Lustige Lyrik

Hans-Georg Kemper sortiert Spielarten (un)freiwilliger Komik in Gedichten

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Komische Lyrik galt, durchaus im Gegensatz zu komischen Dramen oder komischer Erzählkunst, lange als künstlerisch minderwertige Subgattung. Die vorliegende literaturwissenschaftlich-ernste Studie ist angetreten, dieser Degradierung gründlich abzuhelfen. Da Lyrik unter den literarischen Gattungen die formstrengste ist, beruht lyrische Komik meist auf überraschenden Verbiegungen oder Übertreibungen gattungsspezifischer Formmerkmale. Gerade handwerklich und sprachkünstlerisch ist die komische Lyrik ihrer ernsten Schwester mithin eher überlegen als unterlegen.

Der Tübinger Lyrik-Spezialist Hans-Georg Kemper ist bekannt geworden durch seine monumentale „Geschichte der deutschen Lyrik der frühen Neuzeit“, zudem auch als Spezialist für Brockes, Goethe und Trakl. In seinen Vorlesungen zur Einführung in die Lyrik hat er die Erfahrung gemacht, dass gerade komische Gedichte und ihre formalen Verfahren den Studierenden Lust auf die oft wenig geliebte und als schwierig geltende Lyrik machen. Durch den Fokus aufs Lustige konnte der germanistische Nachwuchs selber zum kreativen sprachlichen Formenspiel motiviert werden. Eine gelungene und nützliche Summa von Kempers langjährigem Umgang mit freiwillig und unfreiwillig komischer Lyrik liegt nun als Buch vor.

Die Einleitung zu diesem als Orientierungswerk zu den vielen Spielarten lachhafter Dichtung zu begreifenden Buch offeriert in anschaulicher und souveräner Manier knappe Definitionen von Grundbegriffen wie Humor, Komik und Witz. Der Tübinger Emeritus verwahrt sich zu Recht gegen selber ridiküle, weil komisch scheiternde Bemühungen, eine einzige Theorie des Komischen (und folglich: einen einzigen Erklärungsansatz komischer Lyrik) zu postulieren. Sein Ziel ist es vielmehr, die Unterschiede komischer Texte aus verschiedenen Epochen „anschaulich zu erkunden und gegebenenfalls auf divergente Komik-Begriffe zu bringen, zumal solche, die im Horizont der jeweiligen Zeit und ihrer Autoren lagen“.

Kemper skizziert dazu gleichermaßen das Komische als Lächerliches (Theorien der Herabsetzung) wie das Komische als Spiel des souveränen Geistes (Theorien der Heraufsetzung). Ferner verdeutlicht er die Inkongruenz-, Komplementär- und Kipptheorien der Komik als Zerr-Spiegel-Verhältnis von Komischen und Ernstem. In Joachim Ritters Komiktheorie der 1940er-Jahre, die man begreifen kann als Entgegensetzung zu den Ausgrenzungs- und Verlachtheorien von Hobbes bis Bergson, ließ die im Lachen konstatierte „geheime Zugehörigkeit des Nichtigen zum Dasein“ das Komische als vernünftige Harmonisierungsinstanz fungieren. Dagegen sehe eine postmodern-dekonstruktivistische Komiktheorie wie die Wolfgang Isers das Komische als ein Kipp-Phänomen, „dem eigentlich kein ernsthaftes Gegenüber mehr Paroli bietet und das deshalb wie ein eingeschleuster Virus alles auf sachlicher, semantischer und interpretatorischer Ebene instabilisiert, so daß der Rezipient nur noch mit einem – ganz verständnislosen – Lachen reagieren kann.“

