Eine Mär aus alter Zeit

Rechtzeitig zum 50. Todestag des Autors erscheint die Neuauflage von Wolf von Niebelschütz’ großem Mittelalterroman „Die Kinder der Finsternis“

Von Jutta LadwigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jutta Ladwig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Historische Romane sind derzeit aus keiner Buchhandlung wegzudenken. Die Geschichten über tapfere Kreuzritter, mutige Edelfräulein und schlaue Mägde vor historischer Kulisse bieten nicht nur Lesevergnügen für ein breites Publikum, sondern auch Einblicke in die Kultur und das Leben des Mittelalters. Allerdings vermitteln diese Zeitreisen nicht immer ein authentisches Verhaltensbild, oft denken und fühlen die Protagonisten wie in unserer Gegenwart. Gerade weibliche Figuren versuchen sich zu emanzipieren und äußern Ideen, wie sie allenfalls erst während der britischen Suffragetten-Bewegung im 19. Jahrhundert thematisiert wurden. Wolf von Niebelschütz’ Werk aber sticht aus dieser Masse hervor. Sein großer Mittelalterroman wurde seit der Erstveröffentlichung 1959 häufig neu aufgelegt und avancierte zu einem Kultbuch ganzer Generationen.

„Die Kinder der Finsternis“ überzeugt sprachlich und inhaltlich. Sprachbilder und Wortschöpfungen wie Gewaltbote, Zuchtburg oder Leibknappe beeindrucken, und monumentale Satzkonstruktionen entführen den Leser direkt in eine Zeit der Ritterturniere, Kriege, Hungersnöte und Minnegesang: „Es lag ein Bischof tot in einer Mur am Zederngebirge fünf Stunden schon unter strömenden Wolkenbrüchen. Die Mur war hinabgemalmt mit ihm und seinem Karren und seinen Maultieren und seiner Geliebten, unter ihm fort, über ihn hin, als schmettere das Erdreich ihn in den Schlund der Hölle, kurz vor Anbruch der Nacht.“

Erzählt wird die Geschichte des Schäfers Barral. Er überlebt als einziger das Massaker eines Sarazenenheers in seinem Heimatdorf in der Provence des 12. Jahrhunderts. Seitdem hat Barral nur ein Ziel: den Wiederaufbau Ghissis. Als Graf Peregrin auf ihn aufmerksam wird, beginnt Barrals Aufstieg. Er bringt es vom Knappen zum Herzog und wird Freund des Kaisers, und gewinnt das Herz der schönen Markgrafentochter Judith. Doch sein Weg ist hart: Barral wird mehrfach in weltliche und kirchliche Intrigen hineingezogen und verliert Freunde und Weggefährten. Aber Barral geht beständig seinen Weg ohne dabei sich selbst zu verlieren.

Anders als zum Besipiel Rebecca Gablés „Das Lächeln der Fortuna“ oder Ken Folletts „Die Tore der Welt“ ist von Niebelschütz’ Roman kein Buch, welches man an einem Stück liest. Der Leser braucht Zeit, um sich auf die Sprache dieser Lektüre einzulassen. Doch sie passt zur beschriebenen Zeit und Atmosphäre des Texts und macht ihn dadurch ungewöhnlich authentisch.

Von Niebelschütz wechselt virtuos zwischen monumentalen Schachtelsätzen und einfachen Dialogen, bei denen nur das Nötigste gesprochen wird: „Das Kind ist tot, sie hat die letzte Ölung erhalten.“ – „Fiebert sie? Abtrocknen! Mein Pferd!“

Die Handlung schreitet schnell und lebendig voran, die wichtigsten Details werden durch die Dialoge der handelnden Figuren vermittelt. Und diese Figuren sind zahlreich, dass der Leser gelegentlich den Überblick verliert, was sich allerdings nicht auf das Verständnis der Handlung auswirkt. Der vom Autor selbst aufgezeichnete Stammbaum ist hierbei eine große Hilfe.

Wolf von Niebelschütz illustriert bravourös die Konfrontation von christlichen und muslimischen Wert- und Kulturvorstellungen sowie die Stellung der Juden in der Gesellschaft des 12. Jahrhunderts; ein Thema, das 14 Jahre nach Kriegsende nicht selbstverständlich ist.

Von Niebelschütz’ Figuren handeln standesgemäß. Es gelten die mittelalterlichen Gesellschaftskonventionen, jeder hält sich daran, auch wenn es schwer fällt, wie Barrals oder Judiths Beispiel zeigt. Sie versuchen, innerhalb der geltenden Normen ihr Leben zu gestalten und ihre Ziele zu verfolgen und durchzusetzen – was sie menschlich umso authentischer macht. Auch die Doppelmoral von Klerus und Adel wird in „Die Kinder der Finsternis“ thematisiert, und Barrals Kampf um Menschlichkeit ist schwer innerhalb dieser dunklen Zeiten voller Intrigen und Profitdenken.

Von Niebelschütz ist ein bedeutender historischer Roman gelungen, der auch 51 Jahre nach seinem Erscheinen nichts von seiner Faszination und Sprachgewalt eingebüßt hat. „Die Kinder der Finsternis“ ist ein literarisches Kunstwerk, für das sich der Leser Zeit nehmen muss, um es auf sich wirken zu lassen, denn dieser Roman ist keine einfache Unterhaltungsliteratur. Der Text fordert die volle Aufmerksamkeit des Lesers – und bietet ein farbenprächtiges und lebendiges Panorama des mittelalterlichen Lebens in der Provence für den, der sich darauf einlässt.

Titelbild

Wolf von Niebelschütz: Die Kinder der Finsternis. Roman.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2010.
700 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783036955599

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