Arbeit als Konfliktfeld

Volker Braun veröffentlicht in dem Band „Werktage“ einen Teil seiner Notate

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gerade ihren Anhängern machte es die DDR nicht immer leicht. Man hat das schon gewusst und erfährt es eindrücklich erneut bei der Lektüre von Volker Brauns „Werktagen“, auf beinahe tausend Seiten Aufzeichnungen zu Literatur, Politik und Ästhetik. Privates hat Braun dagegen fast ganz beiseite gelassen und kaum je anders als bezogen auf die historischen Zusammenhänge genannt.

Seine Notate erstrecken sich über die Jahre 1977 bis 1989; die Zeitgrenzen sind politisch gesetzt. Sie setzen ein kurz nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976, die viele, die auf eine reformierte DDR gesetzt hatten, entmutigte. Sie enden mit einem Rückblick auf das Wendejahr und einem Satz, der syntaktisch noch eine Frage ist, allerdings bereits wie eine Feststellung mit einem Punkt endet: „oder läuft das aus dem stacheldraht in die zwangsjacke.“

Die Zeit dazwischen erscheint als Zeit der Mühen. Brechts Aufzeichnungen wurden nachträglich mit der Bezeichnung „Arbeitsjournal“ versehen, wohl um den handwerklich-sachlichen Aspekt zu betonen. Braun sucht das zu überbieten: „Werktage“ als Haupttitel, „Arbeitsbuch“ als Untertitel – da spürt man, dass auf Sonn- oder gar Feiertage nicht zu hoffen ist. Freilich ist Braun Marxist genug, dass Arbeit bei ihm nicht nur die lästige Mühe meint, die man irgendwann hinter sich zu bringen hofft. Arbeit ist für ihn der Bereich, in dem das Ich sich verwirklicht, und gleichzeitig das zentrale Kampffeld innerhalb der verschiedenen Gesellschaften. Und gerade deshalb blieb er Anhänger der DDR und deshalb konnte die es ihm nicht leicht machen.

Die Erkenntnis, wie bedeutsam Arbeit ist, hinderte Braun daran, einer der damals aktuellen Weltfluchtideologien zu erliegen. Das postmoderne Spiel mit Haltungen und Stilen in einem von der Produktion scheinbar unabhängigen Kulturbereich durchschaute er als zynisch und opportunistisch. Die Verirrungen des Freundes Rudolf Bahro, der sich mehr und mehr religiös-idealistischen Vorstellungen verschrieb und eine Abkehr von der Industriegesellschaft nebst neuer Spiritualität erhoffte, erschienen ihm bei aller persönlichen Sympathie als wenig realistisch.

So blieb Braun auf den Staat DDR verwiesen, der sich als verwirklichte Herrschaft der Arbeiterklasse verstand und in dem tatsächlich die Besitzverhältnisse umgestürzt worden waren. Vom frühen Prosawerk „Der Schlamm“ an, über Theaterstücke wie „Die Kipper“, „Hinze und Kunze“ oder „Tinka“ bis hin zum desillusionierten „Hinze-Kunze-Roman“, der nach langen Auseinandersetzungen 1985 erschien, wird indessen zum Problem, was aus Brauns Sicht fehlte: die reale Kontrolle der Arbeiter über Fragen ihrer Arbeit und damit die des Staats.

Gestaltete Braun in seinen Werken zunächst die Dialektik von notwendiger politisch-organisatorischer Führung und Geführten, so wurde dieses Miteinander zuletzt zum Nebeneinander, wenn nicht zum Gegeneinander. Mehr und mehr erschienen Herrschaft und Organisation bei Braun als entwicklungs- und demokratiefeindlich. Damit wurden Konflikte mit der Kulturbürokratie unvermeidlich. Sie beruhten auf einem gemeinsamen Interesse und darauf, dass Braun der zentralen Frage, wie Sozialismus in der DDR im Bereich von Politik und Wirtschaft zu erreichen sei, nicht auswich.

Zensur betrifft im Normalfall die öffentlich wirksamen Autoren besonders. Paradoxerweise war Braun mehr betroffen als die von ihm durchaus geschätzte Christa Wolf, die, wie ein Notat verrät, früher als er jede Hoffnung auf die DDR aufgegeben hatte und fortan ihre erbaulich-eskapistischen Sentimentalismen kaum gehindert publizieren konnte. Doch wenn auch Brauns Texte weitaus komplizierter waren – ein Großteil seiner Werke aus der Schlussphase der DDR war für die Theaterbühne geschrieben und damit für ein Medium, das ein Publikum zusammenbringt und so politische Kommunikation ermöglichen kann. Theaterzensur war deshalb meistens strenger als die von Druckwerken.

Theater verlangt die Verfügung über einen großen Apparat; es kann Texte sehr unterschiedlich akzentuieren und besitzt als zusätzliche politische Dimension die jeweilige Inszenierung. Die Unterhandlungen waren nicht einfach, häufig sah sich Braun von Verboten, Blockaden oder kleinlichen Winkelzügen um Aufführungsrechte, die auch kulturpolitische Bedeutung haben konnten, bedroht. Das einzelne, empörte Notat ist noch heute nachvollziehbar, zumal in der konkreten Situation die Zukunft unbekannt war. Doch erweist sich im Rückblick, dass zwar das Literatursystem der DDR im Einzelfall schwerfällig reagierte, doch binnen weniger Jahre sehr wohl alles so oder ähnlich auf die Bühne kam, wie Braun es wollte. Ein paar wenige Sätze oder Gesten gingen verloren, doch dürfte jeder marktwertbewusste Uraufführungsregisseur in der Gegenwart mit den Texten rabiater umgehen als es sich die Kulturbürokratie der DDR einfallen ließ.