Kemper stellt eingangs dar, wie für lange Zeit Lyrik und Komik nicht zusammenzupassen schienen, weil der Ernst und der hohe Ton die Gattung beherrschten. Freilich konnte gerade aus diesen steilen Ansprüchen an Ernst und Harmonie Komik entstehen, die sich an den (un)freiwilligen Dissonanzen im solcherart hochanspruchsvollen Genre entzündete. Doch in der literaturwissenschaftlichen Forschung wurden die thematisch wie formal gestaltenreichen komischen Kurzdichtungen lange sehr stiefmütterlich behandelt. Alfred Liedes Studie „Dichtung als Spiel. Zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache“ gelang es in den 1960er-Jahren zwar, die Unsinnspoesie literaturwissenschaftlich aufzuwerten, indem sie den vormals verächtlichen Terminus ‚Unsinn‘ positiv besetzte; allerdings verengte sie zugleich das weite Feld komisch-lyrischer Verfahren auf die eine komische Schreibweise der Unsinnspoesie. Kemper möchte nun einen panoramatischen Blick auf den Formenreichtum komischer Lyrik werfen und dabei zeigen, wie seit Klassik und Romantik und ihrer Verabsolutierung ernster Lyrik die komische Lyrik sich am Formen- und Themenkanon der ernsten Gedichte abarbeitet.

Zwei Paradoxe komischer Lyrik benennt seine Studie. Einerseits müsse man die Komik verstehen, denn Pointen oder komische Kontraste, die erklärt werden müssen, statt unmittelbar Lachen hervorzurufen, sind nicht komisch. Andererseits kann unverständliche Lyrik ebenfalls komisch wirken. Die zweite paradoxale Spannung resultiert aus dem historischen Abstand heutiger Leser von älteren Texten und deren Verstehenshorizonten. Dadurch können ehemals ernst gemeinte (insbesondere pathetische) Texte heute komisch wirken und umgekehrt auch ehemals als komisch intendierte Texte ihre komische Wirkung einbüßen, weil ihre formalen Spielereien nunmehr abgenutzt scheinen und ihre Anspielungsreferenzen unzugänglich geworden sind.

Überzeugend und für Anschlussforschungen nützlich sind die drei Kategorien komischer Lyrik, die hier vorgeschlagen werden: Zuerst die ergiebigste Gruppe der mit Absicht auf komische Verfahren und Wirkungen hin verfassten Schreibweisen. Sodann eigentlich ernst gemeinte Gedichte, die unfreiwillig komisch wirkten; prominenteste Vertreterin dieser Abteilung dürfte Friederike Kempner (1836-1904) sein. Als dritte Gruppe benennt und analysiert Kemper Gedichte, die nicht aus poetischem Unvermögen komisch wirkten, sondern deren komische Wirkung erst aus der historischen Distanz zwischen den Verstehenshorizonten ihrer Entstehungszeit und ihrer heutigen Rezeption resultiert. Diese Gruppe beinhaltet mithin ehemals intentional ernste Lyrik, deren Pathos in unserer Kultur und Wahrnehmungsweise nicht mehr (anteilnehmende) Ergriffenheit sondern (distanziertes) Lachen produziert. Belege hierfür sind insbesondere empfindsame oder romantische Lyrik mit ihrem Gefühlsüberschwang, von Thomas Grays Friedhofsdichtung über die Barden-Mode und den Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts bis zu Barthold Heinrich Brockes’ lyrisch-ästhetischen Gottesbeweisen. Kemper sieht einen besonderen ästhetischen Reiz in dieser rezeptionsgeschichtlichen Aufladung, in der Texte vom Ernst zur Komik mutieren. Eine heutige Rezeption wird so, zumindest wenn sie noch etwas vom Entstehungskontext dieser Gedichte weiß, zu einem eigentümlich spannungsreichen, tragikomischen Vergnügen, in dem Ernst und Lachen changieren.

