Magischer Minimalismus

Ein von Uta Felten herausgegebener Sammelband untersucht Eric Rohmers „Filmkunst zwischen Liebe und Lüge“

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Behauptung, dass alle Filme Rohmers junge Leute zeigen, die klug über die Liebe reden, sich verlieben und wieder verlieren, ist zu einem Gemeinplatz geworden. Was motiviert eigentlich Rohmers Lust an diesen, sich ins Unermessliche variierenden Versuchsanordnungen, bei denen Menschen sich zu immer neuen Paaren zusammenschließen?“ Diese Frage stellt die Kulturwissenschaftlerin Uta Felten in ihren Vorbemerkungen zu dem von ihr herausgegebenen Sammelband zu Eric Rohmers „Filmkunst zwischen Liebe und Lüge“. Ob es nun die Marivaux’sche Schaulust sei, Freude am Experiment mit den Seelenmechanismen oder die de Sade’sche Kombinatorik, Lust an geometrischen Spielformen der Kreuzung und Verkettung oder ob etwa die Absicht des Regisseurs, eine Diskursgeschichte der Lieb- und Leidenschaften der Gegenwart zu schreiben – für Felten gilt, dass Rohmer mit seinem filmischen Werk zweifelsohne einen „Thesaurus unserer Sprache der Liebe vorgelegt [hat], der nicht nur den Wandel und die Dynamik der amourösen Codes von den 1960er-Jahren bis heute […], sondern zugleich auch die zunehmende Brüchigkeit und simultane Verfügbarkeit unserer Liebescodes reflektiert.“

Ursprünglich sollte, so schreibt der Filmwissenschaftler und Herausgeber der Reihe „Film-Konzepte“ Thomas Koebner zuvor in einem einführenden Beitrag, der Band rechtzeitig zu Rohmers 90. Geburtstag im Frühjahr erscheinen und ein ferner Gruß an ihn sein. Doch der Tod des französischen Regisseurs am 11. Januar 2010 hat dieses Heft nun gewissermaßen zu einem wissenschaftlichen Nachruf werden lassen, der Beiträge zur „Diskussion um die aktuelle Bedeutung des Rohmer’schen Kinos für anthropologische, philosophische und filmästhetische Fragen“ vereinigt, die „um die Begriffe von Schein und Sein, Lüge und Wahrheit, Zufall und Vorsehung, ‚constantia‘ und ,inconstania‘ kreisen“, wie es im Rückklappentext zusammenfassend heißt.

„Die literarischen, philosophischen, pikturalen, modischen und ideologischen Versatzstücke aufzuspüren, mit denen die Liebenden bei Rohmer ihren amourösen Baukasten zusammenstellen, ist eines der wesentlichen Vergnügen des Zuschauers. Rohmers Filme werden so zur Fundgrube archäologischer Bruchstücke. Der Zuschauer wird zum Archäologen. Die Aporie einer vollständigen Zusammensetzung der Bruchstücke und Redefetzen ist dem Projekt von Anfang an eingeschrieben. Es bleiben Leerstellen, Lücken und Risse. Rohmer macht kein psychologisches, sondern ein archäologisches Kino.“ Nach dieser These von Uta Felten liegt auch den sechs Aufsätzen ein gemeinsamer archäologischer Gestus zugrunde. So gehe es in ihnen darum, Denkfiguren, theatralische, geometrische und topografische Spielfiguren und intermediale Metamorphosen bei Rohmer aufzuspüren und aufzuzeigen.

Den Anfang macht die Herausgeberin selbst. Sie widmet sich der Figur der Mobilität als topografischem und narrativem Modell der ständigen Unruhe von Protagonistinnen, die zu Nomadinnen im städtischen Raum werden. Diese Entwicklung zeige sich vor allem im Filmzyklus „Komödien und Sprichwörter“ (1981-1987), in dem die weibliche inconstantia – ähnlich der der Madame Bovary aus Flauberts gleichnamigem Roman – in den Mittelpunkt des Interesses rücke. Am Beispiel des Films „Vollmondnächte“ (1984) weist die Autorin nach, dass sich jene „nicht mehr nur auf die erotischen Objekte der Begierde [bezieht], sondern zur topografischen inconstantia wird, zum ruhelosen Switchen zwischen zwei Orten, zwei Wohnungen, zwei Männern, zwei Life-Style-Entwürfen, zwei Existenzweisen.“ Die inconstantia, so fährt die Kulturwissenschaftlerin fort, konstituiere damit den topologischen Grundmodus eines Switchens zwischen Metropole und Peripherie, wobei sich die Glückserwartungen vornehmlich auf die Hauptstadt als einer vermeintlich idealen Topografie des Begehrens richteten.

