Der Feind im Innern

Zu Thomas Mullens Debütroman „Die Stadt am Ende der Welt“

Von Peter MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist von einem Roman zu halten, in dessen Klappentext – wenn auch dezent – damit geworben wird, dass sich eine große Produktionsfirma bereits die Filmrechte gesichert hat? Heißt das, man sollte besser auf die Verfilmung warten? Oder ist es nur eine neue Variante des meist fragwürdigen, aber oft absatzsteigernden Etiketts „Das Buch zum Film“?

Es macht sich zumindest Skepsis breit, insbesondere, da man von Thomas Mullen bislang gar noch nichts gehört hat. Dies war allerdings auch kaum möglich, denn es handelt sich um das Erstlingswerk des 1974 in Providence, Rhode Island, geborenen Redakteurs, der bisher für medizinische und bankgewerbliche Fachblätter arbeitete.

Die Affinität zur Medizin war es auch, die Mullen in den 1990er-Jahren über einen Artikel zur spanischen Grippe stolpern ließ. Diese wütete gegen Ende des Ersten Weltkriegs verheerend unter der Weltbevölkerung und forderte allein 1918 nach unterschiedlichen Quellen zwischen 25 bis 100 Millionen Opfer. In dieser Zeit versuchten angeblich einige Städte im Westen der Vereinigten Staaten die Ausbreitung der Epidemie zu verhindern, indem sie sich selbst unter Quarantäne stellten.

Gleichsam infiziert von dieser Idee und aus Mangel an historischen Quellen erschuf Mullen das idyllische Holzfällerörtchen Commonwealth, welches als eine Art Utopia abgeschieden in den Wäldern des an Kanada grenzenden Staates Washington liegt und den Arbeitern kostenlose Häuser und faire Löhne anbietet. Der Handel mit den umliegenden Orten floriert, bis sich die Grippe auch in den abgelegenen Regionen des Landes ausbreitet und die Bevölkerung von Commonwealth auf Anregung des Ortsvorstands beschließt, die Stadt zum Schutz ihrer Bürger vom „Rest der Welt“ abzuschotten.

Widerwillen wird nur leise geäußert, also werden zügig Grenzposten gesetzt, Warnschilder ausgehängt und an der einzigen Zugangsstraße Wachleute postiert, deren Aufgabe eindeutig ist: Jede herannahende Person muss zur Umkehr bewogen oder notfalls mit Waffengewalt am Überschreiten der Stadtgrenzen gehindert werden, da nur so das mögliche Eindringen mikroskopisch kleiner Passagiere vermieden werden kann.

Eine prekäre, wenn auch nicht unbedingt revolutionär neue Situation, denn unwillkürlich wird man an zahlreiche literarische Werke erinnert, in deren Handlung Menschengruppen auf begrenztem Raum eingeschlossen werden, und man wartet insgeheim bereits auf den religiösen Fanatiker, der diese Bedrohung zu einer Strafe höherer Mächte stilisiert sowie Menschenopfer zur Besänftigung seiner Götter fordert.

Doch Mullen führt die Handlung zum Glück in eine andere Richtung. Was tun, wenn sich tatsächlich jemand der Stadt nähert? Was tun, wenn diese Person nicht umkehren kann oder möchte? Wo liegt die Grenze zwischen Selbstschutz und Willkür? Das ist nur eine der Fragen, mit denen Mullen seine Protagonisten konfrontiert. Und das gelingt ihm auf überraschend unmoralisierende Weise, indem er etwa in Rückblenden die Schicksale der Hauptpersonen beleuchtet und somit tiefere Einblicke in die Motive ihres Handelns offenbart, insbesondere das Bedürfnis, ihre Angehörigen und ihre Familie zu schützen. Insofern ein typisches Thema der amerikanischen Gegenwart, wenn man das Buch als Parabel auf die Angst vor dem Feind im Innern betrachten möchte.

Dies setzt sich fort, als die Bewohner von Commonwealth erkennen müssen, dass die Quarantäne möglicherweise nutzlos war und neben der Kritik der umliegenden Orte nun auch das Misstrauen innerhalb der Gemeinschaft steigt und beinahe paranoide Auswüchse annimmt – geschickt dargestellt durch Passagen mit zusammenhangslosen Dialog- und Gesprächsfetzen, in denen der Leser zum unbemerkt Lauschenden oder zum Teil der Bevölkerung wird – und in der Folge Freundes- und Familienbande auf eine harte Probe gestellt werden, als jeder zum potentiellen Feind wird.

Diese in Zeiten des Terrors hochaktuelle Thematik vermischt Mullen mit realen historischen Elementen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, wie etwa das Massaker zwischen Mitgliedern der Industrial Workers of the World (IWW) und der ansässigen Bürgerwehr 1916 in Everett, und entwickelt daraus einen düsteren und atmosphärisch dichten Thriller, der es auch ohne Interpretation als Allegorie versteht, die Leser in seinen Bann zu ziehen.

Dafür sorgen ein solide konstruierter Spannungsbogen und eine sympathische, aber nicht tadellose und gerade dadurch sehr menschliche Hauptfigur. Die bildhafte Sprache – so wird die Grippe mit einer „höllischen Zugfahrt […] in einem überfüllten Abteil […] eingekeilt zwischen zwei großen Männern“ verglichen –, die erstaunliche Intensität der Erzählung, die einen das Leid nahezu miterleben lässt, und die überzeugenden Charakterzeichnungen frei von reiner Schwarz-Weiß-Malerei tragen ebenso zum Gelingen des Romans bei. Auf diese Schwarz-Weiß-Malerei verzichtet Mullen auch bei der Schilderung des Krieges. So werden die Aktionen der deutschen „Krauts“ kaum thematisiert, sehr wohl aber das harte Durchgreifen der amerikanischen Rekrutierungsgruppen und das teilweise brutale Verhalten amerikanischer Soldaten gegenüber den eigenen Kriegsdienstverweigerern.

All diese Elemente offenbaren im Zusammenspiel einen talentierten Autor, der sich in Zukunft allerdings auch an seinem gelungenen Erstling wird messen lassen müssen.

Titelbild

Thomas Mullen: Die Stadt am Ende der Welt. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Gerlinde Schermer-Rauwolf und Robert A. Weiß.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2007.
480 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783455051827

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