Erklärtes Hauptziel von Kempers Studie ist die literaturwissenschaftliche Aufwertung und Etablierung komischer Lyrik durch den Nachweis, dass es auch intentional komische Lyrik auf hohem sprachkünstlerischen Niveau gibt. Dieses Ziel erreicht er mit Bravour, indem er systematisch-strukturalistische Überlegungen zu den Bausteinen lyrischen Schreibens (und der ihnen innewohnenden Komik) vorträgt und zudem auf Basis seines überragenden gattungsgeschichtlichen Wissens eine kurze Geschichte lyrischer Textformen entwirft. Als willkommene Nebenprodukte dürfen seine Darlegungen gelten, dass die ernste Lyrik im Vergleich mit Epik und Drama, die komikgefährdetste ist, dass komische Gedichte sich für didaktische Heranführungen an das diffizile Lyrik-Genre bestens eignen und dass sich in der modernen Dichtung eine zunehmende Vermischung von ernster und komischer Lyrik abzeichnet. Komische und ernste Intentionen und Verfahren werden als gleichwertige Fundamente der Lyrik ausgerufen.

Von wissenschaftlicher Redlichkeit zeugt die Einschränkung, die Kempers Einleitung abrundet. Es handele sich nicht um eine komplette Übersicht zur Geschichte komischer Lyrik; nur einige, nicht alle wichtigen Autoren und Werke werden dargestellt und insbesondere die beiden bedeutendsten und vielseitigsten lyrischen Dichter der Moderne, Bertolt Brecht und Kurt Schwitters, könnten nicht angemessen dargestellt werden mit ihren spezifischen Überkreuzungen komischer Verfahren mit politischer Agitation (Brecht) oder mit gesamtkunstwerklichen Ambitionen (Schwitters) und schon gar nicht in ihren umstrittenen Rezeptionsgeschichten. Ausgespart bleiben in dieser textorientierten und weitgehend auf einem Autonomieideal lyrischer Kunst basierenden Schrift ferner auch die benachbarten Komik-Künste der Bilder und Karikaturen sowie die performativen Aufführungskünste von Kabarett, Chanson und Popsong. Bestechend ist die Eleganz, mit der dieser sehr lesbar schreibende Germanist die Liste seiner Ausgrenzungen und Fehlstellen zu vermitteln weiß. Er schließt seine Einleitung mit einem selbstverfassten Gedicht, welches die Maximen seines notwendig reduktiven, struktural und historisch exemplarisch argumentierenden Überblicks spielerisch verdichtet: „Kobold Komik liebt die Lücken, / Kehrt den Rücken, lässt sich blicken / Ganz – mit Glück! – im Einzel-Stücken. / Hurtig schaun wir hinterher; / Was? wann? wie? ist wichtiger / Als: Woher? Wozu? Und wer?“

So kompakt wie der Abriss zu Grundbegrifflichkeiten von Komik und Humor fällt hier auch die Gattungsdefinition der Lyrik aus. Poesie sei eine genormte, musikalische, kurze Sprachform; historisch wurde sie einerseits definiert durch ein strenges, rhetorisches Ordnungssystem, andererseits als Zauber-Kunst, Sehergabe und Genie-Ausdruck. So systematisch und luzide Kempers knappe Darstellungen zu Typen der Komiktheorie und der komischen Lyrik ausfällt, so überzeugend strukturiert ist auch der Aufbau seines Grundlagenwerks zur lyrischen Komik. In einem ersten Hauptkapitel werden die üblichen formalen Gedichtelemente wie Reim, Vers, Musikalität und Textkürze auf ihr komisches Potential hin diskutiert. Gerade die auf Regelmäßigkeiten basierenden, Erwartungen generierenden Ordnungssysteme von Reim und Metrik erlauben überraschende, Lachen hervorrufende Abweichungen und Inkongruenzen, die von einfallsreichen komischen Lyrikern facettenreich ausgespielt wurden. Komische Effekte lassen sich auch aus der Musikalität der Gattung gewinnen, etwa. aus einer Verwendung geistlicher Lieder für weltliche Texte (Kontrafakturen und Parodien).