Einen Einblick in das variierende Strukturprinzip der „Moralischen Erzählungen“ (1963-1972) gibt die Medienwissenschaftlerin Beate Ochsner. Sie plädiert dafür, die „Moral“ der frühen filmischen Erzählungen Rohmers in „jenen Zwischenräumen zu situieren, die sich an den Schnittstellen zwischen Dokument(ation) und Fiktion(alisierung) sowie den markanten Verschiebungen zwischen Erzählerkommentar und filmischer Narration ergeben“. So entstehe sein Kino zwischen Zeigen und Sprechen und strafe dabei stets sowohl das eine, die Sprache, wie auch das andere, die Bilder, Lügen. Für Ochsner kennzeichnet „das System der ironischen Dekonstruktion des Genres im Genrefilm selbst […] das Rohmer’sche Kino im Allgemeinen und im Besonderen dasjenige der Moralischen Erzählungen“. Verstehe man Rohmers grundsätzliche Auffassung, das Kino als Mittel zur Repräsentation des Lebens zu begreifen, nicht nur unter rein mimetischen Vorgaben, sondern unter dem ebenfalls von ihm betonten kreativen Aspekt, so stehe die dekonstruktive Ebene dazu in keinerlei Widerspruch. Vielmehr erschienen die „Moralischen Erzählungen“ dann als Ergebnisse einer kalkulierten Kombination verschiedener Ingredienzien, aus deren stochastischer Verteilung die Geschichten als Zufallsexperimente entstünden.

Die Romanistin Kristin Mlynek untersucht in ihrem Beitrag die „Geometrie der Begegnungen“ in Rohmers Filmen. Die Begegnungen der Hauptfiguren beispielsweise in „Liebe am Nachmittag“ (1972) und „Die Frau des Fliegers“ (1981) öffnen ihrer Meinung nach Zwischenräume der Interaktion zwischen Mensch und Umwelt. Sie vollzögen sich an den vielfältigen Kreuzungen mit den (Lebens-)Wegen anderer Menschen und konfrontierten die Protagonisten oftmals mit der Fremdheit ihrer eigenen Lebenswege. Im Aufeinandertreffen und Aneinandervorbeigleiten, im Sich-Annähern und Sich-wieder-Entfernen eröffneten die Begegnungen „Intervalle und Abstände“, Intersektionspunkte und Leerstellen, an denen Wissen und Lebenskonzepte neu ausgehandelt würden und miteinander resonierten. Der Zwischenraum stelle damit gleichsam einen Raum der Kreation und der Verwicklungen dar, so Mlynek abschließend.

Dem palimpsestartigen Spiel der Überlagerungen und Verwandlungen der Filmbilder, denen die Täuschungslust eingeschrieben sei, geht Wolfgang Bongers, zur Zeit Professor für Literatur und Kino an der Universidad Católica de Chile, anhand von „Die Sammlerin“ (1967), „Claires Knie“ (1970) und „Liebe am Nachmittag“ (1972) nach. Literatur, Theater, Malerei und Musik stellten dabei Referenzsysteme dar, ohne die viele Filme der Nouvelle Vague überhaupt nicht zu denken seien – auch nicht die Rohmers. Daraus folgt für den Autor: „Kommunikation und Wahrnehmung bilden konsequenterweise den konzeptuellen Rahmen für Rohmers ,figures du désir‘ (,Figuren des Begehrens‘), um die alle seine Filme kreisen. Beide Basisoperationen menschlichen Denkens, Handelns und Wissens werden gerade mit Bezug auf institutionalisierte, bürgerliche Strukturen und literarische Traditionen – Sprichwörter, Komödien, literarischer Kanon – in den Filmen ständig problematisiert und subvertiert.“ Für Bongers schlägt der Rohmer’sche Hyperrealismus dabei oft um in „magischen Minimalismus“, eines „mentalen Kinos, das aus ,imaginären Ecken‘ Unsichtbares, Ungezeichnetes, Unerhörtes auf kaum spektakuläre, doch verstörende Weise und auf einer breit angelegten intermedialen Folie in kinematografische Metamorphosen überführt“.

