Im Zerrspiegel: Der Einheitsathlet

Kai Schlüter präsentiert Günter Grass’ Stasi-Akte

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht eine „wissenschaftliche Edition“, sondern ein „Lesebuch“ will diese Dokumentation sein. Ihr erklärtes Ziel ist es, das an diversen Orten lagernde Aktenmaterial, chronologisch und thematisch geordnet, „einer größeren Öffentlichkeit möglichst leicht lesbar zur Verfügung zu stellen“. Dem Leser geboten werden: Eine allgemeine Einführung, was es mit den Stasi-Akten im allgemeinen und in Bezug auf Grass im besonderen auf sich hat; das in fünf Kapitel unterteilte Textkorpus der insgesamt 109 Stasi- „Dokumente“ aus knapp drei Jahrzehnten; vor jedem Kapitel eine Einführung in die jeweiligen Zeitumstände; an jedes Dokument angelagert berichtigende respektive ergänzende Kommentare (zumeist aus dem Jahr 2009) und/oder erläuternde Auszüge aus früheren Veröffentlichungen von Grass selbst und/oder anderen „Zeitzeugen“ sowie im Anhang eine Kurzbiografie von Günter Grass, ein Abkürzungsverzeichnis und Glossar, ein Abbildungsverzeichnis, ein Literaturverzeichnis und ein annotiertes Personenregister.

Ein „Lesebuch“ zum Schmökern sieht in der Regel anders aus. Als Lektüreanleitung fasst der Begriff dennoch nicht ganz daneben: einmal wegen der stillen Absicht hinter diesem Beitrag zur Grass-(Auto-)Biografie – darüber später – und zum anderen wegen der gebotenen Kost, der Textsorte Stasiprosa, die für den gemeinen Leser nur dosiert genießbar ist. Zumeist von unsäglicher Langeweile und Einfallslosigkeit, ist sie nur hin und wieder von Stilblüten, Sottisen und Selbstentblößungen unterbrochen; das Vergnügen daran, schal ohnehin, verbraucht sich schnell. Hinzu kommt eine ermüdende Redundanz, die durch strengere Auswahl hätte gemildert werden können (möglicherweise unterblieb sie aber auch in der Absicht, die Überproduktion eines bürokratischen Apparats an gestanzten Texten vorzuführen, die allesamt ein und demselben „Vorkommnis“ gelten). Auch das Stille-Post-Spiel der konspirativen Methode, wie es sich in den zahlreichen „Treffberichten“ niederschlägt, ist von nur begrenztem Unterhaltungswert, ganz abgesehen davon, dass es die Wahrheit verunziert, wo nicht verunstaltet.

Seit Anfang der sechziger Jahre hat sich das MfS, amtliche Abkürzung für das „Ministerium für Staatssicherheit“ der DDR, mit Grass beschäftigt, das heißt ihn, wann immer er an ihrer Grenze auftauchte, auf Schritt und Tritt beobachtet, wohlgemerkt: beobachtet, mehr nicht. Richtig aufgefallen war er zum ersten Mal nach dem Bau der Berliner Mauer (August 1961) mit Protestbriefen an den damaligen Partei- und Staatschef Walter Ulbricht und an Schriftstellerkollegen in der DDR, darunter Stephan Hermlin, der ihn (und den Mitautor des, nach Lage der Dinge notwendigerweise argumentativ schwachen, Protestaufrufs Wolfgang Schnurre) auf seine seigneurale Art abbürstete; der ganze Komplex „Mauerbriefe“ ist, offensichtlich mangels Masse, nicht aus den MfS-Akten, sondern nach der Grass’schen Werkausgabe dokumentiert – ein erster Hinweis, dass es weniger um die Akten als um Grass’ Wirken geht.

Auch später hatten Grass und Hermlin noch mehrfach miteinander zu tun, jeweils in öffentlichem Rahmen, immer gegenseitig respektvoll, besonders Anfang der achtziger Jahre im Rahmen der Berliner Begegnungen zur Friedensförderung deutscher Schriftsteller aus Ost und West. Hermlin kann als der eigentliche Initiator dieser Treffen im Zuge der westlichen wie östlichen Antiraketenkampagne gelten. Hier wie bei allen anderen Zusammentreffen mit ostdeutschen Autorenkollegen, sei es in privatem, sei es in öffentlichem Rahmen, vertrat Grass als erklärter Sozialdemokrat konziliante politische Positionen, in der Nachrüstungsfrage um Äquidistanz zu beiden Großmächten bemüht. In Fragen der künstlerischen und Meinungsfreiheit sowie in solchen der Solidarität mit bedrängten Kollegen hingegen war er kompromisslos und scheute die Provokation nicht; beispielsweise las er bei einer von der Weimarer Akademie im November 1964 veranstalteten Tagung, zu der er neben anderen westdeutschen Kollegen geladen war, öffentlich aus Uwe Johnsons „Das dritte Buch über Achim“ – ein Affront gegenüber den Gastgebern, denn natürlich war das Buch in der DDR verboten.