Auch Kempers grundsätzliche Definition lyrischer Komik finden wir nützlich, wiewohl sie, vielleicht etwas zu formalistisch und zu wenig psychologisch-emotionstheoretisch fundiert ist: „ Lyrische Komik entsteht […] primär durch absichtliches oder unfreiwilliges Verformen oder ‚Biegen’ von formdominant ‚verdichteten‘ Merkmalen der Vers-Rede.“ Lyrische Komik entspringe demnach in Werken, die von der ernsten Lyrik entwickelte Formen, Themen und Sinndimensionen ‚umschreiben‘ oder ,umbiegen‘ – nicht aber bei den Versuchen, diese thematischen und formalen Aspekte ernster Lyrik komplett zu brechen oder zu erneuern. Kemper folgt hier der Maxime des Filmkomikers W. C. Fields: „Biegen ist komischer als brechen“. Komische Kunst übertreibt, dehnt oder verzerrt demnach etablierte Formen, anstatt diese Formen – wie ernsthafte Avantgardekunst es anstrebt – zu negieren oder durch radikale Innovation zu brechen.

Kempers eher strukturalistisch-formalistische Bestimmung komischer Lyrik ist eine genuin literaturwissenschaftliche, indem sie Aspekte der Gattungs- und Sprachformgeschichte stärker fokussiert als motivisch-thematische Stränge der Komik wie etwa den schwarzen Humor, die latent aggressive Satire, die sexuelle Entladungen der zotigen Dichtung oder das anarchisch lustvolle Potential sprachspielerischer Nonsense-Lyrik. Unterbelichtet bleiben hier mithin die anthropologischen und emotionalen Konstituentien von Komik und Humor, die das Lachen und lach-affine Sprachformen, etwa im Anschluss an Sigmund Freuds Theorie des Witzes, psychodynamisch erklären als Zensur-Umgehung, als Triebabfuhr oder als spielerisch-regressiven Lustgewinn. Doch muss eine solche genuin literaturwissenschaftliche Grundlegung lyrischer Komik im Zeitalter ubiquitär kulturwissenschaftlicher Disziplinenvermischung durchaus kein Schaden sein. Denn Kempers Feststellung eines formalen a priori bei Machart und Wirkungsweise komischer Lyrik ist allemal bedenkenswert. Mehr als in der ernsten Lyrik sei in bestimmten Segmenten der komischen Lyrik die Form ‚der Einfall selbst‘. Gleichfalls anregend finden wir sein Beharren auf semantischen Aspekten noch bei scheinbar rein spielerischer Unsinnspoesie. Lyrischer Unsinn bleibe immer mit Spuren von Sinn behaftet; denn das Lachen beharre auf Zusammenhang. Bei reiner Zusammenhangslosigkeit oder Sinnlosigkeit wären nämlich eher Weinen oder Verzweiflung angesagt; hier schleichen sich, gleichsam durch die Hintertür, doch noch anthropologisch-psychologische Mutmaßungen in die Analyse komischer Lyrik ein.

Der große Mittelteil von Kempers systematischem Überblick über Formen und Geschichte komischer Lyrik katalogisiert die Schreibweisen absichtlich komischer Lyrik. Hier diskutiert er eingangs die Versuche (prominent etwa Peter Rühmkorf), komische Kurztexte als Ausdruck von Volkes- oder Kinderstimme gewissermaßen zu entkunsten und zu naturalisieren. Kempers Katalog lyrisch-komischer Spielarten beginnt mit der satirischen Komik, also mit der dem Unsinn am fernsten und der ernsten Lyrik und ihren Themen am nächsten stehenden Lachform. Satiren etwa auf die Medizin oder auf den Krieg ‚biegen‘ die durch ernste, brisante Thematik ausgelösten Emotionen und verbinden sie mit kritischen Einsichten. Die zahlreichen gehaltvollen Einzelbeobachtungen zur Vielzahl intentional komischer Kurztexttypen können hier nicht eingehend gewürdigt werden. Der Lyrikhistoriker streift durch die Groteske und den expressionistischen Reihenstil, erklärt Groteskes im Epigramm des Barock und die komische Liebeslyrik dieser Epoche. Er zeigt, wie in Richard Dehmels blasphemisch erotischen Umschriften des Marienkultes christliche Schein-Heiligkeiten entlarvt werden.

