der Arbeitsfähigkeit, angetrieben von der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik, „etablieren vielmehr einen Zugriff auf den gesamten Menschen und das gesamte soziale Leben und binden diese konstitutiv an die Imperative kapitalistischer Inwertsetzung“ Es kommt lokal zu einer Fragmentierung des Arbeitsmarktes, in deren Verlauf die Ausrichtung des Clusters auf die „High Potentials“, die hochqualifizierten Arbeitskräfte, mit der Abkopplung derer einhergeht, die nicht für die „Leitindustrien“ in Frage kommen.

Die Autoren sehen, wie schon erwähnt, in dem neuartigen Paradigma der „Clusterorientierung“ nicht nur für eine sozialräumliche Umsetzung betriebswirtschaftlicher Prinzipien, sondern gar eine neue Etappe des Kapitalismus. In schneidendem Agitpropstil beschreiben die Autoren den Mix von betriebswirtschaftlichen Strategien, neuen Sozialtechniken und Verwertungsinteressen und deren soziale Konsequenzen recht unverblümt. Dabei skizzieren sie ein Szenario, in dem die Clusterlogik paradigmatisch für die neuen sozialräumlichen Techniken des Gesellschaftssystems der totalen Subjekt- und Bevölkerungsbewirtschaftung steht, die wiederum darauf abzielen, eine effiziente „Zurichtung der Arbeitskräfte“ für die Verwertungsbedingungen der Global Players zu gewährleisten.

Das Buch ist trotz der Eigenwilligkeit des Argumentationsstils allemal interessant, da es den geglückten Versuch darstellt, unterschiedliche innovative Sozialtechniken, die grob mit „Wettbewerbsfähigkeit“, „Standortpolitik“ und „Effizienz“ assoziiert werden könnten, zusammenzudenken und ihre Anwendung in der Region plastisch nachzuzeichnen.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die vorgestellten Bände einen Zweig jüngerer sozialwissenschaftlicher Forschungen, aber auch politischer Kritik repräsentieren, der eine produktive und kritische Auseinandersetzung mit den Verschiebungen von gesellschaftlichen Raumverhältnissen vorantreibt. Auf unterschiedlichen Ebenen werden soziale Machttechnologien und (zumeist ökonomische) Herrschaftsmechanismen beschrieben und im Kontext des Prozesses der Produktion des Raums analysiert.

Die Analysen verfahren dabei, wie die Bände des Dampfboot Verlags zeigen, auf einem sehr anspruchsvollen sozialtheoretischen Niveau. Nicht nur für die humangeografische und sozialwissenschaftliche Forschung können fruchtbare Impulse aus diesen Diskussionen hervorgehen und neue Perspektiven ermöglicht werden. Auch für die politische Praxis kann die kritische und raumsensible Analyse der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse einen wichtigen Ausgangspunkt darstellen – dies trifft allerdings nicht unbedingt zu auf die Kritik von Hartmann und Geppert, in der sämtliche, irgendwie progressiv geartete politische Akteure dem Reformismusverdacht ausgesetzt werden. Die Beiträge von Bernd Röttger über die gewerkschaftspolitische Perspektiven, von Antje Stüver über die feministische Perspektiven oder von Margit Mayer über die Stadtpolitik und die Perspektiven städtischer sozialer Bewegungen (alle im Band „Politics of Scale“) sind anregende Beispiele für die Thematisierung der politischen Dimension der gegenwärtigen und alltäglichen Produktion von gesellschaftlichen Raum- und Machtverhältnissen. Wenn „spatial turn“ meint, dass in den Sozialwissenschaften verstärkt derartige Analysen vorgenommen werden, stellt dies allemal eine begrüßenswerte Fortentwicklung des akademischen Betriebs dar.

Titelbild

Bernd Belina / Boris Michel (Hg.): Raumproduktionen. Beitraege der Radical Geography. Eine Zwischenbilanz.
Westfälisches Dampfboot Verlag, Münster 2007.
307 Seiten, 27,90 EUR.
ISBN-13: 9783896916594

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Detlef Hartmann / Gerald Geppert: Cluster. Die neue Etappe des Kapitalismus.
Assoziation A, Berlin 2008.
222 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783935936620

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Hans-Dieter von Frieling / Uwe Kröscher / Wolfgang Krumbein / Detlev Sträter (Hg.): Kritische Regionalwissenschaft. Gesellschaft, Politik, Raum - Theorien und Konzepte im Überblick.
Westfälisches Dampfboot Verlag, Münster 2008.
373 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783896917386

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Titelbild

Markus Wissen / Susanne Heeg / Bernd Roettger (Hg.): Politics of Scale. Räume der Globalisierung und Perspektiven emanzipatorischer Arbeit.
Westfälisches Dampfboot Verlag, Münster 2008.
317 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783896916693

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