Die Tochter des Totengräbers

Zu Joyce Carol Oates’ Roman „Geheimnisse“

Von Christina LangeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Lange

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Bücher, die hinterlassen bei ihren Lesern ein gutes Gefühl. „Geheimnisse“ von Joyce Carol Oates ist kein solches Buch. Da die Vergangenheitsbewältigung einer Tochter jüdischer Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg im Mittelpunkt des Romans steht, ist dies wohl nicht weiter verwunderlich. Die Autorin verlangt in ihrem umfangreichen Roman nicht nur ihrer Protagonistin, sondern auch ihren Lesern einiges ab.

Familie Schwart ist dem Krieg in Deutschland entflohen, doch in den USA, der „neuen Heimat“, begegnet man ihr mit Feindseligkeit. Der Vater Jacob Schwart bringt seine Familie mehr schlecht als recht als Totengräber durch. Seine Frau Anna zieht sich währenddessen in ihre eigene paranoide Welt zurück. Die beiden ältesten Söhne machen sich irgendwann aus dem Staub. Zurück bleibt die jüngste Tochter Rebecca, die auf dem Flüchtlingsschiff im Hafen von New York geboren wurde. Im Alter von 13 Jahren muss sie zusehen, wie ihr verzweifelter Vater erst ihre Mutter, dann sich selbst mit einer Schrotflinte tötet.

Rebeccas gesamtes folgendes Leben wird von diesem traumatischen Erlebnis bestimmt sein. Mit 17 heiratet sie einen mehr als doppelt so alten Brauereivertreter. Nach einer Fehlgeburt bringt sie mit 21 einen Sohn zur Welt. Sie schuftet in einer Fabrik und stellt im Alter von 24 Jahren erschrocken fest, dass sie mit dem selten anwesenden Vater ihres Sohnes rechtlich nicht verheiratet ist. Als er sie und ihr Kind fast tot prügelt, ist das der Grund, sich endlich von dem Kindsvater zu trennen und eine neue Identität anzunehmen. Unter dem Namen „Hazel Jones“ verwandelt sich die stets abweisend und wenig anziehend wirkende Tochter des Totengräbers in eine elegante Lady mit rotlackierten Fingernägeln und modischer Ponyfrisur. Als sie später dann den Millionen-Erben Chet Gallagher kennen lernt und sich ihr vorm Vater geretteter Sohn als musikalisches Wunderkind entpuppt, scheint das bürgerliche Glück nahezu perfekt zu sein.

Aufgrund dieser Inhaltsangabe könnte man meinen, dass „Geheimnisse“ ein recht trivialer Roman sei. Damit täte man dem Buch jedoch Unrecht. Lediglich im zweiten Teil des Romans wird teilweise zu dick aufgetragen. Rebeccas Metamorphose zu Hazel Jones stellt sich insgesamt zu souverän dar und wirkt dadurch unglaubwürdig. Richtig glücklich scheint Rebecca in dieser ihrer neuen Rolle aber trotz des sozialen Aufstiegs nie zu sein; insofern bleibt die Autorin immerhin dem Erzählstil des ersten Teils und auch Rebeccas Charakter treu.

Die deutlich umfangreichere Vorgeschichte, die Rebeccas Kindheit und ihre erste Ehe beschreibt, ist dagegen frei von jeder Beschönigung. Gerade deswegen ist dieser Teil der Geschichte oft so bedrückend, gleichzeitig aber auch manchmal ein wenig larmoyant. Weite Teile des Romans sind aus Sicht der Protagonistin geschrieben, einige bedienen sich des Stilmittels des inneren Monologs. Das kann ermüdend sein, wie etwa in einem der ersten Kapitel, in dem sich die Protagonistin über Seiten hinweg von einem Mann mit Panamahut auf einem einsamen Pfad verfolgt fühlt. Aber an vielen anderen Stellen gelingt es der Autorin auch, starke Passagen zu schreiben, wie etwa die, in der Rebecca im Alter von fünf Jahren Spiele mit ihrer imaginären Schwester erfindet. Selbst die unfassbare Naivität der siebzehnjährigen Rebecca und die hingebungsvolle Liebe zu ihrem halbseidenen Ehemann Tignor wirken plausibel und nachvollziehbar. Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Rebecca und Tignor beschreibt die Autorin in ihrer Erzählung erschreckend realistisch und komplex. Als umso unglaubwürdiger muss allerdings wiederum die anschließende Flucht Rebeccas, ihr Entkommen aus dieser Abhängigkeitsfalle bezeichnet werden.

Trotz solcher Ungereimtheiten und einigen eher langatmigen Passagen vermag der Roman aber über weite Strecken zu fesseln. Hauptsächlich gelingt das durch die Charakterzeichnung seiner Hauptfigur. Rebecca Schwart alias Hazel Jones ist zwar sicher keine konsequent psychologisierte Romanfigur – doch das hindert den Leser nicht daran, ihrem dramatischen Lebensweg gespannt zu folgen. Gemeinsam mit ihr tritt er die Flucht nach vorne an. Es ist nicht nur die Flucht vor der Gewalt in Rebeccas Leben; ebenso wehrt sich die Protagonistin, wenn auch vergeblich, gegen ihr Schicksal, immer die Tochter des Totengräbers bleiben zu müssen. Selbst als ihr Alter-Ego Hazel kann sie sich ihrer Herkunft nicht entziehen. Der Originaltitel des Buches lautet dann auch konsequenterweise „The Gravedigger’s Daughter“. Warum man in der deutschen Übersetzung den ziemlich beliebigen Titel „Geheimnisse“ vorgezogen hat, bleibt selbst ein ungeklärtes Geheimnis.

Titelbild

Joyce Carol Oates: Geheimnisse. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
670 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783100540089

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