Im 17. Und 18. Jahrhundert wurden unter dem Signum der scherzenden Muse große Mengen an lustiger Trink- und Tabakspoesie produziert. Unbedingt heiter und komikaffin war auch die im 18. Jahrhundert boomende Anakreontik. Auch die komische Verwendung von Fabeln, Versepen und Idyllen seit dem 18. Jahrhundert referiert Kemper und zeigt ferner, wie das pointierende Erzählgedicht, nebst dem pointierenden Moralgedicht etabliert von Wilhelm Busch, im 20. Jahrhundert ihren Meister in Eugen Roths Komikkunst fanden. Aufschlussreich ist auch seine Typologie der Parodien. Ernste und scherzende Parodien, sowie Autor-, Stil-, Einzeltext-, Thementyp-Parodien und schließlich Dialekt-, Strophen-, Gattungs- und Mehrfach-Parodien werden unterschieden und jeweils an Beispielen anschaulich gemacht. Auf 10 Seiten fächert Kemper sodann 15 Spielarten der Unsinnspoesie auf, von Textverballhornungen über Schüttelreime und Limericks bis hin zu Pointengedichten, Wort- und Syntaxspielen sowie Buchstabenspielen.

Diffizile und teilweise unentscheidbare Mischungsverhältnisse von ernstem und komischem Modus diskutiert der Lyrikspezialist am Beispiel von Goethes ‚Wanderer Sturmlied‘ sowie an Heine-Gedichten, deren Verwendung magisch-romantischer Weltbilder von einer Kritik an der Lügenhaftigkeit dieser Weltsichten durchkreuzt wird. Im 20. Jahrhundert finden sich ähnlich intrikat-unentscheidbare Mischungsverhältnisse in einigen Gedichten Ringelnatz’ mit ihrer lyrischer Mischung aus Melancholie und Komik. Die Beispiele und Typisierung komischer Lyrik aus dem 20. Jahrhundert und aus der jüngsten Literaturgeschichte fallen ziemlich knapp aus. Von Großmeistern komischer Verformungskunst wie Peter Rühmkorf, Ernst Jandl und Robert Gernhardt werden jeweils nur ein oder zwei Gedichte auf einer Seite analysiert. Doch gibt es zu komischen Textverfahren Jandls mittlerweile zum Glück eine gründliche Doktorarbeit von Anne Uhrmacher und zu Robert Gernhardts Komikkunst existieren mehrere Monografien und Sammelbände; seine Werke erscheinen nunmehr nicht mehr in Pardon, Titanic oder bei Zweitausendeins, sondern in einer – teilweise philologisch edierten – Werkausgabe im ehrwürdigen S. Fischer Verlag.