In der Tradition seiner früheren Literaturverfilmungen „Marquise von O…“ (1975) nach Heinrich von Kleist und „Perceval de Gallois“ (1978) nach Chrétien de Troyes steht Rohmers filmische Umsetzung „Die Lady und der Herzog“ (2001), die der Untersuchungsgegenstand des Aufsatzes von Volker Roloff ist. Für den Romanisten entwirft der Regisseur durchaus im Anschluss an die literarische Vorlage von Grace Elliott „ein filmisches Szenario, in dem, so scheint es zumindest, Werte wie Treue, Tugend, Pflichtgefühl, Ehre und Nächstenliebe eine dominante Rolle spielen“. Doch hinter dieser Fassade einer allem Anschein nach platonischen Beziehung zwischen der Engländerin und dem Herzog von Orléans gehe es um Geheimnisse der Liebe, um die Ambiguität von Liebe und Hass, Begehren und Eifersucht und nicht zuletzt um den Zusammenhang von Sexualität, Terror und Gewalt, die der Film vor allem mit Blick auf die Ereignisse der Französischen Revolution aufzeige. Freilich zeichne sich Rohmer dadurch selber als Moralist aus, „dass er, wie die Moralisten des 17. und 18. Jahrhunderts, die Verhaltensweisen und damit die Strategien und Rollenspiele seiner Figuren möglichst genau beobachtet und analysiert, dabei aber auf moralische Urteile verzichtet“.

Dass alle Lust am Spiel der Liebe und der Lüge bei Eric Rohmer letztlich der Denkfigur des ennui, der Langeweile, als Vorbedingung und Verzögerung spielerischer Kreativität bzw. amouröser Verwirklichung entstammt, das erläutert die Romanistin Kerstin Küchler im letzten Beitrag des Heftes. Die Protagonistinnen wie in „Pauline am Strand“ (1983) und „Das grüne Leuchten“ (1986) kämen dabei aber im Grunde nie über die Schwelle potentieller Erwartung hinaus, so die Autorin. Das könne man als ihr Glück bezeichnen, denn nicht umsonst nährten sie ihren état d’ennui beständig durch müßiggängerische Ablenkungen. „Von Zerstreuungshandlungen könnte man sprechen, die allerdings nicht von der Langeweile ablenken, vielmehr produzieren und erhalten sie einen utopischen Raum, der […] zum existentiellen Handlungsraum der Protagonisten wird.“ Objektiv gesehen täten die Helden Rohmers also nichts, und dieses „Nichts in Aktion“ manifestiere sich in einem zumeist diskursiv bewältigten Status des Wartens.

Der von Uta Felten herausgegebene Sammelband versammelt, wie anhand der kurz zusammengefassten Inhalte angedeutet, eine Vielzahl neuer Erkenntnisse über das Werk des im vergangenen Januar verstorbenen französischen Regisseurs. Den Beiträgen gelingt es die Vielschichtigkeit des Rohmer’schen Kinos in seinen Strukturen, seine nur scheinbare Transparenz, mit anderen Worten, seine opake, das heißt „undurchsichtige Anlage und Polyvalenz“, aber auch seine Affinität zu Literatur und Theater, Malerei und Musik aufzuzeigen. Schließlich lädt die Lektüre des Heftes, das von einer kurzen Biografie Rohmers sowie einer Liste mit seinen Kino-, Fernseh- und Kurzfilmen abgerundet wird, den Rezipienten dazu ein, Rohmers „archäologisches Kino“ nochmals selbst zu erkunden und dabei die neuen Erkenntnisse mit einzubeziehen.

Titelbild

Fabienne Liptay / Thomas Koebner (Hg.): Eric Rohmer. Filmkunst zwischen Liebe und Lüge.
edition text & kritik, München 2010.
117 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783869160528

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