Zu verbaler wie tätiger Solidarität hatte Grass im Laufe der siebziger Jahre zunehmend Gelegenheit, besonders nach dem Massenprotest von DDR-Schriftstellern gegen das Verbot der Wiedereinreise von Wolf Biermann im November 1976. Zuvor war Grass ab 1974 in wechselnden Ostberliner Privatwohnungen annähernd regelmäßig mit DDR-Autoren, darunter Sarah Kirsch, Erich Arendt, Thomas Brasch, Elke Erb, Günter Kunert und Hans-Joachim Schädlich, zu Lesungen nach Art der Gruppe 47 zusammengekommen. Diese Zusammenkünfte, zuletzt, nach dem Biermann-Eklat, größere Veranstaltungen mit bis zu 40 Personen aus Ost und West, gingen im Dezember 1978 zu Ende. Der Schauspieler Manfred Krug schreibt über ein solches Treffen im Mai 1977: „Grass liest mit Selbstgenuß ein Kapitel aus seinem 700-Seiten-Roman ‚Der Butt‘, und als er fertig ist, wird nicht gemäkelt. Er ist schon der Meister in diesem Zimmer, und er weiß es. Mir fällt auf, dass alle ihn mit ‚Sie‘ anreden […] Um halb zwölf wird aufgebrochen, einige fahren in den Westen, alle anderen bleiben da.“

Ende 1980 war das MfS mit seiner Geduld am Ende. Es verhängte eine Einreisesperre über Grass mit der internen Begründung: „Grass inspiriert feindlich-negative Kräfte in der DDR zu Aktivitäten gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung.“ Das Verbot wurde – wegen der Prominenz des Autors – nie vollzogen, musste aber bei jeder Grass’schen Einreise zu immer ausgedehnteren Aufenthalten, 1987/88 sogar öffentlichen Lesereisen, von oberster MfS-Stelle aufgehoben werden. Schließlich fiel sogar das über Grass’ Werk verhängte Publikationsverbot: Bei Reclam in Leipzig erschien 1984 „Das Treffen in Telgte“, im Verlag „Volk und Welt“ (eine letzte Ranküne: Verlag für ausländische Literatur!) 1986 „Die Blechtrommel“. Gleichwohl hielt das MfS bis zuletzt an seinem Feindbild Grass betreffend fest. Anlässlich des von Stasi-Einheiten mit absurdem Aufwand begleiteten Besuchs des Ehepaars Grass im Bezirk Rostock im Juni 1989 fasst Generalleutnant Kienberg, Leiter der Hauptabteilung XX, Grass’ Sündenregister noch einmal wie folgt zusammen: „Grass besitzt seit Jahren Kontakte zu feindlichen und oppositionellen Personenkreisen aus der DDR, hat mehrfach an Zusammenkünften derartiger Personen in der DDR teilgenommen und dabei stets eine inspirierende, auf die Organisierung politischer Untergrundtätigkeit abzielende Rolle gespielt. Er propagiert die These von der ‚Einheit der deutschen Kulturnation‘ und andere durch die SPD in ihrer ‚Ost- und Deutschlandpolitik‘ vertretene Theorien und setzt sich aktiv für uneingeschränkte Menschenrechte, Meinungs- und Informationsfreiheit ein.“

Einen der moralisch gravierenden Aspekte des Themas MfS bildet der so genannte Inoffizielle Mitarbeiter (IM), der Zuträger, der seine soziale Umgebung ohne deren Wissen ausspäht und an die Geheimpolizei verrät. Auch im Fall Grass waren etliche IM am Werk, die prominentesten unter ihnen sind in der Einleitung mit ihren Deck- und Klarnamen aufgeführt.

Für die Ausspähung der Grass’schen Lesediplomatie in den siebziger Jahren stand dem MfS fatalerweise der Bruder von Hans Joachim Schädlich zur Verfügung, der Historiker Karlheinz Schädlich, SED-Mitglied und „Reisekader“, Deckname „Schäfer“. Obwohl der Bruder ihn im Auftrag des MfS bedrängte, ihm Zutritt zu dem Lesekreis der Schriftsteller zu verschaffen, sah Hans Joachim Schädlich sich außerstande, dieser Bitte zu entsprechen, fühlte sich aber offenbar genötigt, dem Bruder relativ ausführliche Informationen darüber zukommen zu lassen, welche dieser eilfertig an seinen „Führungsoffizier“ weitergab und dieser wiederum in seinen „Treffberichten“ niederschrieb.