Der dritte Teil dieser aspektreichen systematisch- historischen Studie bietet auf 60 Seiten einen Durchgang durch die unfreiwillige, historisch emergierte Komik ernster Funktionstypen. Ergiebige Quellen sind hier die christlichen Lieder, deren Weltfeindschaft, Jesus-Lust oder konfessionell-aggressive Positionierungen später ebenso komisch wirken können, wie einst ernst gemeinte Glaubensängste. Der Frühneuzeit- und Barockspezialist Kemper ist hier ganz in seinem Element; er hat gewiss oft in ernst gemeinten Lyrik-Seminaren das Lachen erlebt über grotesk wirkende Fegefeuer-Schilderungen bei Friedrich von Spee oder über Buß- und Selbsterniedrigungsphantasien in Liedern Paul Gerhardts. Natürlich bieten auch und gerade lyrische Umsetzung mystischer Erfahrungen mit ihren magisch-unrealistischen Körpererlebnissen komische Kontraste zwischen Heiligem und Perversem, etwa wenn Catarina Regina von Greiffenberg gerne „Christi Schnuptuch“ sein möchte und sein Blut allzu plastisch unmetaphorisch zu trinken wünscht. Gelegenheitsdichtungen fungierten lange Zeit als gut bezahlte lyrische Massenware etwa in Hochzeitsgedichten; sie werden mit Abstand vom Ereignis häufig zu komischem Wortgeklingel. Allfällige Übertreibungen machen nicht selten auch Grabgedichte komisch.

Die Dynamik der Wissenschaften ließ Lehrgedichte wohl besonders schnell veralten; besonders im umfangreichen Werk Brockes, das in lyrischen Worten Gott mit physikotheologischen Argumenten preist, finden sich zahlreiche komische Kontraste, die uns heute lachen lassen, doch sicherlich nicht so gemeint waren. Der physikotheologischen Gottespreisung entgegengesetzt stehen Katastrophengedichte, die teils Gottes Allmacht (etwa bei der Sintflut) demonstrieren oder auch wie in Jakob van Hoddis berühmten ‚Weltende‘ mit grotesken Mitteln moderne Weltuntergangsvisionen verdichten, die vielleicht ernst und ängstlich gemeint waren und doch komisch wirken.

Kempers Kapitel zur ‚Lyrik der Moderne‘ besichtigt komische Biegungen von Balladen, Romanzen und Stegreifdichtungen; meist werden hier die gattungsüblichen Handlungsschemata ins Groteske übertrieben. In der Moderne rücken, gerade im Darstellungstyp der Groteske, ernste und komische Weltsichten teilweise bis zur Unentscheidbarkeit zusammen. Doch auch der seit dem gefühlvoll-individualistischen 18. Jahrhundert sich etablierende Modus der Ich-zentrierten Erlebnis-Lyrik bietet reichlich Möglichkeiten, den einhergehenden Genie- und Sprachkult, die Inspirations- oder Schmerzenserfahrungen gewollt oder ungewollt so zu überdrehen, dass eine komische Wirkung entsteht. Friederike Kempner, auch bekannt als der ‚schlesische Schwan‘, praktizierte diese Komik von Stilbrüchen, verbogenen Bilderfindungen und in komische Pointen mündendem Pathos mit nahezu vollkommener Unvollkommenheit. Freilich laufen auch die genuin modernistischen Verfahren, etwa des expressionistischen Reihungsstils sowie seines ‚oh Mensch-Pathos‘, der naturalistischen Elends-Idyllen oder einer gefräßigen Ich-Aneignung der Dingwelt regelmäßig Gefahr, ihre existenzialistisch ernst gemeinten Dichtungen mit einem erstaunten oder verständnislosen Lachen quittiert zu sehen.

Kempers Monografie bietet eine willkommene und nützliche theoretische Grundlegung sowie einen historischen Orientierungsrahmen zur weiteren Erkundung komischer Lyrik. Als Formengeschichte lyrischer Komik füllt sie eine Forschungslücke. Durch den methodisch einleuchtenden Fokus auf Formelemente als genuines Merkmal der Lyrikgeschichte bleiben thematisch- motivische Aspekte komischer Lyrik wie auch detaillierte emotionspsychologische Analysen komischer oder heute tragikomisch wirkender Lyrik unterbelichtet. Hier könnte und sollte anschließend an Kempers Grundlagenwerk noch weiter geforscht werden

Titelbild

Hans-Georg Kemper: Komische Lyrik - lyrische Komik. Über Verformungen einer formstrengen Gattung.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2009.
256 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783484510005

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