Am Vorabend der Finanzkrise

Bevor der Brite Paul Torday Schriftsteller wurde, arbeitete er als freier Unternehmer. Seine Erfahrungen fließen in seinen kurzweiligen Roman und amüsantes Lehrstück „Charlie Summers“ ein

Von Luitgard KochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Luitgard Koch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das wichtigste Kapital von Hector Chetwode-Talbot, alias Eck, sind seine Kontakte. In exklusiven Restaurants und bei dekadenten Jagdausflügen überredet der traumatisierte Afghanistan-Soldat Bekannte und Kollegen, Millionen in den dubiosen Hedgefonds seines Freundes Bilbo zu investieren. Als Broker genießt Hector sein neues Leben in London in vollen Zügen. „Keiner wusste, wo das Geld eigentlich steckte: Es war überall und nirgends. Eine tolle Zeit für alle in der Branche. Wir nannten uns Finanzdienstleister, weil das so seriös klingt“, verrät er aufgeräumt.

Plötzlich tritt die Titelfigur Charlie Summers in Hectors Leben. Charlie ähnelt ihm, als wäre er sein Bruder im Geiste. Dennoch ist er eine andere Art Mensch: ein notorischer Versager, ein schlecht gekleideter kleiner Gauner und Hochstapler. Charlie hat nichts zu verlieren, denn er besitzt sowieso nichts. Seine Geschäfte mit Hundefutter und Rotwein sind ebenfalls betrügerisch, doch auf eine andere Weise als die jener Gierhälse, die sich einst schillernd „Global Player“ nannten. „Wenn Charlie mit seinen Träumen das Billigsegment bediente, verkaufte ich dann nicht das Gleiche an gehobene Käuferschichten?“, fragt sich Hector insgeheim.

Nicht zuletzt deshalb hilft er dem armen Tropf immer wieder aus der Patsche. Doch dann gerät er selbst in Schwierigkeiten. Denn Bilbo hat ihn instrumentalisiert, hintergangen und zur Geldwäsche benutzt. Zu spät dämmert ihm, dass er bei Geschäftskontakten behilflich war, die zu kriminellen Machenschaften bei der Anlage großer Summen führten. Von der Geheimpolizei verfolgt, von Bilbo entlassen, findet Hector sein Gesicht auf der Titelseite der Regenbogenpresse als Afghanistan-Kriegsverbrecher wieder. Bilbo dagegen ist untergetaucht und Hector muss sich nun auch noch seinen Freunden gegenüber rechtfertigen, die ihr gesamtes Vermögen verloren haben. Just an dieser Stelle taucht plötzlich wieder Charlie Summers auf.

Mit sprödem Witz, sarkastischer Manier und einem feinen Gespür für die Mechanismen menschlichen Zusammenlebens zeigt Torday gekonnt, was die Finanzblase zum Platzen brachte und zum Bankencrash führte. Obwohl der Roman nicht sehr umfangreich ist, entwirft er ein treffendes Porträt des englischen Mittelstandes und bringt den verlotterten Zeitgeist des frühen 21. Jahrhunderts mit satirischer Ironie auf den Punkt. Zugleich illustriert Torday anschaulich Hintergründe für die Krise, ohne mit Fachwissen rund um Darlehen, Fonds, Sicherheiten, Prime Brokern, Aktien, Obligationen und Risikobewertungen zu verwirren.

Geschickt flicht der Erfolgsautor zwei Erzählstränge umeinander, die beide direkt in die Krise führen. Dass seine Message – bei Finanzspekulanten handelt es sich um gewissenlose Raffgierige – nicht unbedingt neu ist – stört nicht. Einzig, dass im Verlauf der Geschichte die Handlung allzu verstiegen erscheint, könnte irritieren. Doch das darf den Lesegenuss nur kurzfristig schmälern. Denn letztlich zeichnet Torday, seit seinem späten, so erfolgreichen Debüt „Lachsfischen im Jemen“ mit einem ausgeprägten Sinn für das Absurde das Bild einer hysterischen Gesellschaft am Vorabend der Wirtschaftskrise. Und bei aller Ironie und beißendem Spott schafft er etwas, das nicht jedem gelingt: Seine Figuren bleiben immer zutiefst menschlich. Ein nach wie vor aktueller Gesellschaftsroman, scharf beobachtet und mit britischem Understatement formvollendet in Szene gesetzt.

Titelbild

Paul Torday: Charlie Summers. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Stegers.
Berlin Verlag, Berlin 2010.
288 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783827008831

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