Ähnliches gilt für den Hinze-Kunze-Roman, der die ungewollte, durch Strukturen erzwungene Distanz von politischer Führung und Arbeiterklasse zum Thema hat und damit die Legitimation der SED im Kern angriff. Zahlreiche Einträge in Brauns Arbeitsbuch behandeln die Entstehung des Romans, die Auseinandersetzungen um seine Publikation, dann die begeisterte Zustimmung der Leser und die empörte Reaktion der Verteidiger des Bestehenden. Auch hier gilt: Für die Betroffenen war der Streit damals sicher schlimm, doch im Rückblick zeigt sich, dass in der DDR auch eine fundamentale Kritik zu drucken und zu diskutieren möglich war.

Freilich: In der DDR wurde politische Literatur angesichts der Gleichförmigkeit der anderen Medien zwar ernsthafter rezipiert als unter marktwirtschaftlichen Bedingungen. Doch änderte sie sowenig wie heute. Die Ungeduld der Reformer steigerte sich, umso mehr, als seit dem Amtsantritt Michail Gorbatschows in der Sowjetunion dort eine Erneuerung des Sozialismus in Gang zu kommen schien. Das letzte Jahrfünft, das von dem Arbeitsbuch abgedeckt wird, bringt denn auch Einträge, die von heute aus betrachtet skurril wirken. Tatsächlich lobte Braun jeden Schritt der Perestrojka als vorbildlich und verband er damit die Erwartung, die Herrschaft der Partei könne durch eine Räteregierung der Arbeiter abgelöst werden.

Im Grunde vollzog er damit die „entwicklung des sozialismus von der wissenschaft zur utopie“, die er 1985 in Umkehrung eines Titels von Friedrich Engels, damals noch aufs Theater bezogen, gefordert hatte. Sehr bald wurde offensichtlich, dass Gorbatschows Ansatz keinerlei machtpolitische Grundlage hatte, tatsächlich zum Ende der Sowjetunion führte und die Verelendung Russlands einleitete. Braun folgte der hilflosen Ideologie von den „globalen Problemen“, die Gorbatschow im Interesse der Menschheit zusammen mit dem Westen lösen wollte; doch hatte der Westen zweckmäßigeres zu tun, nämlich dem schwächelnden Gegner den Todesstoß zu versetzen. Vollends verwunderlich erscheint heute Brauns Illusion, in der DDR, direkt an der Systemgrenze, Raum für einen Sozialismus ohne staatliche Gewalt geschenkt zu bekommen.

Doch war Braun mit solchen Vorstellungen keineswegs isoliert. Sogar noch nach der Maueröffnung vertraten viele Reformer die Idee, man müsse nur die Macht von Staat und Partei abschaffen, um zu einem demokratischen Sozialismus zu kommen. Gerade ihre Anhänger machten es der DDR nicht immer leicht.

Die „Werktage“ erlauben es, diese seltsame Bewusstseinslage im Detail zu studieren. Sie bieten wertvolle Einblicke in die Kulturpolitik der späten DDR; manche Ungerechtigkeiten etwa gegenüber dem stellvertretenden Kulturminister Klaus Höpcke und dem Intendanten des Berliner Ensembles, Manfred Wekwerth, sind wohl dem damaligen Informationsstand Brauns geschuldet und deshalb, editorisch ganz richtig, stehengeblieben. Sie erhellen Brauns Haltung zu anderen wichtigen Autoren – Heiner Müller ist ein prägnanter Eintrag gewidmet, Franz Fühmann spielt eine wichtige Rolle, auch zur Selbstverständigung beim Entschluss, in der DDR zu bleiben. Man erfährt Wichtiges über Inszenierungsansätze und Spielbarkeit von Theaterstücken Brauns. Einige ästhetisch verdichtete Traumerzählungen gewinnen Werkqualität.

Doch ist leider die Ausgabe insofern mangelhaft, als dieses „Arbeitsbuch“ alle Hilfsmittel vermissen lässt, mit ihm zu arbeiten. Es gibt kein Personen- und kein Werkregister, keinerlei Hinweis darauf, ob es sich um einen vollständigen, einen bearbeiteten, einen gekürzten Text handelt. Alexander-Kluge-mäßig sind Fotos und Zeitungsausschnitte eingefügt, die manchmal sogar in einem Zusammenhang mit den Texten stehen – aber es fehlt jede Antwort auf die Frage, wann das geschah. So hängen die „Werktage 1“ fragwürdig zwischen Dokumentation und Kunstwerk, womit keinem Leser gedient ist.

Die Nummer im Titel wirft einerseits die Frage auf, ob es vor 1977 keine Notate gab; manche Schriften in der um 1989/90 erschienen Werkausgabe weisen auf ein Tagebuch hin, das den Lesern wohl dauerhaft vorenthalten werden soll. Andererseits weckt sie die Erwartung auf eine Fortsetzung, die dann hoffentlich praktikabler gestaltet ist.

Titelbild

Volker Braun: Werktage. Arbeitsbuch 1977-1989.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
995 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783518420485

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