Hans Joachim Schädlich las bei den Zusammenkünften, die unter anderem auch in seiner Wohnung stattfanden, aus seinen für die DDR vernichtenden Prosastücken, die im August 1977 unter dem Titel „Versuchte Nähe“ bei Rowohlt im Westen erschienen und die Günter Grass im Herbst auf einer Lesereise durch die Bundesrepublik neben seinem „Butt“ unter das Publikum brachte – nachzulesen in einem „Zwischenbericht“ vom 7. November 1977 „über den gegenwärtigen Stand der politisch-operativen Bearbeitung des OV ‚Schädling‘“ (OV bedeutet Operativer Vorgang, gemeint: [Abhör-]Maßnahmen gegen Hans Joachim Schädlich, der Anfang September einen Ausreiseantrag gestellt hatte). Mit der Ausreise des Ehepaars Schädlich im Dezember endete das Drama der Brüder nicht. Karlheinz stellte der Familie auch noch im Westen nach. Das Verratsopfer Hans Joachim hat offenbar erst nach dem Ende der DDR von seinem „Schäfer“-Bruder erfahren und, wohl diesen im Blick, in dem von ihm herausgegebenen Band „Aktenkundig“ (1992) von der „geistige[n] Zerstörung, die das SED-Regime beabsichtigt und angerichtet hat“, gesprochen. Zur Rede gestellt, soll „H“, berichtet Hans Joachim, sich damit endgültig selbst entlarvend gesagt haben: „Du kannst mein Leben zerstören, wenn du darüber mit anderen sprichst.“ Das hat Schädlich in seinem Bericht von 1992 explizit nicht getan, muss aber damit leben, dass sich sein Bruder Karlheinz 2007 das Leben nahm. Aus „Ekel“ habe Hans Joachim Schädlich es abgelehnt, an dieser Dokumentation kommentierend mitzuwirken, teilt ihr Herausgeber mit, und den Leser beschleicht denn doch ein Zweifel, ob Grass sich jederzeit der unter Umständen ernsten Implikationen seiner engagierten Ausflüge in den Polizeistaat bewusst war.

Auch heute noch will Grass nichts davon wissen, dass bei den Ostberliner Lesungen der siebziger Jahre – und das gilt für seine ganze DDR-Arbeit – „politische Erwägungen“ eine Rolle gespielt hätten. Maßgeblich sei nur das wechselseitige Bedürfnis gewesen, den Kontakt nicht abreißen zu lassen, und das berufsspezifische Verständnis, „dass Literatur von Natur aus grenzüberschreitend zu sein hat“ und durch keine militärischen und wirtschaftlichen Bündnisse getrennt werden könne. Schädlich, von seinem Bruder „abgeschöpft“, urteilte schon Mitte der siebziger Jahre laut „Treffbericht“ differenzierter: „GRASS [Hervorhebung im Original – AP] würde bei den Zusammenkünften keine vordergründige politische Diskussion führen. Er sei aber ein völlig ‚politischer Typ‘, bei dem sich politische und literarische Interessen miteinander verbinden und übereinstimmen. In den bisherigen Zusammenkünften habe sich GRASS [s.o.] ‚politisch immer deutlicher konturiert‘. Es wäre ganz klar sichtbar, daß G. mit seinen Mitteln versucht, die Ostpolitik der SPD zu verwirklichen.“

Tatsächlich ist es die politische Rhetorik der Entspannungspolitik der siebziger Jahre, die noch heute aus Grass spricht. Sie gibt sich zu erkennen in dem sorgsamen Bestreben, jede politische oder gar nationale Konnotation aus dem innerdeutschen Beziehungszusammenhang herauszuhalten, und stützt sich auf die vermeintlich unpolitische Idee der Kulturnation. Es ist nicht ohne bittere Ironie, dass sie ausgerechnet Grass dazu verleitet hat, die nationalstaatliche Einheit zu verschmähen, als sich die Gelegenheit dazu bot, ausgerechnet Grass, der wie kaum ein anderer über mehr als zwei Jahrzehnte unverdrossen seine Prominenz und seine Mittel eingesetzt hat, den eingeschlossenen Landsleuten und Kollegen in der DDR nach seinen Kräften beizustehen und ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass der glücklichere Westen sie nicht abgeschrieben habe.

Günter Grass wird sich dieser Ironie bewusst sein, und dies mag erklären, warum er zu der grimmigen Ironie greift, seinen, wie er ihn reinen Herzens verstand, Beitrag zur Wahrung der kulturnationalen deutschen Einheit während der Zeit der Teilung im Zerrspiegel der Stasi-Akten vorzuführen. Sein Verdienst hält das allemal aus, zumal die ausgiebige Kommentierung dafür sorgt, dass der Aktengegenstand, der Held, jederzeit das letzte Wort behält.

Titelbild

Kai Schlüter: Günter Grass im Visier - Die Stasi-Akte. Eine Dokumentation mit Kommentaren von Günter Grass und Zeitzeugen.
Ch. Links Verlag, Berlin 2010.
379 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783861535676

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